Ein junger Mann sitzt in einem Laden in Leipzigs Innenstadt. Im Kampf gegen die Langeweile reiht er Geschichte an Geschichte. Es sind Erzählungen aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, einer Welt, die sich nur noch in ihren Einzelteilen beschreiben lässt. In seinem Roman »Herrn Lublins Laden« zeichnet der hebräische Schriftsteller S. J. Agnon (1888–1970) das facettenreiche Porträt einer Gesellschaft im Umbruch.
Der Roman ist so kleinteilig und unaufgeräumt wie ein Kramladen, und konsequenterweise lässt sich aus all den disparaten Elementen keine zusammenhängende Handlung konstruieren. Einziges Verbindungsglied ist der Erzähler, der sein Versprechen, alles zu berichten – »das Wichtige wie das Unwichtige« –, hält: Tragische Lebensschicksale stehen neben heiteren Anekdoten, Auslegungen der Thora neben fröhlich überzogenen Attacken gegen die Moden der Zeit. Im Widerspruch zu diesem modernen Erzählverfahren beklagt der Roman auf inhaltlicher Ebene den Untergang der Tradition. Die architektonischen Veränderungen spiegeln die gesellschaftlichen wider: »Leipzigs Schönheit schwand dahin, nichts erinnerte mehr an jene Häuser, die die Eigenart der Stadt ausgemacht hatten.« Nur eine Handvoll Handelshäuser im Böttchergäßchen trotzen der Gründerzeit.
Als jüdischer Einwanderer, der als Kind vor Armut und Gewalt allein aus Galizien floh und sich in Leipzig aus dem Nichts eine Existenz aufbaute, teilt Lublin sein Schicksal mit vielen Figuren des Buches. Die lebendige jüdische Kultur beschreibt Agnon einmal sozial-, einmal surrealistisch – und man bekommt eine Ahnung davon, wie präsent sie vor hundert Jahren im Stadtbild war: »Auch dies gehört zu Leipzig: Überall treffe ich Juden, die ihr Judentum nicht unter den Gewändern anderer Völker verbergen.«
Auch dass Agnon 1966 der Literaturnobelpreis verliehen wurde, hat sein Werk in Deutschland nicht vor dem Vergessen bewahrt. Agnon, der aus Galizien stammte, früh nach Israel übersiedelte und ab 1913 für einige Jahre in Deutschland lebte, arbeitete in seinem letzten Lebensjahrzehnt an dem halbautobiografischen Erinnerungsbuch, das 1974 posthum erschien – auch vor dem Hintergrund einer angestrebten Aussöhnung mit den Deutschen: Vielfach werden im Roman, jenseits von Assimilierung und Ausgrenzung, die engen Verflechtungen zwischen Juden und Gojim beschrieben. Als Roman über die Zerwürfnisse und Schrecken der Moderne ist »Herrn Lublins Laden« heute unbedingt eine Wiederentdeckung zu wünschen. Clara Ehrenwerth