Christian Meyer
Flecken. Berlin und Dresden: Voland & Quist 2022. 292 S., 24 €
Christian Meyer.
Der erwachsene, kontrollierte, scheinbar unterkühlte Erik taucht gleich am Anfang des Romans in Flecken auf. Und zwar in doppelter Hinsicht, denn »Flecken« ist sowohl der Titel von Christian Meyers literarischem Debüt als auch die Bezeichnung für einen kleinen, aber lokal bedeutenden Provinzort. Der Grund für Eriks Besuch in seiner alten Heimat ist ein trauriger: der Tod seiner ehemals besten Freundin Neele. Doch bei ihrer Beerdigung fühlt er nichts. Den jugendlichen Erik lernen wir gemeinsam mit Neele im nächsten Kapitel kennen. Seit der Kindheit unzertrennlich, teilen die beiden ihr Leben. Neele fände es nur logisch, wenn sie auch zusammen wären, doch Erik verspürt kein körperliches Verlangen – zu niemandem. Sein übersexualisiertes Umfeld nimmt er mit Verwunderung wahr, genau wie Neeles scheinbare Sucht nach dem Gefühl, begehrt zu werden. Nach Verletzungen versucht er sie stets aufzufangen. Bis er den Flecken verlässt. Und sie bleibt. Durch den kontinuierlichen Sprung zwischen Gegenwart und Vergangenheit von Kapitel zu Kapitel kommt man dem Protagonisten und dem Bruch zwischen den beiden näher. Überhaupt lebt der Roman von diesem Aufbau. Der scheinbar langweilige Provinzort gewinnt mit den sozialen Verflechtungen seiner
Bewohnerinnen und Bewohner zunehmend an Tiefe. Je länger Erik im Flecken bleibt, desto weiter schlittert er aus seiner Komfortzone. Am Ende erhält er Antworten auf Fragen, die er nie zu stellen gewagt hat. Christian Meyer hat einen vielschichtigen ersten Roman geschrieben, der gesellschaftliche Bilder von Männlichkeit, platonische Liebe und die Bedeutung der eigenen Wahrheit verhandelt. Durch die zeitlichen Sprünge lässt er den Charakteren Raum zur Entwicklung und sorgt immer wieder für Überraschungsmomente. Sarah Nägele