Karl May ist in Verruf geraten. Seine Helden Winnetou und Old Shatterhand verkörpern
alles, wovon sich viele zeitgenössische Schriftstellerinnen und Schriftsteller lieber überdeutlich distanzieren: Rassismus, Schwindelei, kulturelle Aneignung (siehe Federschmuck und Kriegsbemalung). Schlimmer ist höchstens noch der Vater von Pippi Langstrumpf. Die Autoren Enis Maci und Mazlum Nergiz wuchsen nach eigenen Angaben ohne Mays Wildwest-Geschichten auf. Und wagen deshalb – quasi völlig unvoreingenommen – eine Annäherung an den sächsischen Autor und sein kulturelles
Erbe: Angefangen habe alles »mit dem Winnetou-Remake von RTL 2016«, sagte Maci in einem Interview. Das Ergebnis ist ein wilder Ritt durch Zeit und Raum, vorbei an Bad Segeberg (wo jährlich die Karl-May-Spiele stattfinden), an dem »verwirrenden Weinbauwohlstand Radebeuls« (Karl Mays langjährigem Wohnsitz bei Dresden, wo es heute ein Museum und ein Fest zu seinen Ehren gibt), an der Karibik (wo er behauptete, eine Kaffeeplantage zu besitzen) – und natürlich an Nazi-Deutschland (obwohl Mays Erzählungen für Hitler nur wenig propagandistischen Wert hatten).
Über einige Ecken stellen Maci und Nergiz Bezüge zwischen den Schauplätzen von Mays Erzählungen und den Jahrzehnten her, die seiner schriftstellerischen Tätigkeit folgen sollten – dem »wilden Kurdistan« und dem Völkermord an den Armeniern 1915 etwa, an dem sich auch kurdische Stämme beteiligten, weil ihnen im Gegenzug ein eigener Staat versprochen wurde. Der Text spielt darüber hinaus in Räumen, die außerhalb von Mays üblichem Referenzrahmen liegen, im Internet zum Beispiel. Denn das Phänomen Karl May lebt weiter: in Neuverfilmungen mit Wotan Wilke Möhring und Kindern, die sich zu Karneval als Indigene verkleiden.
Die vielen Einzelteile setzt der Essay zu einer fragmentarischen Landkarte zusammen. Dazwischen befinden sich immer wieder QR-Codes, hinter denen sich ein zugehöriges Spotify-Album von Maximilian Weber verbirgt. (...) Lucia Baumann