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Jean d’Amérique

Jean d’Amérique

Zerrissene Sonne. Aus dem Französischen von Rike Bolte. Trier: Litradukt 2024. 114 S., 13 €

Jean d’Amérique.

Tête Fêlée ist ein zwölfjähriges Mädchen, das in der Cité de Dieu, einer »Drecksgegend« am Rand von Port-au-Prince, zu überleben versucht. Als Protagonistin und Erzählinstanz gleichermaßen vermittelt sie einen Eindruck von den korrupten und elenden Verhältnissen Haitis. Armut, Gewalt, Missbrauch und Tod gehören zu ihrem Alltag. Hinzu kommt die Erfahrung der ersten großen Liebe. Zuletzt erfüllt sich die tragische Prophezeiung ihres Stiefvaters: »Du wirst allein sein in der großen Nacht.« Ein auf dem Buchrücken platziertes Zitat preist dieses Romandebüt von Jean d’Amérique als »shakespearehaft« an. Tatsächlich erinnern zum Beispiel die ironisch-typenhaften Nebenfiguren und die streng monokausale Konstruktion des Plots an den großen Dramatiker. Letztlich erzeugt die Mischung aus politischer Satire, einer verhängnisvollen Liebesgeschichte und vielerlei fantastisch-mythischen Elementen eine beeindruckende Energie. Nicht immer wirkt alles stimmig, so auch die poetisch verdichtete Sprache in den Gefühlspassagen. Manche lyrischen Einfälle sind genial, viele wirken allerdings rhetorisch hoffnungslos überfrachtet. Sprachbilder überlagern sich, milieuhafte Wendungen und pathetische Überformungen kommen sich in die Quere. Wie viel die Übersetzung von Rike Bolte da geglättet hat, kann die Rezensentin leider nicht beurteilen. Insgesamt vermittelt sich der Eindruck, wir würden Tête Fêlée (die Spinnerin) bei der Verarbeitung ihrer – teils beinhart geschilderten – traumatischen Erfahrungen begleiten. Das führt zu Problemen der Perspektive und der Glaubwürdigkeit. An Leidenschaft mangelt es diesem Buch also nicht gerade. Die Fülle und Durchmischung der literarischen Mittel sind überwältigend – und streitbar. Juliane Zöllner


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