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Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung

Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung

Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung. 532 S.

So gut wie alles an der »Völkerwanderung« ist dunkel oder rätselhaft. Das fängt bei der Bezeichnung selbst an: Waren die Goten, Vandalen, Burgunder und all die anderen (meist) germanischen Gruppen, die am Ende des 4.  Jahrhunderts nach Christus die Grenzen des Römischen Reiches überschritten, tatsächlich »Völker« oder, wie die Historiker heute eher annehmen, Kriegerverbände mit einem Tross im Schlepptau, zu dem auch Frauen und Kinder gehörten? Jedenfalls waren diese Gruppen alles andere als ethnisch homogen. Schon gar nicht gab es so etwas wie eine »germanische« Identität; selbst zwischen »Römern« und »Barbaren« lässt sich bei genauerer Betrachtung der Quellen nicht ohne Weiteres unterscheiden. Schier endlos ließen sich all die Fragen, Probleme und konkurrierenden Forschungsansätze referieren, die der Tübinger Althistoriker Mischa Meier in seiner »Geschichte der Völkerwanderung« schildert, einem Buch, das mit Fug und Recht und in jeder Hinsicht als Opus Magnum bezeichnet werden darf. Allein der Mut, eine solche Darstellung in Angriff zu nehmen, nötigt dem Leser, ob nun vom Fach oder wissenschaftlicher Laie, Respekt ab. Wer sich daranmacht, eine Geschichte der Völkerwanderung zu schreiben, sieht sich mit einem Dilemma konfrontiert, das Meier klar benennt: »Wer sich auf die Komplexität des Gegenstandes einlassen möchte, erkauft dies mit dem Verlust der großen Erzählung.« Meier kann nicht mehr, wie weiland Leopold Ranke, erzählen, »wie es eigentlich gewesen ist«. Er muss die Quellen kritisch unter die Lupe nehmen, dem Leser nachvollziehbar unterschiedliche, nicht selten sich einander radikal widersprechende Forschungsmeinungen und Theorien vorstellen und sich selbst dazu positionieren. Gleichzeitig gilt es, eine äußerst verwickelte Geschichte zu erzählen, die gleichzeitig an vielen Orten, in Britannien, Gallien, Nordafrika, dem Kaukasus, in Persien, ja bis hin nach China, spielt, mit unzähligen Protagonisten, die uns oft genug nur schattenhaft entgegentreten, weil wir so gut wie nichts über sie wissen. Manches – die Intrigen am weströmischen Kaiserhof, die theologischen Spitzfindigkeiten, die sich auf die oströmische Innenpolitik auswirkten, oder die nicht enden wollenden Kriege des Imperiums gegen das persische Sassanidenreich – ist verwirrend bis zum Überdruss. Doch Meier ist entschlossen, »den Hoheitsanspruch über die Darstellung nicht aufzugeben«. Und wider alle Wahrscheinlichkeit gelingt ihm das! Zum einen durch eine sehr geschickt organisierte Gliederung, zum anderen durch ein bemerkenswertes Erzähltalent. Der Preis dafür ist ein enormer Umfang der Darstellung. Aber es ist ein Preis, den wir Leser gern bezahlen. Denn wann, um mit Thomas Mann zu sprechen, »wäre je die Kurz- oder Langweiligkeit einer Geschichte abhängig gewesen von dem Raum und der Zeit, die sie in Anspruch nahm«? Gleichwohl verlangt ein solches Buch dem Leser natürlich einiges ab. Aber Meier schafft es immer wieder, uns bei der Stange zu halten. Mit seiner »Geschichte der Völkerwanderung« ist ihm etwas Erstaunliches gelungen: Ein wissenschaftliches Standardwerk, das sicherlich für viele Jahre Gültigkeit beanspruchen kann, und zugleich ein literarischer Wurf, der eine der dunkelsten und kompliziertesten Epochen als großes Leseabenteuer präsentiert. Zu einem taugt Meiers Darstellung indes nicht: Die antike Völkerwanderung lässt sich nicht mit der aktuellen »Flüchtlingskrise« vergleichen. Derartige Analogien führten, wie Meier unmissverständlich schreibt, nur dazu, »Geschichtswissenschaft zur Legitimationskrücke für Argumente aus den politischen Rändern zu degradieren«. Das mindert aber nicht den ungeheuren Erkenntnisgewinn, den uns diese große, grundgelehrte, oft mitreißende Erzählung schenkt. Olaf Schmidt


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