Thomas Lehr
Kafkas Schere. Zehn Etüden. Göttingen: Wallstein 2024. 79 S., 18 €
Thomas Lehr.
Franz Kafka ist ein gefährlicher Einfluss, und ein verlockender. Gerade seine kurzen Texte laden ein zum Imitat. Sie bewegen sich zwischen Parabel, Bericht, Albtraum und Groteske und sind meist ziemlich komisch. Oft kommen sie einfach daher, graben sich dann aber plötzlich – manchmal in einem einzigen Halbsatz – in ungeahnte Tiefen. Und eben da liegt das Problem: Sound und Setting lassen sich nachahmen, bei der Tiefe wird’s schwierig.
Thomas Lehr, Jahrgang 1957, hat sich einen Namen gemacht mit anspruchsvollen, dickbauchigen Romanen. Nun erprobt er in »Kafkas Schere« die kleine Form. Gedacht ist das (im Kafka-Jahr) als Variation und Hommage, als Ergänzung des großen Vorbilds. Da Lehr sich in Kafkas Werk auskennt und gekonnt mit dessen Motiven spielt, ist das Resultat solide. Gleichzeitig erschöpfen sich die Miniaturen leicht in ihren Anspielungen.
Das beginnt schon im ersten Text des Bandes. Darin sprechen Kopflose, sie werden von Hunden
durch eine Art Hölle gejagt. Einmal heißt es: »Wer schickte die Hunde? Die Frage bohrte in uns wie ein Messer in den Rippen.« Die Hinrichtungsszene aus Kafkas »Der Process« klingt an, und doch: Isoliert betrachtet ist das Bild von der bohrenden Frage abgedroschen. Kafka wäre das nicht passiert.
Das Wiedererkennen beim Lesen macht Spaß: Ach stimmt, bei Kafka gibt es auch so eine Stelle. Lehrs Stil ist anders als das nüchterne, beinahe verarmte Pragerdeutsch Kafkas. Trotzdem findet er auch eindrückliche Bilder. In einem besonders gelungenen Text kriechen Künstler eidechsengleich eine gewaltige Wand hinauf und stürzen vor den Augen ihrer Zuschauer in die Tiefe und ins Vergessen. Könnte das von Kafka sein? Vielleicht. Maurus Jacobs