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Serhij Zhadan

Serhij Zhadan

Chronik des eigenen Atems. 50 und 1 Gedicht. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Berlin: Suhrkamp 2024. 124 S., 20 €

Serhij Zhadan.

Es ist nicht so, dass der Tod stumm wäre. Er beherrscht zum Beispiel das Russische in allen Registern, scherzt und poltert, zitiert Klassiker und Ganoven, kennt die ausgesuchteste Höflichkeitsformel, aber auch ein dreckiges Wörtchen, wenn es ihm angebracht scheint. Höchst flexibel und schnell wie eine Künstliche Intelligenz. Und doch hat er keine Sprache. Er äfft sie allenfalls nach. Ihm geht es wie einem jungen, von sich selbst hingerissenen Anfänger der Dichtung: Jede Silbe bedeutungsschwer wie ein Fallbeil, jeder Einfall von einer Weite und Leere wie der interstellare Raum. In Serhij Zhadans neuem, in der Ukraine 2023 erschienenem Gedichtband ist Sprache etwas, das sich zwischen Menschen ereignet, die sich einander »an der Stimme erkennen«, sei es in der Fremde des Exils, sei es im heimischen, bis zur Unkenntlichkeit zerbombten, vom Feind infiltrierten »Grenzland«. Sprache ist hier »die Freude, den Gleichgesinnten an einer winzigen Regung des Gesichts zu erkennen«, ist Selbstbeschwörung und Takt, ist Aufmerksamkeit für die zarten Lebenszeichen und Lettern im Schnee, ist Anteilnahme an der eigenen Stummheit: »Möge ich genug Geduld aufbringen, dein Schweigen anzuhören.« Diese Sprache braucht »den Mut zu benennen / und laut auszusprechen «, den Mut zu erinnern, zu bezeugen, zu widersprechen, aber: »Die Sprache braucht jene, / die leise sprechen / und überzeugend schweigen.« Zhadans Gedichte bewegen sich leise wie Meldegänger an der Grenze eines dröhnenden Schweigens, einer von Panzern überrollten, von Raketen und Drohnen überflogenen Grenze. Als vier Monate dauernde Zäsur klafft diese zwischen den beiden Teilen dieser »Chronik des eigenen Atems«, die in und um Charkiw entstandene Gedichte aus der Zeit vor dem 24. Februar 2022 und von danach versammelt. In ihrem Ringen um Sprache, um Sinn und um Menschlichkeit im Moment größter Gefahr erinnern sie an Davids Psalmen. Max Zschorna


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