Anselm Neft: Die bessere Geschichte. 480 S.
Dieser Roman ist keine einfache Internatserzählung: Tilman Weber – belesen, begabt und mutterlos – ist der Erzähler und zu großen Teilen des Buches ein 13-jähriger Schüler einer Freien Schule im an der Ostsee gelegenen Fantasieort Schwanhagen (FSS). In dieser Rolle lässt er von Seite eins an die Externalisierungs- und Psychologisierungsmaschine laufen und bald ist klar, weshalb der Kölner Junge so viel Zeit in diese investiert. Denn Tilman erfährt an der FSS sonderbare Aufnahmerituale, Mutproben und letztlich sexuellen Missbrauch. Als er die Schule verlässt, ist er zugleich Opfer, Täter und Zeuge. Seine ehemaligen Mitschüler wollen ihn 27 Jahre nach den gemeinsamen Erlebnissen dazu bewegen, diese Erfahrungen aufzuarbeiten. Das Buch ist dabei Ziel und Ergebnis dieser Introspektion. Mehr noch ist der Roman aber eine Verneigung vor Vladimir Nabokovs »Lolita«, geschrieben aus der Perspektive eines unzuverlässigen Parthenophilen, nur ohne dessen sprachlichen Zauber. Tilman weiß, woher er seine erzählerische Kraft nimmt, identifiziert sich doch der später 40-jährige Autor selbst mit Humbert Humbert. Außerdem transponiert er wesentliche Elemente des American Gothic auf deutsches Terrain: ein entlegenes Schullandheim im »wilden Osten«, die Antagonisten heißen Wieland und die psychologische Aufwertung des Schaurigen kommt direkt von ihrem Urheber: Edgar Allan Poe. Dieser Mix fasziniert auf morbide Art und Weise genauso sehr, wie er stellenweise nervt. Insbesondere wenn die ehemalige DDR in Stereotypen untergeht. Das Buch ist bevölkert von nach Leberwurst riechenden und schlecht angezogenen »Ossis«, passiven Opfern wie Luis und Neonazis. Aber es ist ebenso eine intelligente Diskussion um Opferfallen, Schuldzuweisung und Sinnsuche in vergangenen Wunden.