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Bildungslücke, Folge 26 – Sarah und Rainer Kirsch: Gespräch mit dem Saurier (1965)

Bildungslücke, Folge 26 – Sarah und Rainer Kirsch: Gespräch mit dem Saurier (1965)

Neues Leben

Bildungslücke, Folge 26 – Sarah und Rainer Kirsch: Gespräch mit dem Saurier (1965). Neues Leben 1965. 112 S.

Ginge es nach der Buchgestaltung, könnte man den Gedichtband von Sarah und Rainer Kirsch auf den ersten Blick für ein Kinderbuch halten. Das Cover und die Farbtafeln von Ronald Paris sind bunt und verspielt, und auch die ersten Gedichte im Band: gereimte Beziehungsgedichte, eher naiv anmutend, aber mit doppeltem Boden, wie die Tierfabel vom Tausendfüßler, der konstatiert: »Es geht sich halt schwer / auf zwei Beinen.« Leichter hats die Schnecke mit Schleimen. Die Gedichte entstanden Anfang der sechziger Jahre, in jenem kurzen Sommer der DDR, in dem Kosmonauten ebenso Aufbruchstimmung verbreiteten wie eine Jugend, die den Krieg nicht bewusst erlebt hatte und sich auf dem Weg in eine veränderte Landschaft fühlte: »Dort in Labors unter Neonstäben / entschlüsseln Mädchen verästelte Formeln.« Das »Gespräch mit dem Saurier« schrieben die Kirschs zu weiten Teilen am Institut für Literatur in Leipzig, wo sie studierten und die Lyrik-Kurse von Georg Maurer besuchten. Der Saurier steht dabei als Allegorie für den niedergeschlagenen Kapitalismus: »Er fraß die Sonne aus ihrer Bahn. / In der Eiszeit / da war es soweit / vorbei alle Freud / da starb er aus. / Lerne daraus!«, schreibt Sarah Kirsch mit augenzwinkerndem Ernst. Und Haltung findet sich auch in der zweiten Hälfte des Bandes, die Rainer Kirschs Texte einnehmen. Sein an Brecht orientierter Ton ist ernsthafter, aber nicht weniger mahnend und optimistisch. Aktuell noch immer die Frage an das eigene Ich, 40 Jahre in der Zukunft: »Hatten wir den Mut, genau zu lieben / Und den Spiegeln ins Gesicht zu sehn?« Und berühmt auch seine Verse an die alten Genossen: »Aber Glück ist schwer in diesem Land. / Anders lieben müssen wir als gestern / Und mit schärferem Verstand. // Und die Träume ganz beim Namen nennen; / Und die ganze Last der Wahrheit kennen.« Dieser Band steht wie manch andere, die bis Mitte der sechziger Jahre in der DDR erschienen, exemplarisch für den Aufbruch einer jungen Generation, die, überzeugt vom Sozialismus, beim Aufbau ihrer Republik mitentscheiden wollte. Ihren Optimismus spürt man noch beim Frühstücks-Brötchen: »Im Mund den Geschmack noch des Brötchens, / Stürz ich mich laut in den Tag, voll von den Kräften der Welt.« Denn auch Saurier macht der Klimawandel halt nur trauriger. Maja-Maria Becker


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