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Bildungslücke: Folge 30 – Ulrich Berkes: Eine schlimme Liebe (1987)

Bildungslücke: Folge 30 – Ulrich Berkes: Eine schlimme Liebe (1987)

Bildungslücke: Folge 30 – Ulrich Berkes: Eine schlimme Liebe (1987). 300 S.

Das Schöne am Lesen von Tagebüchern ist die Erkenntnis, dass früher nicht alles besser war. Zum Beispiel hatte der D-Zug von Berlin nach Leipzig am 14. Februar 1984 »bloß« eine halbe Stunde Verspätung, immerhin, manchmal ist es auch nur ein »Stehzug«. Aber natürlich erinnert das Tagebuch des Lyrikers Ulrich Berkes vor allem daran, dass Homosexualität in der DDR bis weit in die achtziger Jahre stigmatisiert und unsichtbar war. Denn tatsächlich war dieses Buch, das im Jahr 1987 erschien, der erste in der DDR veröffentlichte Text über Homosexualität, was eigentlich nur bedeutet, dass Ulrich mit Martin zusammenwohnt und ab und an Ronald Schernikau vorbeischaut. So unspektakulär, so normal. Im Oktober ist in ihrer Berliner Wohnung die Gasheizung kaputt, dann der Farbfernseher, dann eitert ein Weisheitszahn, der Wald stirbt und Naturwissenschaftler warnen vor der Militarisierung des Weltraums. Alle zwei Wochen fährt der Autor zum Zirkel Schreibender Arbeiter nach Leipzig, um dort den Zweck des Schreibens zu vermitteln: »Aus sich selbst herauszukommen.« Dem Tagebuch gelingt dies aber nur bedingt, es ist halt ein Versuch, »die vorüberhetzende Zeit wenigstens etwas zu fixieren«. Etwas theoretisch auch die vielen Einträge über Leben und Werk von Isidore Ducasse, auch bekannt als Lautréamont, mit dem sich Ulrich Berkes sehr intensiv befasst. Es scheint, als solle das eigene Leben der Konformität mit den rebellischen homoerotischen Sehnsüchten des französischen Poète maudit bereichert werden. »Mich interessiert, was andere für Erfahrungen haben«, schreibt Berkes, der sich daran stört, dass in Gesprächen mit Freunden der Austausch nur theoretisch bleibt; aber es zeigt auch, wie schwierig es 1984 war, Informationen über Themen wie Masturbation, AIDS oder Transsexualität zu bekommen, die Berkes ebenfalls gewissenhaft im Tagebuch notiert. So ist »Eine schlimme Liebe« aus heutiger Sicht dort am interessantesten, wo es teilhaben lässt an sehr alltäglichen Beobachtungen, Begegnungen und Fakten. So kommentiert Berkes das versteckte Stoffetikett im Innern der schwarzen Levi’s aus San Francisco für 195 Mark, auf dem zu lesen steht: »Made in Yugoslavia«, mit den Worten: »Und farbecht ist sie auch nicht.« Maja-Maria Becker


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