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Bildungslücke: Folge 33 – Thomas Böhme: Die Einübung der Innenspur (1990)

Bildungslücke: Folge 33 – Thomas Böhme: Die Einübung der Innenspur (1990)

Bildungslücke: Folge 33 – Thomas Böhme: Die Einübung der Innenspur (1990). 200 S.

Spätestens die Debatten der letzten Monate dürften gezeigt haben, dass im Taumeljahr 1990 so einiges überrollt und übersehen wurde, das erst jetzt langsam wieder seinen Weg an die Oberfläche findet. In der Bildungslücke wollen wir deswegen das Jubiläumsjahr mit einem Buch beginnen, das bei seinem Erscheinen einigermaßen in der Wiedervereinigungsaufregung unterging: »Die Einübung der Innenspur«, der erste Roman des 1955 geborenen Bis-dahin-nur-Lyrikers Thomas Böhme – oder vielmehr eine »Roman Imitation«, wie die Genrebezeichnung so bescheiden wie knallig lautet. Und tatsächlich ist das Buch ein aus Erzählsplittern, Einzelteilen und Metaebenen zusammengesetztes Kunstwerk, das vieles will – bloß kein großes Ganzes, kein eindeutiges Bild ergeben. Im Mittelpunkt der Betrachtung steht Felix Wurz, alles andere als eine Heldenfigur aus dem sozialistischen Realismus. In den Kristallen, die er als Chemiker beruflich züchtet, spiegelt sich die Konstruktion des Buches wider: »veränderte Perspektiven, die verschobenen Winkel«. Über den Beobachtungszeitraum von einem Jahr wird Felix von verschiedenen Seiten betrachtet: in Gesprächsprotokollen und Figuren-Notaten. Der Autor schaltet sich auch ab und an dazwischen: »Wollen Sie dieses Buch bis zum Ende lesen?«, wird die Leserin schon nach wenigen Seiten gefragt. Will sie, unbedingt sogar, und folgt weiter den Innenein- und ansichten von Felix, der allerhand Fantasien nachhängt – neben den Gedankenreisen zu kindlichen römischen Kaisern oder in schwüle Fin-de-Siècle-Welten auch einige, die er aus »Respekt vor juristischem Mindestalter« niemals realisieren will. Und so spielt sich das meiste im Inneren ab, hinter zugezogenen Rollos oder beim »Streunen, Umherstreifen, Läufigsein« in den Leipziger Parks und den historischen Vierteln, die immer öfter als Filmkulisse dienen: »Für seinen Geschmack fehlten nur die Indianer. Aber dafür gab diese Stadt wirklich keinen Hintergrund ab.« Während die anderen Ansichtskarten aus fremden Ländern schicken, gießt Felix die Blumen. Energie, Affekte, Appetit ziehen sich nach und nach auf den Nullpunkt zurück: »Er fühlte sich inwendig wie verklebt«, und irgendwann reicht der Antrieb auch nicht mehr, um zur Arbeit zu gehen. Löst sich völlig auf in diesem »jahr mit dem namen Ich.« Und so bleibt am Ende innen und außen wenig mehr übrig als die Frage: Kann es einen Neustart geben? Clara Ehrenwerth


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