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Bildungslücke, Folge 5 – Erich Loest: Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene (1977)

Bildungslücke, Folge 5 – Erich Loest: Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene (1977)

Bildungslücke, Folge 5 – Erich Loest: Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene (1977). 294 S.

Es beginnt und endet mit Hemus: Ganz am Anfang und ganz am Ende und auch ziemlich oft dazwischen wird der süßliche Wein aus Bulgarien serviert, in verschiedenen, aber nahezu identisch eingerichteten Wohnungen im Leipzig der siebziger Jahre. Die Uniformität, die Austauschbarkeit hinter den immergleichen Schrankwänden mit den immergleichen Radios und der immergleichen Getränkeauswahl, erfüllt den Protagonisten mit leiser Melancholie. Wolfgang Wülff, Mitte 20, wohnt mit Frau und Tochter in einer der begehrten Neubauwohnungen im »Oktoberbeton« und arbeitet als Ingenieur in einer Verzinkerei. Rundum zufrieden ist Wolf mit seinem Platz in der Welt – ganz im Gegensatz zu seiner Frau, nach deren Meinung jeder die Pflicht hat, das möglich Beste aus sich zu machen. Dass er sich nicht zum Diplom-Fernstudium drängen lässt, wird ihm von Jutta als Faulheit und Versagen ausgelegt – doch in Wirklichkeit steht hinter der Entscheidung eine bewusste Karriereverweigerung. Eine kleine Narbe auf dem Hintern erinnert ihn daran, was es bedeutet, Macht über andere auszuüben: Wolf will kein Chef werden wie der Polizeioffizier, der 1965 das Kommando dazu gab, die Hunde loszulassen, als der 16-jährige Beatles-Fan mehr aus Neugier als aus politischer Überzeugung auf dem Leuschnerplatz stand, um gegen das staatliche Beatbandverbot zu demonstrieren. Es ist diese offene Kritik an der Staatsmacht und die Darstellung einer sich dem Fortschritt verweigernden, genügsamen Figur, die es heute wie ein kleines Wunder erscheinen lässt, dass Erich Loests Roman »Es geht seinen Gang« nach zähen Verhandlungen mit Lektoren und Funktionären überhaupt veröffentlicht wurde. Die 12.000 Exemplare der Startauflage waren binnen kürzester Zeit vergriffen. Bevor die zweite Auflage erscheinen konnte, ging der Machtkampf, den Loest später in »Der vierte Zensor« minutiös nachgezeichnet hat, in die zweite Runde. Dass die Lektüre auch heute noch lohnend ist, liegt nicht nur an der frischen, schnoddrigen Sprache, mit der Loest seinen Ich-Erzähler berichten lässt, und der lässig dahinplätschernden Dramaturgie, die sich selbst einer Effizienz verweigert, in der jede Szene auf das große Ganze Bezug nehmen muss. Sieht man von der absolut widerlichen, aber leidlich zeittypischen Masche ab, alle auftretenden Frauen augenblicklich nach ihrer Fuckability zu bewerten, ist Wolf ein komplexer, widerspenstiger Charakter, der Fragen stellt, die auch für die heutige Leserschaft im Nachfolge-System noch relevant sind. Was geschieht, wenn man sich den Forderungen, die die Gesellschaft an einen stellt, verweigert? Wie viel Verantwortung will man in einem System übernehmen, dessen Machtpraktiken einem zuwider sind? Dass Loests Antworten auf diese Fragen alles andere als eindeutig sind, macht »Es geht seinen Gang« zu einem zwar nicht zeitlosen, aber zeitüberdauernden Roman. Clara Ehrenwerth


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