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Bildungslücke, Folge 6 – Christoph Hein: Der Tangospieler (1989)

Bildungslücke, Folge 6 – Christoph Hein: Der Tangospieler (1989)

Bildungslücke, Folge 6 – Christoph Hein: Der Tangospieler (1989). 192 S.

Kann ein Lied die Welt verändern? In jedem Fall kann es eine Existenz zerstören. Dr. Hans-Peter Dallow, Mitte dreißig, Historiker und Hobby-Pianist, hat einen Abend lang aushilfsweise bei einem Studentenkabarett Klavier gespielt, und weil er in der einzigen Probe voll und ganz auf die musikalischen Defizite der Sänger konzentriert war, hat er nicht einmal mitbekommen, dass einer der Studenten, während Dallow die Tango-Akkorde von »Adiós Muchachos« anschlug, einen Spotttext sang, den der Richter später als »staatsgefährdend« einstufte. Dallow wird zu 21 Monaten Gefängnis verurteilt – und steht, als er nach Ende der Haftstrafe zurück nach Leipzig kommt, vor dem Nichts. Die Oberassistentenstelle am Institut ist neu besetzt, die Freundin hat ihn verlassen, die Eltern schämen sich für den Sohn, den Bekannten ist seine Gegenwart unangenehm. Die Einzigen, die sich aufrichtig um ihn bemühen, sind zwei auffällig unauffällige Herren namens Müller und Schulze, die Dallow gerne als Spitzel anwerben würden. Doch der will weder für die Stasi arbeiten noch irgendetwas anderes tun. Die Freiheit, nach der er sich in der Zelle sehnte, kann er kaum ertragen – sie ist ihm fremd und unheimlich geworden. Überfordert davon, wieder selbst Entscheidungen treffen zu müssen, gibt sich der Protagonist von Christoph Heins Erzählung »Der Tangospieler« ausgiebig den unsterblichen Machohobbys hin: Autos, Frauen, Alkohol. So subversiv und komplex der Antiheld beim Erscheinen des Buches im Frühjahr 1989 gewesen sein mag – die Leserin im Jahr 2017 rollt auf Seite 12 zum ersten von vielen, vielen Malen entnervt die Augen: »Du hast mir gefehlt«, raunt Dallow dort seinem Auto zu, »du und die Weiber.« Es bereitet Mühe, sich für den inneren Konflikt einer Figur zu interessieren, deren existenzielle Sinnkrise vor allem über die Objektifizierung von Frauen transportiert wird. »Er schätzte gepflegte Frauen, nach seiner Erfahrung waren sie weniger direkt und aufdringlich«, ist über den Protagonisten zu erfahren, und: »Versuchte ein Mädchen, mit ihm zu diskutieren, lächelte er lediglich und streichelte sie dann beruhigend.« Gleich zwei Sexszenen enthalten die Klassikerphrase »Sie ließ es willenlos geschehen.« Sogenannte starke Frauen gibt es übrigens auch, mehrere sogar – aber was definiert sie als stark? Dass sie sich Dallows heftigen Werbens erwehren. Bis auf ein paar alte Küchenfrauen und die eigene Mutter gibt es im ganzen Buch keine einzige weibliche Figur, bei der der Ewiggetriebene es nicht zumindest versucht. Grund genug, das Buch in die Tonne zu kloppen? Nein. Denn die zwei Drittel des Buches, in denen Hein es schafft, die Ermüdung und den Zynismus seines Protagonisten ohne den altvertrauten Rückgriff aufs sexistische Klischee zu erzählen, sind durchaus lesenswert. Angesiedelt im Jahr 1968, ist die Handlung von den Nachrichten aus Prag durchzogen, die Dallow nur desinteressiert zur Kenntnis nimmt. Der innere Abschied vom Willen zur Selbstverwirklichung, der den aus der Spur geratenen Akademiker schließlich als Kellner nach Hiddensee (und von dort auch wieder zurück) führt, ist als zeithistorische Krisenerzählung auch heute noch interessant. Clara Ehrenwerth


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