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Bildungslücke: Folge 9 – Dieter Zimmer: Für’n Groschen Brause (1982)

Bildungslücke: Folge 9 – Dieter Zimmer: Für’n Groschen Brause (1982)

Bildungslücke: Folge 9 – Dieter Zimmer: Für’n Groschen Brause (1982). 288 S.

Ein Groschen – so viel kostet nicht nur eine Brause, sondern auch ein Ritt auf dem Karussell im Rosental, eine Straßenbahnfahrt nach Leutzsch, wo Chemie spielt. Dies sind die kleinen Freuden des zehnjährigen Thomas, der im Leipzig der 1950er Jahre aufwächst. Seine Familie ist frisch nach Gohlis gezogen. Neues Viertel, neue Schule, eine Wohnung voller Untermieter. Es herrscht Platzmangel, Nahrungsmangel. Thomas’ Stiefvater macht Geschäfte auf dem Schwarzmarkt, Mutter und Onkel arbeiten in dem familieneigenen, wie sie befürchten, bald volkseigenen Betrieb für Puddingpulver. Thomas hilft, wo er kann. Wenn er nicht mit seinen neuen Freunden in den Trümmern spielt, steht er vor der HO an, zerschneidet Zeitungen zu Klopapier oder sammelt Pferdeäpfel für den Garten. Nur in der Schule will es nicht klappen: Seine Aufsätze, in denen er mit besten sozialistischen Absichten, doch ohne jedes politische Verständnis Das neue Deutschland zitiert und eine Stilblüte nach der anderen liefert, stoßen auf den Missmut der Lehrer. »Unter allen Mangelerscheinungen ist nämlich der Mangel an Humor der hervorstechendste«, urteilt Onkel Wolfgang über die DDR. Das bekam auch der Autor zu spüren, als »Für’n Groschen Brause« 1982 erschien. Dieter Zimmer, in Leipzig geboren und aufgewachsen, lebte zu diesem Zeitpunkt seit 30 Jahren in der Bundesrepublik. Er war ein bekanntes Gesicht im ZDF, Redakteur der »heute«-Sendung. Bereits zwei Jahre zuvor war er mit einer Leipzig-Reportage bei der SED-Bezirksleitung angeeckt. Man entzog ihm die Dreherlaubnis. Auch sein Roman, der die westdeutschen Leser auf unterhaltsame Weise mit dem ostdeutschen Alltag der Nachkriegszeit vertraut machte, wurde in der DDR verboten. Die teils heitere Ironie, mit der Zimmer über das »Schlamassel der Anfangsjahre« schreibt, wie es einmal heißt, über die morgendlichen Stromsperren und die stinkende, schaumgekrönte Pleiße bot Grund genug. Manchmal wirkt der Roman allzu humorig, verliert Zimmer das Tragische der Situation vor lauter Augenzwinkern aus dem Blick. So als der Stiefvater aus Lebensfrust Frau und Kind verlässt und einfach »wegmacht«, was jedoch schon bald vergeben und vergessen scheint. Nach der Enteignung des Familienbetriebs flüchten auch Thomas und seine Mutter aus der DDR. Und so endet die Geschichte ähnlich, wie sie beginnt: mit der Suche nach einem neuen Zuhause, diesmal in der Bundesrepublik, der Heimat von Hertha BSC, von Kreppsohlen und Kaugummi. Der kostet auch einen Groschen, nun allerdings Westgeld. Fabian Dellemann


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