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Clemens Meyer: Die stillen Trabanten

Clemens Meyer: Die stillen Trabanten

Clemens Meyer: Die stillen Trabanten. 270 S.

Seit jeher sind Clemens Meyers Protagonisten Schattengestalten: Nachtarbeiter und Nachtschwärmer, für gewöhnlich übersehen. In einer der schönsten Geschichten seines neuen Bandes sind es zwei junge Männer aus dem Kohlenviertel einer Stadt. Einem Schattenreich aus Fabriken, Werkstätten und verfallenen Häusern. Sie werden zu Kastor und Pollux, wie jene, die einst mit den Argonauten gen Goldenes Vlies zogen. Hier heißt es nur: »Verrückte, die etwas suchten, vor Tausenden Jahren.« Wie kaum ein Zweiter verbindet Meyer die Alltagswirklichkeit der Abhängten mit den großen Mythen und Geschichten. Ausgemusterte Soldaten und ehemalige Kohlenarbeiter werden so zu märchenhaften Gestalten – und zu Bewohnern einer Welt, die am Verschwinden ist. Der Kohlenstaub hat sich längst gelegt, kaum ein Schornstein raucht noch und das Viertel wird nach und nach saniert. Es liegt eine eigentümliche Melancholie in Meyers neuem Erzählband »Die stillen Trabanten« mit Geschichten von Liebe, Freundschaft und nicht selten von der Suche nach einer verlorenen Welt. Ein Nachtwächter dreht seine Runden entlang einer Unterkunft für Flüchtlinge und erinnert sich an eine Frau, in die er vor Jahren verliebt war. Eine Putzfrau, die in Zügen saubermacht, lernt nach Feierabend eine Friseurin in der Bahnhofskneipe kennen. Ein Mann verirrt sich in die Wohnung einer Greisin, die ihn für ihren Enkel hält. Es sind typische Meyer-Storys, wie man sie nach seinem formal etwas überladenen Roman »Im Stein« vermisst hat. Auch der typische Sound ist sofort wieder da. Meyer denkt sich in seine Figuren hinein, fängt ihre Sprache ein, ihre Wünsche und Sehnsüchte. Auf seinen Sound kann er sich genauso verlassen wie auf ein starkes Setting: die beklemmende Stimmung von Neubaublocks in der Nacht, die riesigen Kuppelhallen des Bahnhofs oder die staubige Enge der Wohnung einer alten Frau. Neu für ihn sind Rückgriffe tief zurück in die Geschichte. Zum Beispiel schreibt er von Willi Bredel, der um 1950 herum in den Kellern der Moskauer Lenin-Bibliothek sitzt und über den Seiten eines Manuskripts brütet. Sein nächster Roman soll von Störtebeker handeln. Er will den Seeräuber zum Klassenkämpfer machen, doch Bredel hadert. Schlussendlich trauert auch er als verzweifelte Figur einer verlorenen Welt nach: »Manchmal wusste er nicht mehr, ob er log und log oder ob er Märchen schrieb und aus dunklen Märchen helle machte, oder ob er die neue Zeit vorbereitete, so wie er es hoffte.« So packend die Storys von Clemens Meyer sind, Erbauliches ist in seinen dunklen Märchen kaum zu finden. Am ehesten die Erkenntnis, dass eine Welt verschwunden sein kann und doch noch existiert. In der Erinnerung. Und in starken Geschichten. Tino Dallmann


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