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Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht

Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht

Édouard Louis: Wer hat meinen Vater umgebracht. 77 S.

Es geht einen ja eigentlich nichts an. Wann wie wo jemand schreibt. Man selbst möchte beim Lesen ja auch nicht auf die Freiheiten des Alleintuns verzichten. Im Bett oder Café, laut oder leise, in der Jogginghose oder nackig – lesend wie schreibend ganz frei. Aber vermuten kann man ja mal: Édouard Louis trug beim Schreiben seines neuen Buches eine gelbe Weste, und aus dem Bücherregal zwinkerte ihm Émile Zola zu. Das dünne Büchlein – man hat schon dickere Speisekarten in der Hand gehabt – ist mit »Wer hat meinen Vater umgebracht« überschrieben. Ohne Fragezeichen. Und tatsächlich wäre »Wer meinen Vater umgebracht hat« die passendere Übersetzung des französischen Titels »Qui a tué mon père«, denn da ist nirgends das Unsichere des Fragenden, sondern überall die blinde Überzeugung des Klägers und gegen das Unrecht Ankämpfenden. Der 1992 Geborene hat bereits in seinem Debüt »Das Ende von Eddy« vom homosexuellen Jungen erzählt, der den Männlichkeitsvorstellungen seines Vaters nicht entspricht. Dass er sich als Kind gewünscht habe, sein Vater möge verschwinden, lesen wir nun. Dass er während einer Familienfeier einmal als Mädchen verkleidet ein Lied sang und alle erfreute, nur der Vater schnaufend nach draußen floh, rauchen. Und nun steht der erwachsene Sohn nach Monaten mal wieder vor seinem Vater und erkennt ihn fast nicht. Der alte Mann ist zwar nicht tot, wie es der Buchtitel nahelegt, aber in Folge eines unverschuldeten Arbeitsunfalls am Ende. Wirbelsäule, Lunge, Herz, alles kaputt, kein Geld. Und also setzt nun Louis an zum großen Schlag: »Was ich erzähle, folgt nicht den Erfordernissen der Literatur, sondern denen der Notwendigkeit, der Dringlichkeit, denen des Feuers.« Klug ist dieser Text, allein schon durch das Postulat, dass auch ein Lebender bereits umgebracht worden sein kann, oder in Sätzen wie: »Dein Leben beweist, dass wir nicht sind, was wir tun, sondern im Gegenteil sind, was wir nicht getan haben, weil die Welt oder die Gesellschaft uns daran gehindert hat.« Und doch ist diese Anklage zu einfach gestrickt. Denn »die Welt oder die Gesellschaft« meint hier immer: die Politik, die da oben, die feinen Anzugträger, die nur dem kleinen Mann auf der Straße an den Kragen wollen. Dieser kleine Mann ist Édouard Louis’ Vater.  Benjamin Heine


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