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Germar Grimsen

Germar Grimsen

Weißer Wal im Heringsschwarm

Germar Grimsen. 456 S.

Fußnoten sind eine Pest des wissenschaftlichen Schrifttums.1Ich meine diese metastasenhaft wuchernden Monsterfußnoten, die den Haupttext verdrängen und sich in perverser Umkehrung aller Ordnung und Gesittung an seine Stelle setzen: Das Marginale, das Pedantische schwingt sich frech zur Hauptsache auf.2Damit spiegelt der usurpatorische Fußnotenschwulst die kleingeistige Denke ihres Urhebers wieder, nämlich des deutschen Geisteswissenschaftlers, der es sich auch noch zur Ehre anrechnet, seinen Kleinkram in unlesbarer Form darzubieten.3Fußnoten, die mehr als nur einen Quellennachweis liefern, sind überflüssig. Wenn etwas der mehrseitigen Erwähnung wert ist, gehört es in den Haupttext! Ich verstehe nicht, was daran so schwer zu kapieren ist. Fußnoten sind ein dünkelbehaftetes, zutiefst reaktionäres, widerliches Relikt, ein Übel, das ausgerottet gehört.41 Die größten Kritiker der Molche waren früher selber solche: Schon ein flüchtiger Blick in eine von mir fabrizierte wissenschaftliche Arbeit beweist leider, dass ich selbst einst ein wahrer Fußnoten-Junkie gewesen bin. Das famose Werk, das 2003 unter dem Titel: »?Callots fantastisch karikierte Blätter?. Intermediale Inszenierungen und romantische Kunsttheorie im Werk E.T.A. Hoffmanns« (Erich Schmidt Verlag, Berlin, Philologische Studien und Quellen 181, 39,80 ») erschienen ist, enthält bei 270 Seiten bestimmt an die 300, teils sehr raumgreifende Fußnoten. Mir wird ganz blümerant, wenn ich das sehe. Trotzdem muss ich zugeben, dass es natürlich auch Spaß macht, sein Wissen in unzähligen gelehrten Fußnoten auszubreiten - womit wir, lange vor dem Haupttext, bei der wahren Ursache für das inflationäre Fußnotenwesen wären. 2 Warum jetzt die Erregung? Weil da gerade einer einen Roman geschrieben hat, der fast nur aus Fußnoten besteht. Einen Roman! Germar Grimsen heißt der Schurke. In seinem Opus magnum »Hinter Büchern« nehmen die Fußnoten tatsächlich ebenso viel Raum ein wie der Haupttext, und das über mehr als 400 Seiten. Im Apparat erzählt Grimsen weitschweifige Anekdoten über Hinduismus, Hölderlin, hebräische Grammatik und allerlei historische Schmonzetten. Kostprobe? Fußnote 82: »Den 22jährigen Landsknecht Hans Staden ziehts 1547 heftig nach Indien. Über Bremen reist er nach Holland, schifft nach Lissabon ein, dort aber geht grad ein Segler, der deportiert Sträflinge nach Prasilien und soll unterwegs auf Geheiß Joãos III. (des »Frommen?, des »Schirmherrn der Inquisitoren?) Franzosen aufbringen. Auch nicht schlecht. Ein Büchsenschütze wird noch gesucht - Staden zögert nicht, Hauptsache weg. Hauptsache brand- und »kauffschatzen?. Er kapert Franzosen, bestiehlt »weiße Moren?, versetzt nach 84 Tagen auf See den von Portugalesen arg drangsalierten Indianern empfindliche Schläge - und ist 8. Oktober 1548 glücklich wieder in Lissabon. Das hat Spaß gemacht. April 1549 nimmt Staden gleich die nächste Passage nach Südamerika: ein Spanier, der nach La Plata will - allerdings Ende November 1549 vor Prasilien sinkt. Staden schwimmt an Land, isst Austern und Eidechsen und schlägt sich binnen zweier Jahre ins portugiesische São Vicente. Jedoch wird São Vicente von menschfressenden Franzosen und Tupinambá belagert, einzig geschützt von des Palisaden des Forte de São Felipe, dessen Kommandantur Staden 1552 an sich reißt. Doch kein Jahr, und er wird, auf Austernjagd - denn er war auf den Geschmack gekommen - von den Tupinambá gefangen, wenn auch nicht sofort geschlachtet, denn es ist ein Zank unter den Indianern, wer den ersten Happs tun dürfe. [?]«. So geht das noch eine Seite weiter. Und es ist eine vergleichsweise harmlose Fußnote ohne hebräische, griechische oder französische Zitate. 3 In seinen »96 Thesen wider das deutsche Professorentum« hat sich derselbe Grimsen in folgender Weise ausgelassen: »Die einzige Gemeinsamkeit zwischen Professoren und Proktologen ist: beide veröden auf ihrem Gebiet.« Letztere freilich erweisen der Menschheit damit einen Dienst. Was hat der Grimsen eigentlich studiert? Wahrscheinlich alles und nix zu Ende. Mit einem lausigen Baccalaureus erwirbt man jedenfalls solche alexandrinische Bildung nicht. »Hinter Büchern« ist natürlich auch ein Abgesang auf Letztere. So wie in der allerletzten Spätantike noch einmal ein unnachahmlich herrliches Latein geschrieben wurde, das aber deutlich den Verfall schon in sich trug. - Augenblick, das ist jetzt zu hoch gehängt. Aber Grimsen ist schon ein Polyhistor vor dem HERRN, sprich Vertreter einer nahezu ausgestorbenen Spezies. (Selbstredend geistert auch Arno Schmidt durch die Seiten.) Da darf man vielleicht mal pathetisch werden.4 An dieser Stelle scheint es nicht ganz unangebracht, zumindest kurz zu erzählen, worum es in der Schwarte überhaupt geht. Also, der gelehrte Bremer Antiquar Christian Keller verschenkt aus Versehen einen unbekannten Erstdruck von Hölderlin. Er bemerkt den Fehler, und unter den ortsansässigen Antiquaren entbrennt ein erbitterter Kampf um das einzigartige Dokument. Das wars im Grunde schon. Dabei wird aber, wie gesagt, sehr viel gelehrt schwadroniert, und der ausufernd-enzyklopädische Apparat galoppiert nebenbei oder besser: unten drunter, durch die ganze Religions-, Sprach- und Literaturgeschichte. Das ist sicherlich nicht jedermanns Sache, und selbst eingefleischte Liebhaber dickleibiger Romane werden sich zumindest passagenweise mit dem Buch schwertun - obwohl, das soll nicht verschwiegen werden, »Hinter Büchern« stellenweise auch hochkomisch ist. Mit einem Wort: Grimsens sogenannter Großroman ist ein gargantueskes Skandalon, ein Monstrum - der weiße Wal unter den Heringsschwärmen des deutschen Buchmarkts. Und wem noch nicht das Fräulein-Gedöns die Synapsen lahmgelegt hat, heuert auf der Pequod an und begibt sich auf den Ozean dieses Romans! Olaf Schmidt


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