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Ginette Kolinka: Rückkehr nach Birkenau

Ginette Kolinka: Rückkehr nach Birkenau

Ginette Kolinka: Rückkehr nach Birkenau. 125 S.

»Wenn ich einmal ein Kind habe und das alles wieder von vorne losgeht, ­werde ich es eigenhändig erwürgen«, schreibt Ginette Kolinka in ihren Erinnerungen an die Zeit in Auschwitz-Birkenau. Heute ist sie 94 Jahre alt – noch arbeitet sie mit Schulklassen an ­ihren Erlebnissen und kehrt wieder und wieder zurück an diesen Ort. Die Überlebenden der Schoah werden weniger, Zweitzeugen nehmen ihren Platz ein, um die Erinnerungen wachzuhalten. Auch ­Büchern wie »Rückkehr nach Birkenau« gelingt es, die Erlebnisse zu konservieren. Es sind sensible Dokumente, die beim Lesen schmerzen. Und es ist ein notwendiger Schmerz. Das Trauma und die Sprache vertragen sich nicht. Es ist schwer, die Verbrechen der Nationalsozialisten in Worte zu fassen. ­Kolinka zeigt in ihrem Buch, wie brutal die Worte eines Alltags am Leben in den Arbeits- und Konzentrationslagern vorbeigleiten. Scheinbar passen sie, bezeichnen das, was bezeichnet werden soll. Doch es gibt da diese Ungenauigkeit, die ­Sprache liegt nicht deckungsgleich über den ­Dingen. Der »Schwarzmarkt«, der Schlamm hinter einer abgelegenen Baracke, in dem die Gefangenen stehen und ein Stück Brot gegen einen Bindfaden eintauschen, bevor sie zurück an die Arbeit müssen. Die »Arbeit«: Steine schleppen, dabei fast zu Tode geprügelt werden oder an der Anstrengung sterben. Am Leib nichts als lose vernähten Stoff, »Kleidung«, die man nie auszieht, damit sie nicht geklaut wird. Am Morgen »Kaffee«: Braunes Wasser, von dem man aber nicht weiß, was daran Kaffee sein soll. Auch die »Suppe« gleicht mehr dem ­Spülwasser, das nach einer Mahlzeit zurückbleibt. Wenn darin mal ein Stück Kartoffel schwimmt, dann greift jemand in deine Schale und nimmt es heraus. »Kartoffeln« sind nicht mehr als die Reste der ausgekochten Schalen. 26 Kilo wiegt die 20-Jährige bei ihrer Heimkehr nach Paris. Drei Jahre dauert es, bis sich der Körper erholt hat. Nachts sitzt die junge Frau in der Küche ihrer Mutter und isst heimlich von den weggeworfenen Essensresten der Familie. Ein Bild, das man nicht mehr loswird. Die Begriffe gleiten beim Lesen langsam von der Lager-Realität ab, der Kolinka monatelang ausgesetzt war, legen das Trauma frei. Und wenn nicht mal mehr eine Kartoffel eine Kartoffel ist, aber auch nichts anderes, brauchen wir Bücher wie diese, denn »niemand, wirklich niemand, kann sich die Wahrheit vorstellen«.  Linn Penelope Micklitz


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