Ehrensache, dass wir keine Gelegenheit auslassen, Halloween zu geißeln. Statt auf solchen kommerziellen Humbug hereinzufallen, soll das deutsche Volk gefälligst Allerheiligen begehen, Laterne laufen oder irgendeinen anderen Schabernack aus dem »Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens« treiben. Aber Vorschlag zur Güte: Wem das alles zu aufwendig ist, der kann auch einfach die Türklingel abschalten und in die albtraumhaften Erzählwelten des Horror-Klassikers Howard Phillips Lovecraft (1890–1937) eintauchen, dessen Werk gerade in einer prachtvollen Ausgabe auf Deutsch erschienen ist.
Ohne Lovecraft wäre die Horrorliteratur des 20. Jahrhunderts schlicht undenkbar, und natürlich gehört auch Stephen King zu seinen Adepten. Aber sein Einfluss geht weit über die einschlägigen Genres, Horror, Fantastik, Science-Fiction, hinaus. Auch Vertreter der Hochliteratur wie Jorge Luis Borges oder Arno Schmidt haben sich von Lovecraft inspirieren lassen, vom Film gar nicht zu reden: So erinnert etwa Davy Jones aus »Fluch der Karibik« nicht zufällig an Lovecrafts Cthulhu. Aber Kenner und Genießer halten sich ans Original, und dem konnte die Zeit erstaunlich wenig anhaben: Erzählungen wie »Berge des Wahnsinns«, »Cthulhus Ruf« oder »Das Grauen von Dunwich« haben bis heute nichts von ihrer verstörenden Wirkung verloren.
Leslie S. Klingers Ausgabe ist nicht nur ein Geschenk für Lovecraft-Fans, sondern auch und gerade für Einsteiger: Man findet darin eine ausführliche und kenntnisreiche Einführung zu Lovecrafts Biografie, den literarischen Traditionen und Schriftstellern, die ihn beeinflusst haben, und der Rezeptionsgeschichte seines Werks. Die Erzählungen sind fortlaufend kommentiert, der ganze Band sehr schön und großzügig bebildert. Leider fehlen so bedeutende Erzählungen wie »The Rats in the Wall« oder »The Music of Erich Zann«. Aber um Halloween zu überstehen, reichen die fast tausend Seiten allemal. Olaf Schmidt