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Holger Michel: Wir machen das / Christiane Rösinger: Zukunft machen wir später

Holger Michel: Wir machen das / Christiane Rösinger: Zukunft machen wir später

Holger Michel: Wir machen das / Christiane Rösinger: Zukunft machen wir später. 288 S.

Was war das für ein Sommer! Als die Grenzen noch offen waren, Dublin IV noch nicht auf dem Tisch lag und acht Millionen Bundesbürger plötzlich ihren Balkon verließen, um den Geflüchteten ihre Ankunft in Deutschland ein wenig zu erleichtern. Zwei von ihnen reflektieren in neu erschienenen Sachbüchern ihre Erfahrungen aus dem »Spät-Summer-of-Love« 2015. Holger Michel, selbstständiger PR-Agent aus Berlin, erzählt in »Wir machen das« von seinem Jahr als Ehrenamtlicher im Rathaus Wilmersdorf, einer der größten Notunterkünfte der Hauptstadt. Michel, der sich zuvor nicht sonderlich für die Situation Geflüchteter in Deutschland interessiert hat, steigt eines verkaterten Sonntags aus einem diffusen Pflichtgefühl heraus aufs Fahrrad und fährt aus Kreuzberg ans andere Ende der Stadt, um mal zwei, drei Stunden mit anzupacken. Was als fixe Erleichterung des eigenen Gewissens gedacht war, wird binnen weniger Tage zum Lebensinhalt, hinter dem alles andere zurückstehen muss. Michel sagt alles ab und verbringt von einem Tag auf den anderen jede freie Minute in der Notunterkunft, wo er Kleider sortiert, Logistikprobleme löst, Tee mit den Bewohnern trinkt und Pressemitteilungen formuliert. Detailliert protokolliert er große und kleine Herausforderungen und Konflikte – und gibt sich dabei keine Mühe zu verbergen, wie viel Spaß er in diesem ersten Jahr seiner Helfertätigkeit hatte. Stellenweise liest sich das Buch wie der Bericht aus einem Ferienlager mit Dringlichkeitscharakter, das den Autor aus seinem Bullshitjob herausreißt und abrupt an die Wirklichkeit anschließt. Auch Christiane Rösinger, Musikerin und Gründungsmitglied legendärer Formationen wie den Lassie Singers und Britta, sehnte sich nach einer Veränderung: Nach einem Vierteljahrhundert »Zwangskreativität« will auch sie endlich mal einen normalen Job haben, mit aufgezwungener Struktur und Feierabend. Schluss mit Schaffenskrise und prekärem Künstlerinnendasein! Da kommt ihr, der Germanistik-Absolventin, die Weltlage gerade recht: Überall werden händeringend Dozenten für Deutsch als Zweitsprache gesucht – und so entschließt sie sich, erst mal in einer Freiwilligeninitiative auszuprobieren, ob ihr das Deutschlehren überhaupt liegt. Auch bei ihr stellt sich binnen kurzer Zeit ein akutes Stimmungshoch ein. Dennoch ist »Zukunft machen wir später« grüblerischer, weniger dokumentarisch als Michels Bericht. Beiden ist gemein, dass sie gänzlich frei von Völkerverständigungspathos und Selbstbesoffenheit sind – es dominieren Frohsinn, Erfindungsreichtum und Wut: Wut auf die unberechenbaren, rücksichtslosen Berliner Behörden, auf Pauschalurteile schlecht informierter Politiker, auf schreiend ungerechte Gesetzesänderungen. So zeugen die Bücher nicht zuletzt auch davon, wie im Zuge der »Flüchtlingskrise« reihenweise Engagierte ihr Vertrauen in den Staat und seine Institutionen verloren haben, als sie erstmals mit der sozialen Wirklichkeit Marginalisierter konfrontiert waren – und wie sie gleichzeitig realisiert haben, wie gut es tut, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Clara Ehrenwerth


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