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Johann Gottfried Seume: Mein Leben

Johann Gottfried Seume: Mein Leben

Johann Gottfried Seume: Mein Leben. 482 S.

Zu Lebzeiten ist Johann Gottfried Seume (1763–1810) vor allem als Lyriker berühmt gewesen. Heute kennen wir von seinen Gedichten allenfalls einzelne Zeilen wie: »Wo man singet, lass dich ruhig nieder« aus »Die Gesänge«. Als sein bedeutendstes Werk gilt der ebenso gelehrte wie eigensinnige »Spaziergang nach Syrakus«. Aber die 7.000-Kilometer-Wanderung von Grimma nach Sizilien (und zurück) war nicht das einzige Abenteuer im Leben dieses großen Eigenwilligen. Davon zeugt seine Autobiografie »Mein Leben«, die nun erstmals in ihrer ursprünglichen, ungekürzten Fassung vorliegt. Zweifellos gehört Seume zu der Spezies, die Arno Schmidt »Schreckensmänner« genannt hat: Wie Karl Philipp Moritz oder Johann Karl Wezel war er ein Eigenbrötler, ein Quer- und Selbstdenker, der sich durch nichts und niemanden von seinem Weg abbringen ließ. Selbstredend ist er in bitterer Armut gestorben. Seume wurde als Sohn eines Böttchers und Bauern in Poserna geboren, wuchs aber in Knautkleeberg auf. Er besuchte die Lateinschule in Borna und danach die Leipziger Nikolaischule. Der Junge sollte Theologie studieren, was sonst? Daraus wurde nichts. Seume geriet in eine tiefe Glaubenskrise. Bei Nacht und Nebel flieht er aus Leipzig mit dem Ziel Frankreich. Unterwegs wird er von hessischen Webern aufgegriffen und als Soldat nach Kanada verschifft. Nach der Flucht pressen die Preußen ihn in ihre Armee. Später kommt er als Soldat und Reisender nach Polen, Finnland und Russland. Schließlich verdient Seume sein Brot als Korrektor bei seinem Freund und Verleger Georg Joachim Göschen, der sein Geschäft in Grimma betreibt. Von hier aus bricht er am 6. Dezember 1801 auch zu seinem »Spaziergang« auf. Der schwer kranke Seume stirbt 1810 während eines Kuraufenthaltes im böhmischen Teplitz. Seine Autobiografie hat Seume nicht mehr vollenden können. Göschen hat das Manuskript postum veröffentlicht – und dabei ganze Passagen, nämlich gerade die, in denen Seume mit Kirche und Obrigkeit hart ins Gericht geht, unter den Tisch fallen lassen. Erst jetzt, über 200 Jahre nach der ersten Veröffentlichung, liegt der vollständige Text in einer vorbildlich edierten Ausgabe vor. Übrigens nimmt die Autobiografie gerade einmal 100 Seiten in Anspruch; der Rest des 480 Seiten starken Bandes besteht aus einem ausführlichen Editionsbericht, Erläuterungen und dem Nachwort. So tritt endlich Seumes rebellisches Einzelgänger- und Selbstdenkertum in seiner ganzen Radikalität zutage. Also: Erweisen Sie Seume und sich selbst die Ehre und den Gefallen und schmeißen Sie den Reclam-Band von »Mein Leben«, der noch immer Göschens Machwerk enthält, in den Müll und legen sich diese herrliche Ausgabe zu. Zugegeben: Sie kostet ein bisschen mehr als ein Reclam-Bändchen. Aber das Buch ist jeden Cent wert. Olaf Schmidt


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