anzeige
anzeige
Juli Zeh: Unter Leuten

Juli Zeh: Unter Leuten

Juli Zeh: Unter Leuten. 640 S.

Jenny Erpenbecks »Heimsuchung«, Marion Poschmanns »Die Sonnenposition«, Saša Stanišics »Vor dem Fest« – warum spielen in letzter Zeit eigentlich so viele Romane in Brandenburg? Postzonale Tristesse findet sich ja weiß Gott auch in anderen Gegenden östlich der Elbe. Was Brandenburg für unsere Literaten so interessant macht, ist natürlich die – geografische – Nähe zu Berlin. Nirgendwo prallen, Klischee hin oder her, die Lebenswelten von Metropole und Provinz so ungedämpft aufeinander wie hier. Mit einem Wort: In Brandenburg lassen sich die Befindlichkeiten unserer Gesellschaft wie unter einem Brennglas beobachten, und das ergibt ein ideales Szenario für einen deutschen Gesellschaftsroman. Das weiß auch Juli Zeh, die vor gut zehn Jahren von Leipzig ins brandenburgische Outback gezogen ist. Was soll man sagen? In literarischer Hinsicht hat sich der Ausstieg jedenfalls gelohnt. »Unter Leuten« ist Zehs bisher gelungenstes Werk und, obwohl es seltsamerweise nicht für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde, wahrscheinlich der meistbesprochene Roman dieses Frühjahrs. In Unterleuten, einem Dorf irgendwo in Brandenburg, leben zwei Sorten Menschen: die Einheimischen und die Zugezogenen. Die verschworene Dorfgemeinschaft will von der Welt da drau ßen nichts wissen und ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen, die anderen wollen der Ano nymität der Großstadt entfliehen und sich auf dem Lande selbst verwirklichen. Gemeinsam ist allen, Eingeborenen wie Neubürgern, dass sie Getriebene ihrer Sorgen, Rachegefühle, Sehnsüchte sind und dass sie ihre Lebensziele mit bemerkenswerter Rücksichtslosigkeit verfolgen. Da wäre der Patriarch Gombrowski, Chef des örtlichen Landwirtschaftsbetriebs und größter Arbeitgeber der Gegend, ein unausstehlicher Choleriker, der seinen Hund liebt und sein Frau schlägt, sich aber für das Dorf und seine Menschen verantwortlich fühlt. Aber seine Machtstellung ist nicht unangefochten. Sein Erzfeind Kron, ein unverbesserlicher Genosse und notorischer Querulant, macht ihm das Leben schwer. Von den Zugezogenen lernen wir zunächst den ehemaligen SoziologieDozenten Fließ kennen, der mit seiner jungen Frau und dem neugeborenen Kind aufs Land gezogen ist, um als Vogelkundler den Bestand des Kampfläufers, einer gefährdeten Schnepfenart, zu schützen. Fließ liefert sich einen erbitterten Kampf mit seinem Nachbarn, dem Sonderling Schaller, der unablässig Autoreifen verbrennt, deren giftiger Rauch Haus und Grundstück des Naturschützers verpestet. Auch die kaltschnäuzige Pferdeflüsterin Franzen hat sich mit ihrem Lebensgefährten, einem harmlosen Computernerd, in Unterleuten angesiedelt. Ihr Vorhaben, dort eine Pferdeschule aufzumachen, wird wiederum von Fließ konterkariert. Richtig in Gang kommt die Handlung, als um das Dorf herum Windkraftanlagen gebaut werden sollen. Während Gombrowski darin die Chance erblickt, Unterleutens Zukunft langfristig zu sichern, befürchtet Kron den endgültigen Ausverkauf des Dorfes. Natürlich geht es auch ums Geld, denn der Wert der Grundstücke, auf denen die Windräder errichtet werden sollen, steigen beträchtlich. Als Gombrowski am Ende einsieht, dass seine Pläne gescheitert sind, sein Lebenswerk zerstört ist, entschließt er sich zu einem Abgang, der es in sich hat. Aber mehr sei hier nicht verraten. Indem Zeh abwechselnd aus der jeweiligen Perspektive ihrer Protagonisten erzählt, blicken wir tief in das Innenleben dieser Figuren, erfahren, was sie treibt und wie ihre Vorstellungen und Pläne miteinander kollidieren. Und das hat Zeh fabelhaft hingekriegt: Sobald wir mit einer Figur einigermaßen vertraut geworden sind, Verständnis für ihren Standpunkt und ihre Motive aufbringen, sehen wir uns mit der Gegenperspektive konfrontiert, die sich als ebenso nachvollziehbar erweist. Aber um die Wahrheit zu sagen: Die meisten dieser Figuren sind nicht besonders liebenswert und ziemlich humorlos. Vermutlich liegt das daran, dass Zeh bei der Konzeption ihres Romans weniger von den Charakteren als von einem gesellschaftlichen Problem ausgegangen ist. Jedenfalls bleiben die Figuren seltsam leblos; sie spielen exakt die Rolle, die Zeh ihnen zugedacht hat, entziehen sich nie der Kontrolle ihrer Schöpferin. Das ist schade, ein bisschen verwilderter hätte es in diesem ansonsten großartigen Roman schon zugehen dürfen. Auch hätte es Juli Zeh lieber bei Gombrowskis grandioser Abschiedsvorstellung belassen. Stattdessen verpasst sie dem Roman in einem kurzen Epilog noch eine ebenso überraschende wie überflüssige Rahmenhandlung, in der dem Leser erklärt wird, wer ihm die Geschichte erzählt. Aber was solls: Mit »Unter Leuten« hat Juli Zeh eine gnadenlos scharfsinnige und zugleich spannend zu lesende Gesellschaftsanalyse vorgelegt, die sich keineswegs auf die brandenburgische Provinz beschränkt. Muss man gelesen haben. Olaf Schmidt


Weitere Empfehlungen