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Jurek Becker

Jurek Becker

Der Platz zwischen den Zeilen - In »Vernarrtsein in Worte, Verliebtsein in Sprache« erzählt Jurek Becker, wie er zu seiner Sprache fand

Jurek Becker.

»Ich bin mir wie ein in die Welt gefallener Kaspar Hauser vorgekommen«, sagt Jurek Becker und meint den Moment, als sein Vater nach Kriegsende den wort- und erinnerungslosen Sohn aus dem KZ abholte. Für den damals Achtjährigen, der im polnischen Lodz geboren wurde, war Deutsch eine Fremdsprache, die er völlig neu lernen musste. Auch sein Vater sprach mit ihm von nun an nur noch Deutsch, weil er meinte, so würde der Junge sich in der fremden Sprache schneller zurechtfinden. Doch dadurch blieb vieles ungesagt, der Platz zwischen den Zeilen füllte sich. Dieses Verhältnis zwischen der verschwundenen polnischen Muttersprache und der erst spät erlernten deutschen »Vatersprache« bestimmte auch Beckers Literatur: Stets umkreisen seine Geschichten einen Leerraum, etwas Unausgesprochenes. Beckers zweite Frau Christine hat nun ein Hörbuch mit noch von ihrem Mann gelesenen Texten zusammengestellt: »Die beliebteste Familiengeschichte«, die Frankfurter Poetikvorlesungen von 1989, der Essay »Mein Judentum« und Beckers letztes Interview. Beckers schnoddrig-augenzwinkernde Stimme gibt dabei sein literarisches Prinzip - den Grenzgang zwischen Humor und Holocaust - in nuce wieder. Beispielsweise in »Die beliebteste Familiengeschichte«: Darin lässt Becker seine zahlreichen Verwandten noch einmal zu einer Familienfeier zusammenkommen. Wenn Onkel Gideon die Familiengeschichte zum Besten gibt, wird herzhaft gelacht. Beinahe unauffällig streut der Erzähler ein, dass auch der Onkel den Holocaust nicht überlebte. Das ganze Familientreffen ist eine Versammlung von Toten: Bis auf drei Personen wurde Beckers Familie von den Nationalsozialisten ausgelöscht. Das literarische Erbe des 1997 verstorbenen Becker hält die Erinnerung an sie wach. Dadurch wird das vorliegende Hörbuch zu einem einzigartigen Zeitdokument. Karen Lohse


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