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Karl-Heinz Baum: Kein Indianerspiel

Karl-Heinz Baum: Kein Indianerspiel

Karl-Heinz Baum: Kein Indianerspiel. 220 S.

Auch bald 27 Jahre nach dem Ende des real existierenden Sozialismus wirken sonderbare Phänomene in Deutschlands Osten fort: Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit gibt es auch im Westen, dennoch sind chauvinistische Einstellungen hier deutlich stärker verbreitet. Dass Arbeitslosigkeit nur eine Folge von Faulheit sei, ist eine Annahme, die in Sachsen weitgehend unhinterfragt geglaubt wird – obwohl die massenhaft erlebte Lebensrealität das Gegenteil nahelegen sollte. Wer als Spätgeborener oder zugezogener Wessi die mitunter verwunderlichen Einstellungen der mittleren oder älteren Generation verstehen will, wird in der Reportagensammlung »Kein Indianerspiel« erhellende Hintergründe erfahren. Der Journalist Karl-Heinz Baum hat von 1977 bis 1990 für die Frankfurter Rundschau über den Alltag in der DDR berichtet. Oftmals unter geschickter Umgehung der staatlichen Überwachungs- und Zensurmaßnahmen entlarvt er den himmelweiten Unterschied zwischen SED-Propaganda und Wirklichkeit. An allen Ecken herrscht Mangel, was zur Ellenbogenmentalität der DDR-Bürger untereinander führt und zu heimlicher Konkurrenz. »Sobald es nur den Anschein hat, ein Artikel könnte knapp werden, decken sich die Hausfrauen großzügig ein«, schreibt Baum. »Innerhalb weniger Tage, manchmal Stunden, sind dann die Regale leer.« Darf der Journalist anlässlich eines Besuchs westdeutscher GEW-Gewerkschaftler einen Blick in eine polytechnische Oberschule werfen, demonstrieren ihm Lehrer und Schüler dort militärische Disziplin. Die Westler reagieren verwundert über den Frontalunterricht, emanzipiert man sich in der BRD doch immer weiter vom autoritären Gepräge des untergegangenen Preußens. Brav, fleißig, folgsam und unauffällig ist die Jugend allerdings nur an der Oberfläche. Die unzensierte Meinung über das Leben als junger Mensch im Osten erfährt Baum bei kirchlichen Tagungen, wo Jugendliche wie ihre Altersgenossen West über Abrüstung und Umweltschutz diskutieren. Gegen Ende der DDR kehren immer mehr Junge dem System auch sichtbar den Rücken, entwickeln sich Jugendkulturen wie Punks oder Skinheads. Der Staat reagiert mit Repression. Neonazismus und Rassismus, in der Ostbevölkerung weit verbreitete Einstellungen, kommen erst Ende der 1980er zur Sprache. In der DDR geborene Schwarze oder Südamerikaner berichten von ständigen Übergriffen, von Beleidigungen bis hin zu roher Gewalt. Die Staatsführung ist verwundert, glaubte sie doch den Faschismus mit der Wurzel ausgerissen. Baums Reportagen zeigen die Lebensrealität im Osten, die bis in die heutige Gegenwart weiterwirkt. Clemens Haug


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