Marcel Raabe
Die letzten Stunden Walter Benjamins. Eine Rekonstruktion und eine Wanderung. Leipzig: Trottoir Noir 2021. 334 S., 16 €
Marcel Raabe.
Die »Skizzenbücher« sind, das bewies schon »Karstadt waren wir« von Olivia Golde, kleine Schatzkisten. Das liebevolle Design, dessen Kraft in dem Zusammenspiel zurückhaltender Schlichtheit, D.I.Y.-Charme und toller Typo (Gestaltung von Reymund Schröder) liegt, trifft in diesem neuen Buch auf einen der berühmtesten Cold Cases europäischer Denkgeschichte: Trottoir Noir-Verleger Marcel Raabe versucht in akribischer Quellenarbeit, die letzten Stunden Walter Benjamins nachzuvollziehen. Zur Erinnerung: Der Philosoph und Kulturkritiker wollte 1939, nachdem er bereits 1933 ins Exil gegangen war, über Spanien und Portugal in die USA ausreisen. Ihm gelang der Grenzübertritt nach Portbou – doch in der folgenden Nacht starb er an einer Überdosis Morphium. In seinem Buch geht Raabe, der auch für den kreuzer schreibt, zwei Wege. Einem davon folgt er ganz wörtlich, der möglichen Fluchtroute, die heute ein Wanderweg ist. Und er fragt sich: »Meine Freizeitkletterei – ist sie der Tatsache, dass es sich um einen Fluchtweg um Leben und Tod handelte, eigentlich angemessen?« Den anderen geht er Wort für Wort in den Quellen, die rund um und über diese entscheidenden letzten Tage entstanden und erhalten sind: »Brieffragmente, mündliche Erzählungen, […] spät gefundene Amtspapiere, […] Lebenserinnerungen anderer«. Das Ergebnis ist ein zweigeteiltes Buch in mehreren Abschnitten. Eine kurze Beschreibung des Weges über die Grenze und Benjamins Spuren in Portbou, Fotos davon. Linksseitig dann die spannungsvolle Rekonstruktion der Ereignisse, rechter Hand kleinteilige und ausführliche Quellen. Am Schluss folgt eine fundierte Einordnung der Ergebnisse. Eine bemerkenswerte Arbeit über einen Todesfall, der zahlreichen Spekulationen unterliegt, und die es schafft, neues Licht ins Dunkel zu bringen. Linn Penelope Micklitz