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Moritz August von Thümmel: Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich

Moritz August von Thümmel: Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich

Moritz August von Thümmel: Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich.

Hand aufs Herz: Haben Sie schon einmal über August Lafontaines »Klara du Plessis und Klairant« heiße Tränen vergossen oder Johann Martin Millers »Siegwart« und Karl Grosses »Der Genius« in einer einzigen Nacht verschlungen? Nein? Machen Sie sich nichts daraus. All diese Romane waren im 18. Jahrhundert Bestseller, heute sind sie nur einer Handvoll Germanisten bekannt – jedenfalls dem Titel nach, gelesen haben auch sie diese und andere ehrwürdige Verkaufsschlager in der Regel nicht. Schade drum? In den meisten Fällen nicht. Der eine oder andere Publikumserfolg von damals hätte aber durchaus mehr Aufmerksamkeit verdient. Zum Beispiel der Roman »Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich in den Jahren 1786 und 1787«. Der Geburtstag seines Verfassers, Moritz August von Thümmel, jährte sich, von der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, am 27. Mai zum 280sten Mal. Thümmel wurde 1738 als zweites von 19 Geschwistern auf dem Rittergut Schönefeld bei Leipzig geboren. Leider ist von dem barocken Thümmel’schen Stammsitz nichts erhalten geblieben. Während der Völkerschlacht wurden das Gut und Schönefeld zerstört. Das klassizistische Schlösschen, das heute an der Stelle steht, stammt aus dem 19. Jahrhundert. Da waren die Thümmels schon lange weg. Bereits 1745 hatten die Preußen das Hofgebäude zusammengeschossen und den ganzen Besitz geplündert. In der Folge hatte sich die Familie gezwungen gesehen, das Gut zu verkaufen. Moritz August bezog nach zwei Jahren Klosterschule die Leipziger Universität, um die Rechte zu studieren. Danach wurde er Geheimer Rat beim Erbprinzen von Sachsen-Coburg-Saalfeld. Dort war er vor allem mit der Verwaltung der Schulden befasst, die der kleine Hof unablässig anhäufte. Über dieser leidigen Pflicht und dem verlogenen Hofleben, das ihm nicht behagte, wurde Thümmel, den seine Zeitgenossen durchweg als liebenswürdigen und heiteren Menschen schildern, schwermütig. Als Heilmittel dagegen unternahm er eine ausgedehnte Reise durch Frankreich. Die Medizin schlug auch an. Indessen fand seine Karriere, teils durch Intrigen gegen ihn, teils selbstverschuldet, ein jähes Ende. Thümmel, der sich an einen aufwendigen Lebensstil gewöhnt hatte, musste Geld verdienen. Zudem stürzten ihn der Tod seiner Frau und seiner Stieftochter abermals in eine tiefe Depression. Diesmal wählte er die Literatur als Ausweg. Mit über fünfzig Jahren nahm Moritz August von Thümmel den Roman in Angriff, der ihn zum meistgelesenen Schriftsteller Deutschlands machen sollte: »Reise in die mittäglichen Provinzen von Frankreich«. Über vierzehn Jahre, von 1791 bis 1805, ein Jahr nach seinem Tod, ist Band um Band erschienen, am Schluss waren es zehn. Die Leser waren hingerissen, die Dichterkollegen blass vor Neid. Friedrich Schiller spendet Thümmel in seiner berühmten Abhandlung »Über naive und sentimentalische Dichtung« ein herrlich vergiftetes Lob: Thümmels Roman werde »ein Lieblingsbuch unserer und aller der Zeiten bleiben, wo man ästhetische Werke bloß schreibt, um zu gefallen, und bloß liest, um sich ein Vergnügen zu machen«. Aber im Ernst: Lohnt es sich heute, Thümmel zu lesen? Die Antwort lautet: unbedingt! Die Handlung ist rasch nacherzählt. Wie bei Laurence Sternes »Sentimental Journey« besteht sie darin, dass ein reicher Müßiggänger nach Frankreich reist, um, wie Thümmel, seine Depressionen loszuwerden. Doch der Roman ist nicht einfach eine literarisierte Autobiografie. Thümmels hypochondrischer Epikureer heißt Wilhelm und kommt aus Berlin. In Südfrankreich erlebt er allerlei galante Abenteuer (wobei es nie zum Äußersten kommt). Ansonsten bordet der Roman über von Abschweifungen aller Art, Anekdoten, Gedichten: allerfeinstes Rokoko. Thümmels Prosa ist weitschweifig, aber nie langweilig oder oberflächlich, sondern geistreich und elegant. »Um einen Frühlingsvormittag zu beschreiben, brauchte man eigentlich ein Leben«, heißt es in der »Reise«. In der Tat: Besonders Thümmels Naturbeschreibungen sind zum Niederknien. Schiller hatte recht: Es bereitet einfach Vergnügen, das zu lesen. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Zugegeben, die »Reise« hat ihre Längen, und der Leser muss sich erst an das Tempo und den Humor des späten 18. Jahrhunderts gewöhnen. Aber wer sich darauf einlässt, wird die wohltuende Wirkung bald spüren. Denn dieser Roman ist ein veritables Antidepressivum. Gewiss nimmt seine Lektüre viel Zeit in Anspruch, aber eben das macht sie in unserer durchökonomisierten Gegenwart zu einem widerständigen, geradezu anarchischen Akt. Wer Thümmel liest, wird ein freierer Mensch. Erhältlich ist dieser wundersame Roman leider nur antiquarisch, und das meist in gekürzter Form. Schadet aber nichts. Wir empfehlen die schöne dreibändige Ausgabe aus Otto Julius Bierbaums Reihe »Die Bücher der Abtei Thelem«. Olaf Schmidt


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