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Najet Adouani: Meerwüste

Najet Adouani: Meerwüste

Najet Adouani: Meerwüste. 178 S.

Najet Adouani ist angriffslustig, so wie schon ihr Nachname verheißt, der mit »aggressiv« übersetzt werden kann. Doch sie ist auch sanft, sie ist melancholisch, ein »fröhliches Mädchen von gestern«, das in der Öffentlichkeit wie in der Familie Höhenflüge und schmerzliche Abstürze erleben musste. Die heute 63-jährige Schriftstellerin kommt aus Tunesien und hat sich von dort aus »aufgemacht / mit den Augen eines Falken / mit den Flügeln einer Taube / mit einer Kehle aus Messing«. Ihre Gedichte berichten von den Entdeckungen ihrer ungestümen Lebensreise, gleichermaßen einfühlsam und schonungslos. Dabei flüstern ihr die Dschinn keine mustergültigen Verse zu, wie sie ihre Vorfahren mehr als tausend Jahre lang aus Zeitvertreib, zum Broterwerb, zur emotionalen Selbstdarstellung oder klugen Unterweisung ersonnen haben. Nein, im Schwebezustand zwischen Halt bietender Tradition und der sich überschlagenden Moderne entstehen originelle, aufrüttelnde Texte von beeindruckender Klarheit. Adouani malt Bilder von der zypriotischen »Meerwüste«, spürt auf den Schultern die Sonne, die »Faden um Faden hinab zu Penelopes Spindel« lässt, entdeckt in den Augen eines blutjungen Djihadisten »die verheißenen Jungfrauen und Krüge voll Wein« und zieht durch Weimar, wo keiner ihr »einen guten Morgen wünscht … außer Goethe«. Leila Chammaa, renommierte Übersetzerin arabischer Literatur, hat die Gedichte kompetent auf Deutsch nachempfunden und wenn nötig in kurzen Fußnoten erläutert. Dabei präsentieren sich die mit einer neuen Stimme wiedergeborenen Verse so, als stammten sie direkt aus dem Munde jener Spaziergängerin zwischen den Welten. Und so kann man mit der Dichterin und ihrer Übersetzerin sekundenschnell gewaltige Zeiträume und Sphären durchwandern, jeden Tag aufs Neue – und sei es immer nur für ein paar Minuten. Kristina Stock


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