anzeige
anzeige
Nanae Aoyama: Bruchstücke

Nanae Aoyama: Bruchstücke

Nanae Aoyama: Bruchstücke. 157 S.

Der Japaner gilt ja als überaus höflich, in jeder Lebenslage wahrt er lächelnd die Contenance. Wie es drinnen aussieht: Frage nicht. Sagen wir so: Gewisse Gewohnheiten und Phänomene wie der Verzehr rohen Dorsch-Spermas, sprechende Toiletten mit Warmluftgebläse oder der Superheldenfilm »Hentai Kamen«, in dem sich ein junger Mann einen Damenslip über den Kopf zieht und seine Gegner besiegt, indem er ihnen sein Hinterteil ins Antlitz reibt, legen schon die Vermutung nahe, dass der alte Doktor Freud seine helle Freude gehabt hätte an den Töchtern und Söhnen Nippons. Wir wollen das an dieser Stelle nicht vertiefen, jedenfalls brodelt es gewaltig unter der gleichmütigen Oberfläche. Und genau darum geht es in Nanae Aoyamas Erzählband »Bruchstücke«, der gerade in dem auf japanische Gegenwartsliteratur spezialisierten Cass Verlag erschienen ist. In allen drei Erzählungen geht es um unterdrückte Ängste und Leidenschaften, das Missverhältnis zwischen ursprünglichem Lebensentwurf und real existierendem Alltag. In der Titelgeschichte »Bruchstücke« ist die Studentin Kiriko dazu verdammt, ihren Vater auf einer Kaffeefahrt durch die Berge zu begleiten; alle anderen Familienmitglieder haben sich mit fadenscheinigen Vorwänden davor gedrückt. Im Laufe der Bustour lernt Kiriko jedoch ihren Vater, den sie bislang nur als unscheinbaren und wortkargen Langweiler wahrgenommen hat, von einer anderen Seite kennen. »Farinas Zimmer« handelt von einer verlorenen Liebe. Eigentlich kann sich Ryosuke nicht beklagen: Er hat einen guten Job, ist im Begriff, Hanako zu heiraten, die nicht nur blendend aussieht, sondern auch gut kocht. Nur seine Ex-Freundin Farina geht ihm nicht aus dem Kopf. Dabei war sie weder hübsch noch ordentlich, dafür exzentrisch und reichlich unberechenbar, zum Beispiel hat sie ihn aus unerfindlichen Gründen verlassen. So richtig begreift Ich-Erzähler Ryosuke aber nicht, was eigentlich mit ihm los ist, und sieht beklommen seiner Spießerehe mit Hanako entgegen. Sehr geordnet verläuft auch das Leben des jungen kinderlosen Ehepaars Kogure in »Wildkatzen«, der letzten und witzigsten Erzählung des Bandes – bis die Teenager-Nichte Shiori sie besuchen kommt, um sich einige Tokyoter Universitäten anzusehen. Obwohl sich Tante Kyoto sehr um sie bemüht, bleibt Shiori merkwürdig verschlossen und geht ihr gehörig auf die Nerven. Nachdem zum Beispiel Kyoto allein eine Dreiviertelstunde in der Schlange vor den Fahrstühlen des Tokyo Tower angestanden hat, weigert sich Shiori einzusteigen, weil sie angeblich an Höhenangst leidet. Später erfährt Kyoto, dass es in Begleitung ihres Ehemanns Akihito dem Luder gar nicht so schwer fiel, seine Ängste zu überwinden: »Naja, am Anfang hat sie schon ganz schön gezittert, aber als wir erst mal oben waren, hat sie’s wider Erwarten genossen, glaub ich.« Keine der drei Erzählungen weist eine überbordende Handlung auf, und dennoch ist jede auf ihre eigene, mehr oder weniger subtile, Weise hochspannend. Ihre Heldinnen und Helden führen ein bestürzend philiströses Leben, in dem sie beflissen die Erwartungen erfüllen, die die Gesellschaft an sie stellt und die sie von Kindheit an verinnerlicht haben. Aber sie fühlen sich gefangen in dieser Welt und starren auf jeden Riss, der sich auf der Gefängnismauer zeigt und ein wenig Freiheit verspricht. Zu einem wirklichen Ausbruch kommt es aber nie, es bleibt stets bei Andeutungen und Gedankenspielen. Einerseits scheinen sich also die eingangs angedeuteten Japan-Klischees zu bestätigen. Andererseits wird aber auch klar, dass sich die seelischen Befindlichkeiten der Japaner von den unseren im Grunde nicht unterscheiden. Olaf Schmidt


Weitere Empfehlungen