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Oleg Senzow: Leben

Oleg Senzow: Leben

Oleg Senzow: Leben. 112 S.

Wenn ein Filmemacher im Knast sitzt, schreibt er Geschichten. So beginnt Andrej Kurkov das Geleitwort zu »Leben« und er schiebt gleich hinterher, wie misslungen dieser Anfang ist, denn tatsächlich hat Oleg Senzow mit dem Schreiben lange vor der Haft begonnen. Der Künstler, der Ökonomie und Filmregie gelernt hat, wurde 1976 auf der Krim geboren, studierte in Kiew und Moskau, kehrte auf die Krim zurück, wurde erfolgreicher Cybersportler und gründete einen Computerklub sowie eine Filmproduktionsgesellschaft, brachte Filme, Geschichten und einen Roman raus. Er verlor seine ukrainische Staatsbürgerschaft, nachdem die Krim Russland eingegliedert worden war. Als Teil des sogenannten Automaidan, der ukrainische Soldaten mit Vorräten versorgte, die von russischen Kräften blockiert waren, wurde er zusammen mit anderen 2014 wegen Terrorverdachts verhaftet und nach Moskau gebracht. Die im folgenden Jahr ausgesprochene Strafe sah zwanzig Jahre Straflager vor, fortan und bis zur Freilassung nach einem Gefangenenaustausch im letzten Jahr musste sich Semzow in einer Strafkolonie am Polarkreis aufhalten. Die acht kleinen autobiografischen Geschichten erzählen nicht von der Haft und dem langen Hungerstreik – vor dem Aufsehen, das Senzows Prozess und Verurteilung europaweit erregten, mögen sie geradezu lapidar wirken. Das sind sie aber nicht. Schnörkellos berichten sie von den kleinen Versäumnissen des Alltags, von der vergessenen Großmutter, vom nicht mehr beachteten Freund, von falschen Entscheidungen, Schlägen in der Familie und Schlägen in der Schule, von den Leuten auf dem Dorf. Die große Welt ist aus all diesen nicht ergriffenen Gelegenheiten ausgesperrt. Und sie ist doch gerade dort enthalten, wo Zwischenmenschlichkeit und Mut nicht zu gelingen scheinen. Franziska Reif


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