Penelope Mortimer
Bevor der letzte Zug fährt. Aus dem Englischen von Kristine Kress. Zürich: Dörlemann 2023. 225 S., 26 €
Penelope Mortimer.
Eine Frau hat ihre Söhne zum Internat begleitet und ist nebst Einkäufen zurück in ihren Londoner Vorort gefahren. Das Haus ist leer, Tochter Angela winkte soeben von einer wegfahrenden Vespa. Die Hauptfigur gießt sich einen Drink ein und beginnt ein Selbstgespräch.
»Natürlich mussten wir heiraten«, sagt sie. »Vermutlich hätten wir trotzdem glücklich werden können. Aber wir waren es nie. Ich glaube, wir hassen uns.«
Ruth Whiting, 37 Jahre alt, wird langsam verrückt ob ihres Alltags. Sie ist einsam und nur zu sich selbst ehrlich. Das Leben in der Idylle verdammt zur Unfreiheit. Die Männer der Kommune arbeiten in der Londoner City und kommen nur am Wochenende heim, die Kinder wachsen in Internaten auf. Geld und Bewegungsradius der Frauen sind limitiert und überwacht. Die Nachmittage sind länger als die Nächte. Sherry hilft nur mäßig.
Penelope Mortimer schrieb Drehbücher, drei Romane und eine Autobiografie, zog sechs Kinder groß und war zweimal verheiratet. 1958 veröffentlichte sie 40-jährig ihren zweiten Roman unter dem Titel »Daddy’s Gone A-Hunting«, ins Deutsche übertragen von Kristine Kress als »Bevor der letzte Zug fährt«. Aus den Selbstgesprächen Ruths und den Dialogen mit ihrem stets genervten Ehemann, ihrer rebellischen 18-jährigen Tochter und der in Babysprache plappernden Nachbarin entsteht eine albtraumhafte Realität in lieblicher Landschaft. Bittersüß zynisch in modernes Deutsch übertragen, erzählt uns der Roman ein halbes Jahr des Lebens einer Frau, die sich scheinbar aufgegeben hat. Doch Angela wird ungewollt schwanger. Ruth erkennt die Chance, ihrem Kind einen anderen Weg zu ebnen. Sie erwacht. Ein emanzipatorisches Buch, zeitlos und beglückend in seiner Direktheit Anne Hahn