Pilar Quintana
Abgrund. Roman. Aus dem kolumbianischen Spanisch von Mayela Gerhardt. Berlin: Aufbau 2022. 245 S., 22 €
Pilar Quintana.
»Meine Mama sagt, von allen Müttern in der Klasse ist deine die hübscheste.« – Das hört Claudia, die achtjährige Ich-Erzählerin, von ihrer Schulfreundin. Hübsch ist auch der Urwald aus Zimmerpflanzen in der Wohnung von Claudias Eltern, schön sind die
Trompetenbäume, auch wenn Claudias Mutter von deren Blüten Heuschnupfen bekommt, weshalb sie wochenlang im Bett bleibt. Schön sind die Frauen auf den
Zeitschriften, mit deren Lektüre Claudias Mutter sich die Zeit vertreibt. Schön ist Gonzalo, mit dem Claudias Mutter hinter dem Rücken ihres Mannes eine Affäre beginnt. Schön sind die Berge, in denen Claudias Familie den Sommer verbringt, schön ist die hochgiftige Korallenotter, die der Hausverwalter köpft und in den Abgrund wirft. Schön war Claudias Puppe Paulina, ehe auch sie in den Abgrund fiel. Nur – die versierten Lesenden ahnen es bereits – Claudias Vater ist hässlich, »kahl und alt«, und Claudia kommt ganz nach ihm: Sie war »das hässlichste Baby im ganzen Krankenhaus«.
Schönheit ist nur ein Diskurs, den die kolumbianische Autorin Pilar Quintana in ihrem hochkomplexen und spannungsreichen Roman »Abgrund« verhandelt. Die Kraft der Natur und die Brutalität der Architektur ziehen sich durch den Text, die Kluft zwischen Arm und Reich, die Weitergabe familiärer Wunden und vor allem jenes Thema, das Quintana bereits in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman verhandelte: Mutterschaft. Diese Vieldeutigkeit transportiert der spanische Titel ungleich besser: »Los abismos« bezeichnet auch »Kluft« und »Hölle«, »verwirren« und »versinken« stecken darin. Es ist Pilar Quintanas Kunstfertigkeit anzurechnen, dass die Lesenden selbst entscheiden müssen, wer hier versinkt: Claudias Mutter in der Unfähigkeit, ihre Rolle auszufüllen, Claudias Vater im Zwang der Ernährerrolle oder die achtjährige Claudia in einer Kindheit, die ihr keinerlei emotionalen Halt zu bieten vermag. Katharina Bendixen