anzeige
anzeige
Rocko Schamoni: Große Freiheit

Rocko Schamoni: Große Freiheit

Rocko Schamoni: Große Freiheit. 287 S.

Schule, Ausbildung, 45 Jahre in ein und derselben Firma angestellt sein, Rente – das Berufsleben unserer Eltern und Großeltern. Denkste. Wolli Köhler hat Uran im Erzgebirge abgebaut, war Volkspolizist in Berlin, Junge für alles im Zirkus, obdachlos in Hamburg – und schließlich Kiezgröße in St. Pauli. Im St. Liederlich »der fragwürdigen Existenzen« verkaufte er Alkohol und Drogen, betrieb erst ein Sexkino und dann den ersten »kommunistischen Puff der Welt« – in den Sechzigern, in der piefigen Bonner Republik und vor allem: in echt. Manche kennen ihn aus Hubert Fichtes »Wolli Indienfahrer«, hoffentlich ein paar mehr lernen ihn jetzt durch Rocko Schamonis neue Romantrilogie kennen, für die er den alten Wolli bis zu seinem Tod 2017 interviewte, stunden-, tage-, jahrelang. Im ersten Teil ist darin nun alles ganz herrlich kiezig und zeitkoloriert. Wir erfahren, was Loddel oder Tillen sind, und man heißt Onkel, Maulwurf oder Chinesen-Babs, geht in den »Dreitittenkrug« und spornt die Live-Band an: »Macht Schau! Macht Schau!« So weit, so Herr Lehmann. Zumal auch Schamoni die Zeitgeschichte wie nebenbei mitlaufen lässt: die ersten Auftritte der Beatles (»Die sind nach ’ner Woche wieder weg vom Fenster, das sag ich dir!«), der Bau der Berliner Mauer und die Einführung der Antibabypille – alles da, aber nur am Rande. Während der Hamburger Sturmflut 1962 redet man über den neuen Innensenator Schmitz, nein: »Der heißt Schmidt. Hartmut Schmidt heißt der.« Sie kennen ihn, er wurde später ja Bundeskanzler. Brutaler und freizügig gehts zu »im Milieu«. Vor allem aber lernen wir das St. Liederlich der sechziger Jahre als einen Ort kennen, an dem die Zeit der alten Männer vorbei und »Große Freiheit« nicht nur ein Straßenname ist. Hier stehen die, die »in der Gesellschaft immer außen vor bleiben«, im Zentrum. Ob da jemand mit einer Frau oder einem Mann zusammenlebt, ist genauso selbstverständlich wie das Crossdressing der »Fummeltanten«. Dass deswegen nicht alles heile Welt ist, zeigt die Cartacala am deutlichsten: Der glatzköpfige Otto Habermas wird zu ebenjener Kunstfigur, regelmäßig auf der Bühne, dann aber auch privat, tagelang im Vogelkostüm auf einem Baum sitzend und rumbrüllend. Mittendrin steigt Wolli in St. Pauli auf und St. Pauli in Wolli, er liest Schiller, Brentano und Novalis, schreibt Gedichte und ein Theaterstück, treibt durch die Nächte und Räusche. Und am Nebentisch hockt Hubert Fichte und macht sich Notizen.  Benjamin Heine


Weitere Empfehlungen