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Herbert Naumann: Todesmarsch 1945 Leipzig – Fojtovice

Herbert Naumann: Todesmarsch 1945 Leipzig – Fojtovice

Herbert Naumann: Todesmarsch 1945 Leipzig – Fojtovice. 256 S.

Steht man heute in der Wodanstraße 40 in Leipzig-Heiterblick, dann sieht man nicht viel mehr als eine schmale Straße, gesäumt von einem jungen Birkenwäldchen. Die Straße endet auf dem ehemaligen Gelände Erla-Maschinenwerke. Heute ist die Industriebrache, auf der während des Zweiten Weltkrieges Flugzeuge hergestellt wurden, nicht viel mehr als der unscheinbare Schauplatz eines wenig bekannten Verbrechens: Zum Werk gehörte das Außenlager Leipzig-Thekla des KZ Buchenwald. Am 13. April 1945 zwang die SS die 2.400 KZ-Häftlinge auf einen mehr als 500 km langen Gewaltmarsch, der nur ein Ziel hatte: den Tod der Zwangsarbeiter. Am Ende leben von ihnen noch knapp 250.  Der Fotograf Herbert Naumann hat auf Basis erhaltener Quellen die Route rekonstruiert und sich 2017 mit seiner analogen Kleinbildkamera auf denselben Weg gemacht. Er will sich »dieser Geschichte künstlerisch« nähern, und überlässt das Berichten vier Überlebenden, die den Marsch in Tagebuchaufzeichnungen festhielten. Es ist ein langsames Lesen, das sich einstellt, denn jeder einzelne Eintrag wiegt schwer in dem, was ihm zugrunde liegt. So schreibt einer der Häftlinge einen Abend vor der Abreise: »Wir erwarten die Alliierten jeden Moment, aber nichts kommt. Wir hoffen auf Morgen: Freitag den 13.« Die ersehnte Befreiung wird verhindert, die SS zwingt die entkräfteten und misshandelten Arbeiter zum Verlassen des Lagers. 28 Tage später: In einem Wald in Tschechien treffen die wenigen Überlebenden vier russische Soldaten. »Es ist unmöglich, die Freude zu beschreiben. Endlich das Fest. Uns verschlägt es die Sprache.« Der Krieg ist seit einem Tag vorüber.  Naumanns doppelt belichtete Schwarz-Weiß-Fotografien schaffen keine Erholung zwischen den Einträgen. Unwirklich erscheinen die abgebildeten Straßen, Feldwege, Dörfer und Wälder. Land- und Ortschaften, die sich übereinanderschieben und zu belegen scheinen, was Naumann schon im Vorwort beschreibt: »Die Aufzeichnungen des Überlebenden Andre Raimbault und seiner Freunde […] machten den Marsch und das Leid der Menschen für mich zwar ›anschaulicher‹ […], ließen mich das Geschehene aber noch weniger begreifen.« Und auch die Fotografien vermitteln sich überlagernde Eindrücke der Ereignisse – »die gesamte Wahrheit« bleibt verborgen. Die Vielschichtigkeit des Leids ist laut Naumann eines mit Sicherheit nicht: nachvollziehbar. Das macht diese Reportage aber nicht weniger erschütternd, stehen die ihr zugrunde liegenden Ereignisse doch als unumstößliche Fakten in Raum und Zeit. Im Nachwort stellt der Pfarrer Christian Dopheide fest, was Naumanns Arbeiten so bedrückend macht: »Die Gleichzeitigkeit von Räumen«. Wir sehen nicht in die Vergangenheit, das Vergangene ist an uns herangerückt.  Naumanns Fotografien, die Tagebücher der Inhaftierten und zahlreiche weitere Schriftstücke sind nun gebündelt im Lehmstedt Verlag erschienen und bilden ein längst fälliges Zeugnis Leipziger Stadtgeschichte. Eigentlich soll der vielfach gelobte Verlag am 11. Mai erneut für seine Arbeiten ausgezeichnet werden: Der sächsische Verlagspreis ist mit 10.000 Euro dotiert. Bis zum Erscheinen dieser Ausgabe ist unklar, ob die Verleihung stattfinden kann.  Linn Penelope Micklitz


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