Das Leipziger Dokfestival feiert großes Jubiläum. Noch bis zum 4. November locken insgesamt über 300 Animations- und Dokumentarfilme ins CineStar, die Passage Kinos und die Cinémathèque – davon sind manche fast schockierend aktuell. KREUZERonline gibt einige Tipps fürs Wochenende.
Wer als eifriger Dokfestival-Besucher zwischen all den Filmvorführungen und Diskussionen noch dazu kommt, die Nachrichten zu verfolgen, kriegt eine Gänsehaut. So erschreckend nah dran ist das Festival an der Realität. Und das ist keine schlichte Formelhaftigkeit, die auf jedes Dokumentarfilmfestival zutrifft.
In seiner Eröffnungsrede am Montag klagte Festivaldirektor Claas Danielsen zum Thema Festivalfinanzen noch schwankend zwischen Ironie und Ernst, dass die Dokfilmwoche und die gesamte Leipziger Kulturlandschaft den Bach runterginge, wenn man hier die Mindestlohnforderung der SPD umsetzen würde, die am Wochenende auf dem Parteitag beschlossen wurde. Trotzdem sieht Kurt Beck seine Partei wieder „nah an den Menschen“. Wo war sie sie eigentlich sonst gewesen, fragt man sich da.
Nah dran war vor allem, wer sich am Donnerstag vom thrillerartigen Dokfilm „Terror’s Advocate“ des Hollywoodstars Barbet Schroeder mitreißen ließ. Denn dort bekam man nicht nur aufgrund der detailreich geschilderten Episoden aus dem Leben des „Terror-Anwalts“ Jacques Vergès, der extremistische Palästinenser, RAF-Mitglieder, Nazis und Miloševic vor Gericht verteidigt hat, eine Gänsehaut. Sondern auch daher, weil man sich an die Urteile im Madrider Terror-Prozess am Mittwoch erinnert fühlte. Die Bombenanschläge am 11. März 2004 auf Madrider Nachverkehrszüge, bei denen 191 Menschen starben, haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Nun wurden 21 Angeklagte verurteilt, sieben jedoch aus Mangel an Beweisen freigesprochen, darunter der angebliche Strippenzieher. Der Film sowie das Urteil des Madrider Gerichtshofs drängen einem die Frage auf, wie viel Recht einem "offensichtlichen" Verbrecher eigentlich zusteht. Mehr noch als das versucht „Terror’s Advocate“ aber in die schillernde Persönlichkeit des Anwalts Jacques Vergès einzudringen. Filmisch zwar wenig innovativ, aber mit ergreifenden Streichern auf der Tonebene und absoluter Hochspannung funktioniert diese Dokumentation wie ein packender Spielfilm und hinterlässt, vielleicht zum Glück, viele offene Fragen. (Wiederholung: Sa 3.11., 20 Uhr, Passage Kinos Universum, Französisch mit engl. UT)
Noch näher dran, so sehr, dass einem fast schwindelig wird, ist der Kurzfilm „Jean Paul“. Er zeigt einen Mann, der an einen Baum gekettet zum Sterben verurteilt ist, weil er von böser Magie besessen sei, so die Dorfbewohner. Todesstrafe nach kamerunischer Art. Am Donnerstag urteilte nun der oberste Gerichtshof in Washington, dass die Giftspritze, mit der in den meisten amerikanischen Staaten die Hinrichtung vollzogen wird, inhuman sei, weil sie keine Schmerzlosigkeit ausschließe. Todesstrafe nach amerikanischer Art. Natürlich zwingt einen „Jean Paul“ zu der Frage, warum der Filmemacher nicht eingreift und dem Sterbenden das Leben rettet. Regisseur Francesco Uboldi nannte nach der Vorführung einen Grund: Die Dorfbewohner hätten ihn selbst dafür gelyncht. Tatsächlich sind die entscheidenden Fragen aber doch, wann und ob ein Dokumentarist überhaupt eingreifen soll und muss. Darauf wird man keine leichte Antwort finden. Vor Augen geführt wird einem aber eine andere Antwort: Todesstrafe ist immer inhuman – ob mit der Giftspritze oder Kette am Baum. Das achtminütige Filmereignis wird gekrönt mit dem anschließenden Langfilm „Rain In My Heart“ über Alkoholiker in einer Suchtklinik, der keineswegs weniger erschüttert. (Wiederholung: Fr 2.11., 16.30 Uhr, CineStar 8)
Das Kontrastprogramm dazu bieten Filme, die ebenfalls nah dran sind – weniger jedoch an Schreckensmeldungen als an Leipzig. Eine echte Überraschung ist „Tanz mit der Zeit“. Darin porträtiert Trevor Peters vier alte Tänzer, die in Heike Hennigs Tanztheaterprojekten an der Oper Leipzig mitwirken. Sie sind zwischen 64 und 80 Jahren alt und für die Stücke „Zeit – tanzen seit 1927“ und „ZeitSprünge“ noch einmal zurück auf die Bühne gekommen. Dort hat der Film auch seine stärksten Momente: im unmittelbaren Tanz dieser vier Persönlichkeiten, die ihre alten Glieder zu Musik wie dem Adagietto aus Mahlers Fünfter bewegen, aber nichts an Ausdrucksstärke verloren haben – im Gegenteil! Genau das wissen Trevor Peters und sein junger Leipziger Koautor Mark Michel eindrucksvoll in Szene zu setzen. Dagegen wirken die anderen Szenen manches Mal träge, in denen die vier Tänzer Einblicke in ihre Biografien geben. Das ist inhaltlich absolut wichtig und auch bewegend, aber künstlerisch zeigt Peters an diesen Stellen wenig Inspiration. Dennoch ist der Film eine wundervolle Reflexion über Kunst, menschliches Miteinander und das Altern – köstlich selbstironisch und sanft berührend. (Wiederholung: So 4.11., 11 Uhr, CineStar 7)
Noch bis zum Sonntag geht das Leipziger Animations- und Dokfestival. Am Freitagabend steigt die lohnende „Nacht des jungen Films. Vor allem die Preisverleihungsshow um 20 Uhr im CineStar 8 verspricht spannend zu werden. Dort wird die Talent-Taube des neuen Nachwuchswettbewerbs „Generation DOK“ verliehen, unterhaltsam diskutiert, und natürlich sind auch Filme zu sehen. Ab 22 Uhr laufen dann in allen vier oberen CineStar-Sälen junge Dokumentar- und Animationsfilme, während ein DJ im Foyer den Klangteppich ausrollt. Besonders lohnend ist das Programm um 22.30 Uhr im CineStar 8 mit dem langen Dokfilm „Drifter“ (die Steigerung von „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“) und mit dem kurzen Dokfilm „Etwas ich“ des gebürtigen Leipzigers Konrad Kästner. Sein Film ist eine eindringliche Beschreibung des Seelenzustandes von Pauline Künzel alias Sidney Nevermind, die junge Sängerin der aufgelösten Leipziger Popband „Etwas“. (Wiederholung: Sa 20 Uhr, Cinémathèque in der naTo, anschl. "Squeegee Bandit")
Zeitgleich läuft im Wintergarten-Saal der Passage Kinos die Premiere von „Der zweite Blick – Social Club Buena Vista“ des Leipzigers Carsten Möller, der auch am Samstag um 20 Uhr im CineStar 5 gezeigt wird. Der Film dürfte und sollte eigentlich jeden Kuba-Fan ins Kino locken, vor allem, wer sich an der süßlichen Nostalgie von Wim Wenders „Buena Vista Social Club“ sattgesehen hat. Möller wollte ursprünglich gar keinen Gegenpol zu Wenders verklärender Perspektive setzen. Wie auch? Er drehte das erste Mal vor neun Jahren, quasi zur selben Zeit wie Wenders. Nun aber ist Möllers Film tatsächlich auch eine Antwort darauf geworden. Denn mehr als die romantischen Kuba-Bilder interessierte Möller die soziale und musikalische Realität des heutigen Stadtteils Buena Vista. Er spürte den Club und die echten alten Mitglieder auf, was Wenders nie gelungen ist, und fing bei einem zweiten Dreh auch die Reaktionen auf das berühmte Musikalbum ein. Schließlich holte er Wenders persönlich vor die Linse, der nun im Film die Frage stellt: „Haben Sie ihn gefunden?“ Weit mehr als das! Ein Film, der vielleicht nicht immer aus einem Guss erscheint, aber vor Temperament nur so sprüht und einfach verdammt nah dran am Leben ist.