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Rezensionen

Aude St-Pierre

Aude St-Pierre

Rediscovering Maria Herz

Rediscovering Maria Herz

Das Label Genuin setzt mit dieser zweiten CD seine Reihe zur Veröffentlichung der Werke von Komponistin Maria Herz (1878–1950) fort. Die kanadische Pianistin Aude St-Pierre widmet sich mit großem Engagement den drei Klavierwerken, die Maria Herz hinterlassen hat und die Flucht und Exil überdauert haben. Schon die Variationen über Chopins Prélude c-Moll, als Opus 1 vor 1914 komponiert, zeigen Maria Herz’ meisterhafte Kompositionstechnik, großen Einfallsreichtum und vor allem tief empfundenen Ausdruck. Auch ihre zwölf Valses/Ländler Opus 2 sind zauberhafte Charakterstücke – ebenfalls in der Tonsprache der Romantik, wunderbar farbig und ausdrucksstark, von Aude St-Pierre mit Verve interpretiert. 1922 entstand die grandiose Sonate f-Moll, deren Tonsprache deutlich moderner ist. Wie aus einem Guss der kraftvolle erste Satz, auch die drei folgenden Sätze bezwingen in ihrer packenden Charakteristik nicht zuletzt durch die – für Maria Herz so bezeichnende – perfekte Balance von Inhalt und Form. Maria Herz flüchtete 1934 aus Deutschland; im Exil in England und später in den USA komponierte sie nicht mehr. 1939 wandte sie sich an Vladimir Horowitz, der sich leider ihrer Klavierstücke nicht annahm. Dass ihre Werke jetzt veröffentlicht und damit hoffentlich bekannt gemacht werden, ist also umso mehr ein großes Glück. Silke Peterson

Public Service Broadcasting

Public Service Broadcasting

The Last Flight

The Last Flight

Historische Tonaufnahmen untermalt mit instrumentaler Gitarrenmusik – klingt nicht unbedingt nach einem musikalischen Erfolgsrezept, funktioniert bei der Londoner Band Public Service Broadcasting aber überraschenderweise ziemlich gut. Bereits im ersten Album »Inform – Educate – Entertain« untermalte die Band verschiedene historische Ereignisse mit ihrem atmosphärischen Art-Rock: von der Erfindung des Farbfernsehens bis zur ersten erfolgreichen Besteigung des Mount Everest. Um ihren popmusikalischen Geschichtsunterricht authentisch rüberzubringen, verzichtet die Gruppe dabei weitestgehend auf Gesang und verwendet stattdessen vor allem alte Tonaufnahmen aus verschiedenen Filmarchiven. Weil das Ganze wider alle Erwartungen ziemlich gut ankam, ist die Band diesem Konzept dann auch treu geblieben. So auch auf »The Last Flight«, ihrem mittlerweile fünften Album. Das erzählt die Geschichte der US-amerikanischen Flugpionierin Amelia Earhart, die als erste Frau alleine den Atlantik und Pazifik überquerte, bevor sie bei einer geplanten Erdumrundung spurlos verschwand und für tot erklärt wurde. Instrumental durchaus vielschichtig zwischen sphärischen Gitarrenwänden, opulenten Streichern und hektischen Synthesizer-Arpeggios kreieren Public Service Broadcasting einen cineastisch anmutenden Histotainment-Post-Rock-Hybriden. Für das Bestehen der nächsten Geschichtsklausur dürfte das zwar nicht reichen, bringt einem aber die vor fast 90 Jahren verstorbene Protagonistin mit ihren Leidenschaften und ihrem Draufgängertum auf jeden Fall näher. Dafür, dass die Platte neben dokumentarischem Wert auch noch einiges an Pop-Appeal besitzt, sorgen unter anderem Gesangseinlagen von Gästen wie Andreya Casablanca (Gurr) oder Kate Stables (This is the Kit). Yannic Köhler

Fat Dog

Fat Dog

Woof

Woof

Wie machen die das? Die Welle vielversprechender frischer Bands aus Großbritannien reißt einfach nicht ab. Da braucht es schlicht keine Reunion von Oasis, geschweige denn ein neues Album, wenn der stete Nachschub an Neuem doch viel spannender ist. Schon Radiolegende John Peel wusste: Das Leben ist zu kurz für alte Musik. Schmelztiegel ist dabei seit einigen Jahren der Süden von London. Hier fanden sich auch Fat Dog zusammen und fühlen sich trotzdem keiner Szene zugehörig. Vielmehr finden sie ihre Nische irgendwo zwischen Prodigy, Underworld, Fontaines DC und Big Special: Sprechgesang und Beats und eine unbändige Energie, die sich im Lockdown aufgestaut hat. Der Ravegestus, den sie leben, ist dabei klar verortet in den Neunzigern, gekreuzt mit Gabba und der Partypower von Klezmer und Ska. Das ist breitbeinig, rotzig und höchst infektiös. Die Energie ihrer Live-Auftritte traf von Anfang an auf ein ausgehungertes Publikum. Das dadurch entstandene Momentum brachte ihnen eine erste, von James Ford (Blur, Depeche Mode) produzierte EP ein und schließlich den Plattenvertrag beim traditionsreichen Label Domino. Das Debüt erfüllt nun alle Erwartungen, ist dick aufgetragen und sprengt selbstbewusst Geschmacks- und Genregrenzen. 35 Minuten Ekstase. Nach diesen ersten, atemlosen neun Stücken darf man höchst gespannt sein, wohin die Reise geht. Hoffentlich bald auch wieder auf unsere Bühnen. Lars Tunçay

Die Nerven

Die Nerven

Wir waren hier

Wir waren hier

Die Gitarren raunen, das Schlagzeug kracht und der Bass brodelt – Die Nerven wuchten ihr neues – und sicher nicht letztes – Album »Wir waren hier« in die Welt. »Auf der Flucht vor der Wirklichkeit ist mir kein Weg zu weit«, heißt es im ersten Song. Die Zeile klingt energisch nach Eskapismus und genau das markiert auch die Stimmung, die sich durch den überwiegenden Teil der Platte zieht. Verglichen mit ihren Vorgängerwerken wirkt die Musik weniger konfrontativ, obgleich die Gruppe aus Julian Knoth, Kevin Kuhn und Max Rieger nichts an ihrer klangvollen Kraft verloren hat. Besonders eindrücklich wirbelt der Titeltrack eingängige Gitarrenmelodien auf, steigert sich in die Energie der Basstöne und wallenden Drums hinein, um in einem brachialen, mitreißenden Rocksong zu kulminieren. Dass die Tonspuren der einzelnen Instrumente dabei nicht verschwimmen, sondern klar und präsent zu hören sind (Produktion und Mix: Max Rieger), lädt einmal mehr dazu ein, das Album wieder und wieder neu zu hören. Nachdem die Musik der Band zu ausgereift für den Genrebegriff Punk erscheint, gilt sie als das exemplarische Beispiel für gegenwärtigen, deutschsprachigen Indierock. Die Zeit kürte die Nerven einst zur »am miesesten gelaunten Rockband«, der Standard bezeichnete sie als »das beste deutsche Trio seit Trio«. Mit ihrem sechsten Studioalbum setzen sie sich nun ihr eigenes, gewichtiges Denkmal – warum nicht. Claudia Helmert

Various Artists

Various Artists

Das schöne Leben des Herrn K.

Das schöne Leben des Herrn K.

Der Schlager hat wahrlich schon bessere Tage erlebt. Während heute Andrea Berg und Florian Silbereisen über den Bildschirm flimmern, erinnern sich die betagteren Schlagerästheten von einst an die goldenen Zeiten zurück, in denen Stars wie Hildegard Knef (in der BRD) oder Manfred Krug (in der DDR) die Hitparaden dominierten. Längst vergessen sind sie, rufen sie sodann verbittert aus, während sie sich in der wohligen Kulturpessimismus-Suppe suhlen. Doch so oft sie recht behalten mögen, in diesem Punkt liegen sie falsch. Beweis gefällig? Die neue Compilation »Das schöne Leben des Herrn K.«, die Neuinterpretationen von Manne-Krug-Evergreens bereithält und von Florian Sievers aka Das Paradies sowie Albrecht Schrader herausgegeben wurde. Die beiden Musiker vereinen darauf das Who’s-who der hiesigen Indie-Szene, darunter Charlotte Brandi, Masha Qrella, Stefanie Schrank und Albertine Sarges. Die Songs gehen dabei zumeist weit über ein übliches Cover hinaus. Stattdessen werden Stücke wie »Kalt und weiß«, »Niemand liebt dich so wie ich« oder »Um die weite Welt zu sehen« vom Staub ihrer Zeit befreit und erklingen im neuen Soundgewand wie Eigenkompositionen ihrer Interpretinnen. Gleichwohl offenbaren die zwölf Songs, dass Indie und (guter) Schlager am Ende eben doch nicht so weit voneinander entfernt sind, wie es der durchschnittliche Distinktions-Indieboy gerne glauben möchte. Vielleicht wird er mit dieser Compilation darüber hinwegkommen. Luca Glenzer

Suki Waterhouse

Suki Waterhouse

Memoir of a Sparklemuffin

Memoir of a Sparklemuffin

Die in London geborene Suki Waterhouse hat augenscheinlich jede Menge Energie. Mit 16 Jahren wurde sie als Model entdeckt und warb in Kampagnen etwa für H & M und Pepe Jeans. Drei Jahre später begann sie ihre Karriere als Schauspielerin und war unter anderem in »Daisy Jones & the Six« zu sehen.2022 folgte ihr Albumdebüt als Musikerin auf dem namhaften Indie-Label Sub Pop. »Memoir of a Sparklemuffin« ist nun ihr zweiter Longplayer. Auf selbigem wechseln sich krachige Nummern, die schwer an Bands wie Dum Dum Girls und The B-52s erinnern, mit bittersüßen Balladen ab. Alles wird durch die honiggetränkte Stimme von Waterhouse zusammengehalten. Auch Vorbilder wie Camera Obscura und The Raveonettes klingen hierauf angenehm durch. Ausgeholfen haben zudem ein paar Prominente im Indie-Kosmos, unter anderem Greg Gonzalez von Cigarettes After Sex und Jonathan Rado von Foxygen. »Memoir of a Sparklemuffin« ist lupenreiner Breitwand-Pop, der ein großes, heterogenes Publikum ansprechen dürfte, da Waterhouse hier der perfekte Brückenschlag zwischen Underground und Mainstream gelingt. Kay Engelhardt

Ätna

Ätna

Lucky Dancer

Lucky Dancer

Wie eine gut geschriebene Kurzgeschichte verliert das dritte Studioalbum des Dresdner Duos Ätna keine Zeit mit einer Exposition: Ein knackiger Percussion-Part, eine Stimme, die kurz wie eine Schallplatte hängt – und schon nach sieben Sekunden entsteht das Gefühl, im ersten Refrain des Albums zu sein. Das Streichorchester klingt episch, wie sich das gehört, und die Stimme schraubt sich in hymnische Höhen. Dass mit dem Lied »My Fist high« auch noch des Freiheitskampfs iranischer Frauen gedacht wird, gibt den Ton und die Richtung des Albums vor: Texte zum Nachdenklich-aus-dem-Fenster-Starren, Musik für die Diskothek am Ende der Zeit. Sphärisch oszillieren die Klänge, verspielt treiben die Basslines, zwischendurch knurpsen Schritte durch den Waldboden in die Ohren. Von lediglich melodiös aufgepeppter elektronischer Tanzmusik ist »Lucky Dancer« so weit entfernt wie ein lauwarmer Drückkannenkaffee von einem frisch gebrühten italienischen Espresso. Hier und da hätte etwas weniger Autotune Inéz Schaefers Gesang gutgetan, doch dieser Eindruck tut dem Gesamterlebnis keinen Abbruch. Das letzte Lied »All that I am« geht musikalisch und inhaltlich noch einmal in die Vollen: Es entstand für das Me-Too-Theaterstück »Noch wach?« am Hamburger Thalia-Theater und behandelt wie ebenjenes die leider immer noch meist oberflächlichen Bewertungsmechanismen der Gesellschaft und die Selbstliebe als möglichen Umgang damit. Somit endet diese Kurzgeschichte ähnlich gesellschaftlich relevant und musikalisch hymnisch, wie sie eine knappe halbe Stunde zuvor begann. Martin Burkert

Jan Gerdes

Jan Gerdes

East-West-Central-South

East-West-Central-South

Mit seinem neuesten Album stellt Jan Gerdes eine persönliche Auswahl afrikanischer zeitgenössischer Klaviermusik aus dem Zeitraum 1987–2022 vor – die im Kontext westeuropäisch-amerikanisch geprägter Neuer Musik durchweg vertraut und recht traditionsbewusst wirken. Deren sechs Komponistinnen und Komponisten stammen aus Südafrika, Äthiopien, Nigeria und dem Kongo. Den meisten Klavierstücken liegt dabei eine klangorientierte, postimpressionistische Haltung zu Grunde. Umso mehr freut sich der Hörer an punktuell aufleuchtenden individuellen Seitenwegen, musikalischen Randbemerkungen, Strukturen und besonderen Rhythmen. Clare Lovedays (*1967) erste Johannesburg-Etüde eröffnet die Platte dabei recht eigenwillig, mit rauen, dichten Akkordmustern, die sich – nach immer mehr Raum greifend – energetisch und irregulär pulsierend über die gesamte Klaviatur ausdehnen, während sich Lovedays kontemplativere Etüde Nr. 2 eher mit Nachklängen und Resonanzen beschäftigt. Atmosphärisch sind auch die drei Stücke »Schau-fe(r)n-ster« von Andile Khumalo (*1978), denen man die klangorientierte Prägung durch Komponisten wie Salvatore Sciarrino oder Tristan Murail anhört, die Jan Gerdes nuancenreich auslotet. Mit Chidi Obijiako (*1990) durchwandert man bei »A Walk in a misty Morning« verschiedene unerwartet auftauchende Situationen in einer Stadtlandschaft – teils klanglich, manchmal eher rhythmisch grundierte Bilder. Den fünf charaktervollen Miniaturen von Ezra Abate Yimam (*1961) liegt ein nahezu ungebrochen romantischer Gestus zugrunde. Jan Gerdes stellt das Repertoire mit viel Sinn für Charakter, Klangfarbe und die individuellen Besonderheiten jeder einzelnen Komposition vor. Anja Kleinmichel

Brigitte calls me Baby

Brigitte calls me Baby

The Future is our Way out

The Future is our Way out

Angeblich geht der Name der fünfköpfigen Band aus Chicago auf einen Briefwechsel des jugendlichen Wes Leavins mit Leinwandgöttin Brigitte Bardot zurück. Das passt ebenso zum großen Narrativ wie die Beteiligung des Sängers am Musical »Million Dollar Quartet«, in dem es um das Treffen zwischen Elvis, Johnny Cash, Jerry Lee Lewis und Carl Perkins 1956 in einem Studio geht. Mit dem Musical ging Leavins sieben Monate auf Tour und lernte Dave Cobb kennen, neunfach Grammy-prämierter Produzent. Cobb gewann Leavins für den Soundtrack des Films »Elvis« von Baz Luhrmann und produzierte schließlich auch das Debüt von Brigitte calls me Baby, der Band die Leavins mit seinen Mitstreitern in Chicago gegründet hatte. Eine erste EP erschien bereits im Herbst letzten Jahres; wie die übrigen nun auf »The Future is our Way out« versammelten Stücke im legendären RCA-Studio in Nashville aufgenommen. In ihren Songs verbinden die fünf die üppige Romantik des Pop aus der Mitte des Jahrhunderts mit der frenetischen Energie und Intensität des Indierocks der Jahrtausendwende. Cobb lässt der Musik Luft. Da bleibt mal eine Gitarre, mal ein Schlagzeugrhythmus stehen. Über allem schwebt der hymnische Gesang von Leavins, dem Crooner, dessen Timbre an Morrissey erinnert, aber mehr noch an Elvis Presley und Roy Orbison, mit deren Musik er aufwuchs, ebenso wie mit den Songs der New Romantics. All das vermischt das Quintett zu einer nicht wirklich homogenen, aber stets melodiefixierten Melange. Da ist für jeden Pop-Aficionado was dabei. Und nicht zuletzt für alle Smiths-Fans, die sich zu Recht von Morrissey abgewandt haben. Lars Tunçay

Ensemble Ambidexter

Ensemble Ambidexter

Ensemble Ambidexter

Ensemble Ambidexter

Die ersten Takte von »T. Wave« wirken unkonventionell, doch schon bald entfaltet sich eine Klangwelt, die zwischen Jazz und zeitgenössischer Klassik eine eindrucksvolle Symbiose eingeht. Mit seinem Debütalbum bietet das achtköpfige Ensemble Ambidexter einen reizvollen Spagat zwischen den zwei Genres. Die Dramaturgie des Albums folgt einem subtilen Spannungsbogen, der die Hörenden mal sanft, mal kraftvoll durch unterschiedliche Stimmungen leitet. Jazz und Klassik treten zuweilen als ebenbürtige Partner auf, die sich gegenseitig bereichern und inspirieren. Gelegentlich überlässt einer dem anderen das Feld. Die Musikerinnen und Musiker verweben jazzige Elemente mit klassischen Strukturen, die sich nahtlos ergänzen und zu einem harmonischen Ganzen verschmelzen. So entsteht ein Klangteppich, der zugleich vertraut und neu wirkt, der zum Träumen einlädt und durch seine Vielschichtigkeit fesselt. Das Album ist eine Reise durch zwei musikalische Welten, die auf beeindruckende Weise zusammengeführt werden. Ein Debüt, das mit jedem Hören an Tiefe gewinnt und Lust auf mehr macht. Isabella Guzy

Ghost Dubs

Ghost Dubs

Damaged

Damaged

Dub hat per se etwas Raum Schaffendes, wenn die Elemente in Hall fallen oder die Delays zwischen Talwänden fliegen. Die massiven und zugleich skelettierten Geisterdubs von Michael Fiedler – der auf mehr als zwanzig Jahre Produzenten-Sein blicken kann und zuletzt vor allem als Jah Schulz Respekt sammelte – rollen dabei schon dem Namen nach im vibrierenden Dunklen und walzen über eine verfinstert karge, anscheinend schwer beschädigte Landschaft. Dabei treffen die abstrakteren Momente der letzten Jah-Schulz-LPs auf die minimalistischen Soundscapes, die er unter bürgerlichem Namen veröffentlicht – verfeinert mit urbanen Dub-Ästhetiken aus der Hardwax-Schule: Chain Reaction, Basic Channel, Rhythm & Sound oder Pole aka Stefan Betke, der hier auch gemastert hat. Gekrönt wird das Ganze von jener Bass-brutalen Unerbittlichkeit und klanglichen Schärfe, die von Pressure-Produkten erwartet werden darf, ganz im sensualistischen Sinne der Hardcore-Attitude des Label-Masterminds Kevin Martin aka The Bug. Dystopie-Dance der Saison! Alexander Pehlemann

Chime School

Chime School

The Boy who ran the Paisley Hotel

The Boy who ran the Paisley Hotel

Andy Pastalaniec ist das Mastermind hinter dem Projekt Chime School. Im zarten Alter von vier Jahren machte er bereits mit sichtlichem Vergnügen Tanzschritte zu Motown-Songs, wie ihm seine Eltern kürzlich auf Filmmaterial zeigten. Definitiv kein schlechter Start in die Welt der Musik. Ein paar Jahrzehnte später haben es ihm eher britische Bands der späten Achtziger und frühen Neunziger angetan: Orange Juice, Talulah Gosh und Teenage Fanclub sind gute Adressen im Chime-School-Kosmos, was bereits das gleichnamige Debüt klangvoll unter Beweis stellte. »The Boy who ran the Paisley Hotel« ist nun die konsequente Fortsetzung des Erstlings. Wieder springen uns zuckersüße Melodien und flirrende Gitarren entgegen. An allen Ecken und Enden der Platte gibt es kleine, feine Details zu entdecken. Pastalaniec ist im positiven Sinne ein Kontrollfreak. Mit seiner Erfahrung als DJ, Radiomoderator und Toningenieur in Los Angeles war es eine lehrreiche Herausforderung für ihn, auch das zweite Album im Alleingang aufzunehmen und zu produzieren. Und selbst wenn ein Song »(I hate) The Summer Sun« heißt, lassen wir uns nicht beirren und genießen den sonnengetränkten Sound dieses Albums in vollen Zügen. Kay Engelhardt

Noga Erez

Noga Erez

The Vandalist

The Vandalist

Wer kennt es nicht? Es ist ein sommerlicher Sonntagmorgen, ziellos begibt man sich auf die Straße und plötzlich ist sie da, die noble Verschenkekiste, die der gute Nachbar (oder bitte noch lieber die gute Nachbarin) hingestellt hat. Manchmal findet man heiße Sachen darin und manchmal eher die Schande alter Unterhosen. Nach diesem Prinzip kann man sich dem dritten Album der israelischen Künstlerin Noga Erez annähern, das am 20. September bei Atlantic Records erscheint. Es wird streng davon ausgegangen, dass Erez für die Kreation von »The Vandalist« eine ganze Packung Musikkekse verschlang. Nostalgie-high vermischt sie Klanglandschaften aus Old-School-Hip-Hop der neunziger Jahre und energetischem Zweitausender-Pop mit einer Portion palmenfesten Reggaetons, ihrer makellosen Rap-Kunst und einem Gesang, der frei und teils überambitioniert zwischen Billie Eilish und Adele changiert. Klingt nach viel? Stimmt, es ist leider auch zu viel, so viel, dass man keine Kohäsion zwischen den 16 Songs der Scheibe feststellen kann. Erst das letzte Stück »Oh thank you« offenbart uns so etwas wie ein Konzept des anspielungsreichen Albums: Da nennt Erez pausenlos zwei Minuten lang in Klavierbegleitung ihre Einflüsse beim Namen: von Massive Attack, Eminem und Christina Aguilera, über Tarantino, Ringo Starr und Nina Simone bis hin zu Kendrick Lamar, Snoop Dogg, Britney, Cardi B, Kelis … Die Liste ist lang. Bei der Zusammentragung solcher Vielfalt kann es nicht wundern, dass manches feurig wirkt und manches eben nicht – so, wie bei den Verschenkekisten ist es ein Fifty-fifty-Geschäft. Libia Caballero-Bastidas

International Music

International Music

Endless Rüttenscheid

Endless Rüttenscheid

Auf dem neuen und dritten Album »Endless Rüttenscheid« von International Music verheißt nicht nur der Titel des ersten Songs Kraut. Natürlich haben die drei Musiker aus Essen auch diesmal wieder alle Musikrichtungen einfließen lassen, die in der Kombination Gitarre, Bass und Schlagzeug spielbar sind. So wechseln sie zwischen Beat & Boogie (Sechziger), Krautrock (Siebziger), New Wave (Achtziger) sowie Shoegaze und Postrock (Neunziger) hin und her. Manchmal passiert das auch innerhalb eines Songs. Die Produktion der zwölf Titel wirkt im Vergleich zu den vorangegangenen Veröffentlichungen reduzierter. Mit abermals Olaf Opal als Produzenten ist ihnen damit eine wundervolle musikalische Konkretisierung auf das Nötigste gelungen. Schon mit ihrem ersten Album »Die besten Jahre« (2018) haben International Music einen ganz eigenen, unverkennbaren Sound entwickelt, dessen konsequente Weiterführung auf »Endless Rüttenscheid« definitiv zu finden ist. So simpel wie genial ist auch das Konzept, alte Songs in einer verfremdeten Version noch mal zu veröffentlichen. Lyrisch arbeiten sie mit humorvoller Melancholie (oder melancholischem Humor). Ihre Texte sind mal »ein heller Funke im Rewe«, mal ein »Liebesformular« an die Möglichkeiten der Sprache. Am liebsten würde man im Proberaum auf der Couch sitzen, um bei der Entstehung dieser Songs dabei zu sein – das wäre wirklich »ein guter Ort, zu bleiben«. Fiona Lehmann

Conny Frischauf

Conny Frischauf

Kenne Keine Töne

Kenne Keine Töne

»Kenne Keine Töne«: Was soll, was möchte uns ein Album dieses Titels sagen? Ist es eine Aufforderung oder eine Zustandsbeschreibung? Beides ist möglich, so wie ohnehin viele Interpretationen möglich sind auf jenem vielgestaltigen Album, das nach »Die Drift« das zweite Solowerk der Wiener Klangkünstlerin Conny Frischauf darstellt. Erneut bewegt sie sich darauf zwischen poppiger Leichtigkeit und elektronischer Experimentierlust. Stimmlich erinnern die Songs wiederholt an die Kölner Sängerin Stefanie Schrank, die kürzlich mit »Schlachtrufe BRD« eine neue EP veröffentlicht hat. Soundästhetisch hingegen geht Frischaufs Ansatz weit darüber hinaus und verweist in seiner Weitläufigkeit eher an Kraut- und Ambient-Pioniere der 1970er Jahre wie Cluster, Brian Eno oder Tangerine Dream. Töne, Geräusche, Laute und Stimmen bilden einen dichten Soundkosmos, der bei geschlossenen Augen einen wahnwitzigen Film hervorzurufen vermag. Das in der Mitte des Albums platzierte Stück »Zwei Minuten« darf mit seiner durchgehenden Stille hingegen als Hommage an John Cages bahnbrechendes Werk »4'33« aus dem Jahr 1952 verstanden werden und fügt sich nahtlos ein in »Kenne Keine Töne«. Luca Glenzer

Autobahns

Autobahns

First LP!

First LP!

Man sollte es von Zeit zu Zeit wiederholen: Punk ist dem Ursprung nach nicht bierselig, machistisch und ideologisch verbohrt. Vielmehr war seine Frühform im New Yorker Underground der mittleren 1970er Jahre oftmals weiblich, queer, verspielt und überaus weird. Weird ist auch der Punk des Leipziger Quintetts Autobahns, das viele der frühen Szeneideale verkörpert und seine Musik konsequenterweise als »Weird Punk« bezeichnet. Nun hat es seine erste LP veröffentlicht. Was aber ist so weird an der Musik? Zum Beispiel die Synthiesounds, die sich mitunter anhören, als habe Supermario höchst persönlich sie auf seinem 8-Bit-Synthie eingespielt. Das Tempo der Songs ist standesgemäß hoch angesiedelt. Einzig »Silver Trauma« und »Loss Of The Rights« bewegen sich im Mid-Tempo-Bereich. Letzteres ist mit vier Minuten Spielzeit zugleich der opulenteste Track des Albums. Der Rest überschreitet nur selten die symbolische Zwei-Minuten-Marke. Keine Frage: »First LP!« macht Spaß. Aber wie es sich für eine gute Punkplatte gehört, kann sie das irre hohe Niveau der schier irren Liveshows von Autobahns nicht halten. Gut so! Denn im Zweifel gehört Punk auf die Bühne, nicht auf den Plattenteller. Luca Glenzer

Die Verlierer

Die Verlierer

Notausgang

Notausgang

Bekümmert, aber niemals träge, so klingt auch die zweite Veröffentlichung der Gruppe Die Verlierer. Für ihren Sound rauschen die Gitarren, ächzen und träumen bisweilen. Die Drums brausen, preschen vorwärts, während der Bass rumort. Die Wut aus ihren Bäuchen fließt direkt in die Lyrics. So tropft der Frust aus den Zeilen des Songs »Notausgang«, wenn es lautstark heißt: »Die Spaltung vorangetrieben, durch Populisten und Kapital …«. Auch mit kraftvollen Parolen klagen sie an, wie im Song »Fick diese Stadt«: »… vertreibt die Menschen, die in ihr wohnen, und verkauft ihre Kultur«. Mal raunt der Gesang von Hannes Berwing (auch Teil der Gruppe Maske), mal erstarkt, mal beschwingt die charismatische Stimme von Oska Wald (auch Musiker der Band Chuckamuck) eindrucksvoll. Die Verlierer geben uns unweigerlich zu verstehen, wie ihre innere Unruhe klingt. Ob die Musiker eingängige Töne anschlagen, die sogleich dazu verleiten, ihre Parolen mitzusingen, oder mit geräuschvollen, experimentellen Klängen beeindrucken: Mit der aktuellen Veröffentlichung denken Die Verlierer ihr energisches Debüt aus dem Jahr 2023 weiter. Sie singen von Veränderung, sie sind laut und beweglich. Keine Frage, die fünfköpfige Band aus Berlin versteht sich auf Brachiales. Sie wuchten ihre Worte in die Welt und dem lauscht man nur zu gern! Claudia Helmert

CHBB

CHBB

CHBB

CHBB

Ein klarer Fall von: endlich! Veröffentlicht ursprünglich 1981 in Eigenedition auf vier Kassetten mit je zwei Songs, limitiert auf fünfzig Stück, hatten die elektronischen Post-Punk-Sounds von CHBB geradezu mythischen Status. Bisher kursierten nur teure Bootlegs diverser Formate. Diese Lücke wird nun mehr als gefüllt, denn diverse Zusatzstücke überverdoppeln den Umfang. Den Nachruhm garantieren dabei zwei Faktoren. Einerseits die scharfkantige Grundcharakteristik eines brachialen Dystopie-Dance stark unterkühlter Attitüde, die am tiefen Horizont bereits Electric Body Music und Industrial-Techno aufflammen lässt. Andererseits die Personen: Denn CHBB steht für Chrislo Haas und Beate Bartel, die von DAF beziehungsweise Mania D. sowie den frühen Einstürzenden Neubauten kamen und ihr Material auf dem Weg zu Liaisons Dangereuses entwickelten. Dort, wo kurz darauf das Konzept um spanisch-französischen Gesang erweitert und so extrem erfolgreich wurde. Alexander Pehlemann

Damian Dalla Torre

Damian Dalla Torre

I Can Feel My Dreams

I Can Feel My Dreams

Mit »I Can Feel My Dreams« legt der in Leipzig beheimatete Multiinstrumentalist Damian Dalla Torre sein zweites Album vor. Während sein vor zwei Jahren erschienenes Debüt »Happy Floating« eine instrumentelle, mitunter opulent instrumentierte Avant-Pop-Platte war, schaltet Dalla Torre auf seinem neuen Werk einen Gang zurück. Beats sucht man darauf vergeblich, stattdessen dominieren sphärische, mitunter paralysierende Soundlandschaften den Klang der Platte, die von einer warmen, zumeist hoffnungsvollen Grundatmosphäre geprägt ist. Bei aller Komplexität von Stücken wie »Santi«, »Acryl« oder dem Titelstück zeugt »I Can Feel My Dreams« durch seine unprätentiöse, zugängliche Soundästhetik von großer künstlerischer Reife. Dass seine musikalischen Wurzeln im Jazz liegen, wird harmonisch dabei immer wieder deutlich. Zugleich weist das Album weit darüber hinaus. Den Großteil des Albums hat Dalla Torre – der bis 2018 in Wien und Leipzig studiert hat – während eines Aufenthaltes in Santiago de Chile komponiert. Mehrere der auf der Platte zu hörenden Instrumente spielte er dabei selbst ein – unter anderem Klarinette, Organelle, Tenorsaxofon und Querflöte. Hinzu kommen zahlreiche Gastauftritte anderer Musikerinnen und Musiker: Darunter befinden sich die italienische Bassistin Ruth Goller, der Sänger und Komponist Finn Ronsdorf, die österreichische Harfenistin Miriam Adefris und viele weitere. Nicht zuletzt ihr Zutun trägt dazu bei, dass »I Can Feel My Dreams« bis dato zu den spannendsten Ambient-Veröffentlichungen dieses Jahres gezählt werden kann. Luca Glenzer

Aaron Frazer

Aaron Frazer

Into The Blue

Into The Blue

Frazers Solo-Debüt »Introducing« von 2021 war eines der besten Neo-Soul-Alben der letzten Jahre und setzte einen sehr hohen Standard in dem Genre. Produziert vom umtriebigen Black-Keys-Mastermind und ausgewiesenen Soul-Experten Dan Auerbach war und ist es ein ausgefeiltes, verspieltes und überaus rundes Meisterwerk. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an den Nachfolger »Into The Blue«. Stimmlich kann Frazer Vorbildern wie Curtis Mayfield und Sam Cooke erneut locker das Wasser reichen und weiß am Mikrofon zu überzeugen. Leider übertreibt er es diesmal mit dem Genre-Surfen. Nach dem Hören des Albums steht Ratlosigkeit: War das ein Italo-Western-Soundtrack? Oder ein Hip-Hop-Album? Oder hat der Autor versehentlich einen Mainstream-Radiosender eingeschaltet? Eigentlich wäre all das, außer dem Letztgenannten, überhaupt kein Problem. In diesem Fall wirken die Songs leider häufig richtungslos und lassen die Pointiertheit des Debüts vermissen. Es bleibt das ungute Gefühl, dass Frazer mit dieser Platte etwas zu bedürftig nach dem ganz großen Publikum schielt. Eine Handvoll Lichtblicke wie der Titeltrack und »Easy To Love« entschädigen die Hörerin und den Hörer dennoch. Und lassen auf das nächste Album hoffen. Kay Engelhardt