anzeige
anzeige

Rezensionen

Eva Klesse Quartett

Eva Klesse Quartett

Stimmen

Stimmen

Die Welt ist laut. So laut, dass leise Stimmen darin zumeist kein Gehör finden und somit untergehen. Anders ist das auf dem neuen Album »Stimmen« des Eva Klesse Quartetts, das sich zum Ziel setzt, das Volumen des Leisen und Unscheinbaren zu erhöhen. Die darauf enthaltenen 13 Stücke drehen sich in drei Kapiteln um Geschichten, die von gesellschaftlichen Umbrüchen, von Widerstand, Träumen und gescheiterten Utopien handeln. Dafür hat die Schlagzeugerin und Bandleaderin ihre Band mit Evgeny Ring (Saxofon), Philip Frischkorn (Piano) und Marc Muellbauer (Bass) um die Gäste Michael Schiefel (Stimme), Zuza Jasinska (Stimme) und Philipp Rumsch (Sound-Design, Electronics) erweitert – und mit ihnen auf Texte von Carolin Emcke, Ellen Hellwig, Yulia Tsvetkova und anderen zurückgegriffen. Diese werden zumeist in Spoken-Word-Manier von Klesse selbst vorgetragen. Musikalisch aufgelockert wird das Album durch wiederholte chorale Passagen sowie charakteristische, aber nie überbordend wirkende Solopassagen. Im Laufe des Albums entwickeln die Stücke so einen Sog, der gleichermaßen beruhigend wie begeisternd wirkt und dem man sich kaum zu entziehen vermag. »Es ist alles geliehen – aus Büchern, aus Erzählungen, aus der Geschichte«, heißt es im eröffnenden »Equatation (Intro)«. Das stimmt! Doch am Ende des Albums transzendieren sich die geliehenen Einzelstimmen, so dass sie nicht mehr separiert voneinander stehen, sondern ein neues, großes Ganzes ergeben. Luca Glenzer

Chartreux

Chartreux

Fatigue

Fatigue

Eingängige Hardcore-Punk-Melodeien, eine Spur Postcore: Der Skateboard-Slam ist hier so unvermeidbar wie überzeugend. Nur kommen Chartreux nicht aus den USA, sondern aus Leipzig. Sound und Kompositionen sind für eine hiesige Garagenpunk-Band ungewöhnlich, gerade in ihrer Genreklarheit. Dass die elf Songs in knapp zwanzig Minuten durchgespielt sind, lässt reines Hardcore-Geballer erwarten. Doch ist die Platte in Tempo und Melodie ab-wechslungsreich gestaltet. Reichlich Hör- und Spielerfahrung klingen hier heraus, die nach dem Prinzip do it yourself die gemeinsamen Kompositionen antrieben. Zumindest scheint die Platte vor allem im Proben- und Jamprozess entstanden zu sein. Ermüdung ( »Fatique«) stellt sich auch beim Schleifenhören nicht ein – auch wenn die Cover-Katze so guckt. Im Gegenteil animiert die Musik zum Mitwippen, zur flotten Fahrradfahrt oder dosierten Roundhouse-Kicks. Diese vier mittelalten Männer will man unbedingt mal hier live sehen. Wenn im Zoro oder im Schuppen das Kondenswasser zu ihrer Musik von der Decke tropft, katapultiert das Erlebnis zurück in die Hochphasen westlicher Garagenpunk-Musik mit weißem Mittelklassetouch. Tobias Prüwer

Sofie Royer

Sofie Royer

Young-Girl forever

Young-Girl forever

Ein eindrucksvolles Popgewand zeigt Sofie Royer, indem sie eingängige wie leichtfüßige Synthesizermelodien verwebt. Die wieder in Wien lebende Künstlerin scheint sich dabei vom Leuchten der achtziger Jahre inspirieren zu lassen, lässt aber auch ihr Interesse an der melancholischen Stimmung von Chansons anklingen. Jene akzentuiert sie mit druckvollen Gitarrensoli, wie etwa im Song »Lights out Baby, Entropy!«, oder verzerrt ihre Stimme entlang der Melodie im Song »Saturdee Nite«. Überhaupt wirkt ihr Pop erst so eindrucksvoll durch die warme Klangfarbe ihrer Stimme. Und mit jener singt sie im Track »Young-Girl (Illusion)«: »Don’t mess with a Girl that wears a Rabbit Fur« und »Left in what could have been nice at first but was just another Illusion«. Sie enthüllt mit starken Symbolen und Bildern Song für Song ihre (selbst-)kritische Haltung zu populärer Musik. Zu ihren französischen, englischen und deutschen Texten inspirierten sie zum einen Interviews mit dem Regisseur Rainer Werner Fassbinder, wesentlicher aber noch die Schrift »Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens«. Letztere veröffentlichte Tiqqun, ein französisches Kollektiv aus Autorinnen und Autoren, die in der gleichnamigen philosophischen Zeitung über Antikapitalismus, Situationismus und Feminismus schreiben – Themen, die auch Royer faszinieren. So spielt »Young-Girl forever« mit Rollenvorstellungen, Konsum und Kunst, klingt vielseitig und bleibt trotz der großen Themen herrlich tanzbar. Claudia Helmert

Roger Robinson

Roger Robinson

Heavy Vibes

Heavy Vibes

Vollendung einer Werk-Trinität. Das bestens bezeichnete »Heavy Vibes« ist das dritte Jahtari-Album des T.-S.-Eliot-Preisträgers Roger Robinson, dessen Selbstbezeichnung »British resident with a Trini sensibility« lautet. Der im UK geborene Sohn von Immigranten aus Trinidad wuchs dann wiederum dort auf und lebt heute teils auch da. Der Bogen wird also von der Karibik über London geschlagen, konkret das subkulturell mythisch aufgeladene Brixton, nach: Connewitz. Denn dort residiert Disrupt, in dessen Homestudio die minimalistisch rollenden Riddims mit Dunkelstimmen-Poesie bestückt wurden. Diese changieren zwischen post-karibischem Sozialkommentar in der Tradition der kämpferischen Dub-Poetry eines Linton Kwesi Johnson und abstrakteren Gefühlsbildern, wie sie Robinson auch in Kooperation mit Kevin »The Bug« Martin bei King Midas Sound performt. Die mit Dub-Effekten verzierten Schwerlast-Vibe-Transporter stammen auf diesem Album allerdings nicht allein aus reiner Disrupt-Produktion, sondern von der weltweiten Jahtari-Family, von Tapes, Naram, Jura Soundsystem, Maffi und Bo Marley. Dadurch bleibt das Geschehen stets abwechslungsreich. Das Cover jedoch kommt direkt aus der Familie, nämlich von Kiki Hitomi im Nachbarzimmer, die wiederum in der Frühphase bei King Midas Sound mitwirkte. Kleine große Welt und gute schwere Vibes! Alexander Pehlemann

Fritzi Ernst

Fritzi Ernst

Jo-Jo

Jo-Jo

Songs über Körperflüssigkeiten, Depressionen und Heartbreak, dazu Humor zwischen Pausenhof und Eck-Kneipe: Mit dieser Mischung erscheinen Schnipo Schranke 2014 auf der Bildfläche. Damit können sich damals – von Feuilleton bis WG-Party – erstaunlich viele Menschen anfreunden (bis auf die Welt natürlich, die hier gleich den popmusikalischen »Ekel-Feminismus« aufziehen sieht). Das alles währt allerdings nur kurz: 2019 ist Schluss und beide Hälften des Duos machen seitdem mit eigenen Projekten weiter. Daniela Reis mit Partner Ente als das Synthpop-Duo Ducks on Drugs und Fritzi Ernst halt einfach als Fritzi Ernst. Die schließt 2021 mit ihrem Solo-Debüt »Keine Termine« dann auch an den bekannten Schnipo-Style an, macht allerdings ihre eigene Version daraus. Körperflüssigkeiten spielen keine so große Rolle mehr, Depressionen und Versagensängste sind aber weiterhin zentrale Themen. Vor allem wird Ernst zur Advokatin des Unperfekten und der Erschöpfung, zelebriert die Lust am Keine-Lust-Haben. Das alles wird nun auch auf »Jo-Jo« weitergeführt. Allerdings ist das zweite Album deutlich optimistischer und wird vom Label als »more lighthearted« angekündigt. Auch das Themenspektrum ist um einige neue Aspekte erweitert: Etwa wird die Trennung von Schnipo Schranke reflektiert und mit »Märchen« gibt es sogar so etwas wie einen handfesten Love-Song. Ansonsten findet man aber auch hier wieder radikal simples Songwriting und Fritzis naiv-unprätentiöse bis stellenweise infantilen Lyrics (etwa, wenn sie von ihren »Freundis« singt, die ihr helfen, oder Textzeilen wie »Upsi Upsi Ups« zum Besten gibt). In den besten Momenten entwickelt das einen ganz eigenen, interessanten Charme, gerät dann aber doch häufig in arg seichtes Fahrwasser und bleibt leider hinter dem äußerst vielversprechenden Vorgänger zurück. Yannic Köhler

Michael Kiwanuka

Michael Kiwanuka

Small Changes

Small Changes

Es sind die kleinen Veränderungen, die Michael Kiwanukas viertes Album so wertvoll machen. Klar, das ist immer noch unverkennbar Kiwanuka, aber der Sound ist reduzierter, zurückhaltender, nicht so groß inszeniert. Seine Stimme wird nicht überlagert, sein Charakter nicht überwältigt vom eigenen Sound. Fünf Jahre Zeit hat sich der Londoner für den Nachfolger vom mit dem Mercury-Prize gekrönten »Kiwanuka« gelassen. Er musste seine eigene Stimme wiederfinden, sagt der 37-Jährige, die Motivation und Inspiration, Musik zu machen. Das Ergebnis wirkt fast beiläufig, dabei aber brillant. Die Melodien saugen sich fest in der Erinnerung, die Stimme ist makellos, die Musik sehr groovebetont. Für den richtigen Klang haben wieder Danger Mouse und Inflo als Produzenten gesorgt, mit denen Kiwanuka seit seinem zweiten Album »Love & Hate« von 2016 zusammenarbeitet. Wobei diesmal die Waage eher in Richtung Inflo tendiert, bei dessen Projekt Sault Kiwanuka mitwirkt. Weniger pompöse Streicher-Arrangements, dafür mehr intime akustische Instrumentierung tun diesem Album und diesem Künstler gut. Vor allem, wenn Legenden wie Bassist Pino Palladino beteiligt sind, der schon mit vielen Größen, darunter Beyoncé und Adele, Elton John und Eric Clapton, zusammenarbeitete. Palladinos Basslauf bestimmt nicht zuletzt »Rest of me«, den besten Song des Albums, der an Seal erinnert, in seiner besten Phase wohlgemerkt. Kein Wunder, teilen er und Kiwanuka doch die Liebe für den Northern Soul der Sechziger. Lars Tunçay

Lambrini Girls

Lambrini Girls

Who let the Dogs out

Who let the Dogs out

Familienduell mit den Lambrini Girls: 100 Leute wurden gefragt, welche Themen auf einem feministischen Album nicht fehlen dürfen. Und los: gläserne Decke, Dick-Pics, Mansplaining, Victim-Blaming … Check, Check, Check und Check! Und auch ein zusätzliches Check für das kompromisslos druckvolle Schlagzeug. Das Trio aus Brighton knüpft nach der ersten Single und EP-Veröffentlichungen auch mit dem Debüt- Album »Who let the Dogs out« nahtlos an die Riot Grrrls aus den Neunzigern an und überträgt sie ins Heute. Nicht, weil es damals so geil war – sondern notwendig. Und das ist es immer noch. Auch heute in Zeiten von Wokeness muss es noch Initiativen für Save-Clubbing oder Subway-Shirts geben, um Frauen vor Belästigung zu schützen. Wie die Riot Grrrls vor 30 Jahren wüten die Lambrini Girls auf dem Album bunt und laut gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Nicht, um ein Bild zu bedienen, sondern um gehört zu werden. Auch heute gibt es trotz Väter-Zeit auf Arbeit und Girls’ Day in Schulen noch einen enormen Gender-Pay-Gap und Frauen leisten den Großteil der Care-Arbeit. Das ist die Realität der Lambrini Girls Phoebe Lunny und Lilly Macieira, die live um Schlagzeugerin Banksy ergänzt werden. Und es ist die Realität von uns allen. Deswegen ist auf den elf Songs von »Who let the Dogs out« Raum, um den Mittelfinger auch gegen rechte Hetze oder den überbordenden Nationalismus in Großbritannien auszustrecken. Und deswegen verwehren sich die Lambrini Girls – bei allem Respekt – auch dagegen, Bikini Kill zu sein. Sie haben vielmehr ihre eigene Realität, auf die sie pissed sein können. Und ihr Ventil dafür ist Noise-Punk. Kerstin Petermann

Collectif9

Collectif9

Rituæls

Rituæls

Das kanadische Streicherensemble Collecitif9 stellt mit seinem vierten Studioalbum ein eindrucksvolles Ergebnis durchdachter Konzeptarbeit vor, das musikalisch voll überzeugt. Das 2011 gegründete Streichnonett verbindet in »Rituæls« vor allem zeitgenössische Kompositionen grundverschiedener Stile zu einem großen Epos. Die einzelnen Stücke von Michael Tippett (1905–1998), Bryce Dessner (*1976, The National) und den kanadischen Komponistinnen Jocelyn Morlock (1969–2023) und Nicole Lizée (*1973) werden dabei durch verwebende Elemente ineinander überführt. Dies geschieht mithilfe musikalischer Mittel von Bordunklängen, ausgehaltener Töne oder sich unmerklich verwandelnder Akkorde. Eine kollektive Improvisation eröffnet mit schlichten Klangflächen und leitet damit Hildegard von Bingens »O vis æternitatis« ein. Im Archaischen verbleibend, schließt sich Arvo Pärts »Psalom« im Spannungsfeld zwischen simpler Melodik und aufgeladener Stille an. In »Another living Soul« von Nicole Lizée werden fantastische, schaurig amorphe Klanglandschaften durchquert, die von den klagenden Melodien aus Michael Tippetts »Lament« abgelöst werden. Bruce Dessners »Aheym« ist daraufhin eine befreiende Komposition voll energetischer Rhythmen, die in den ruhigen Modulationen von Pärts »The Beatitudes« münden. Bruce Dessners »Tenebre« beschließt die Aufnahme mit einem fragilen Klangteppich. »Rituæls« entstand 2020 zunächst als Teil eines Konzertfilms. Collectif9 ist es mit fantastisch ausbalancierten Besetzungen und der überzeugenden dramaturgischen Linie aber gelungen, ein musikalisches Erlebnis zu schaffen, das keiner visuellen Extras bedarf. Christian Böddener

Rolf Kühn

Rolf Kühn

Fearless

Fearless

Vor zwei Jahren verstarb mit Rolf Kühn der erste und einzige deutsche Jazzklarinettist von Weltformat. 1929 in Köln geboren, wurde er in Leipzig musikalisch sozialisiert – wo sein jüngerer Bruder Joachim geboren wurde –, bereits 1956 verließ er die Stadt aber und lebte fortan in den USA, wo er unter anderem mit Benny Goodman, Tommy Dorsey und Chet Baker zusammenspielte. Später zog es ihn in den Westen Deutschlands. Im vergangenen Jahr erhielt er posthum mit seinem Bruder Joachim den Deutschen Jazzpreis für sein Lebenswerk. Warum er das verdient hat, das unterstreicht das vorliegende Album, das er kurz vor seinem Tod noch eingespielt hat. Dessen zehn Stücke vereinen alles, wofür Kühns Klarinettenspiel Zeit seines Lebens stand: seinen klaren, warmen Ton, seine unnachahmliche Ausdruckskraft und seine leichtfüßige Bewegung zwischen Struktur und Spontanität, Komposition und Improvisation. Geradezu rührend wirkt das Video zum vorab ausgekoppelten »Somewhere«, in dem er – einsam im Aufnahmeraum sitzend – merklich selig seine Tonspur einspielt. Schaut man genau hin, beschleicht einen das Gefühl: Mehr als das brauchte er nicht. Ein bisschen Ruhe, Zeit und eine Klarinette. Das Leben kann so einfach sein. Luca Glenzer

Various Artists

Various Artists

No further noise

No further noise

Seit 2017 veranstaltet der Leipziger Gitarrist Jonas Dorn in regelmäßigen Abständen die Konzertreihe »no further noise« im Leipziger Café Ino. Anlässlich der 50. Ausgabe der Reihe hat Dorn sich und die Reihe nun mit einer Vinyl-Jubiläumsveröffentlichung selbst beschenkt. Auf der Platte enthalten sind Aufnahmen verschiedener Besetzungen aus den Jahren 2017 bis 2024. Die Liste der daran beteiligten Musikerinnen und Musiker liest sich wie ein Who’s who der freien Leipziger Jazzszene: Neben Dorn selbst sind unter anderem Olga Reznichenko und Philipp Rumsch an den Keys, Kontrabassist Robert Lucaciu sowie die Drummer Max Stadtfeld und Daniel Klein zu hören – ebenso wie die Londoner Bassistin Ruth Goller. Musikalisch erweisen sich die Aufnahmen als überraschend konsistent: Dorns Gitarren-Arpeggios ziehen sich wie ein roter Faden durch die Stücke. Flankiert werden sie von mal noisigen, mal sanft dahinschwebenden Electronics. Eine äußerst feine wie zugleich unterstützenswerte Veröffentlichung! Luca Glenzer

Hologram Hug

Hologram Hug

In a dark Room

In a dark Room

Wie eine warme Umarmung im Leipziger Winter fühlt sich die neue EP »In a dark Room« von Hologram Hug an und weckt dabei Sehnsucht nach etwas Unbekanntem. Atmosphärische Klänge, psychedelische Melodien und kristallklare Synths tragen das zuhörende Publikum durch die Songs. Das Duo-Projekt besteht aus den Brüdern Ryan und Atom Park, die in den Suburbs von Charleston in South Carolina geboren und aufgewachsen sind und in Leipzig ein neues Zuhause für sich und ihre Musik gefunden haben. Als Hologram Hug spielen sie mit einer Mischung verschiedener Genres und verbinden Psych-Pop mit Elementen aus Minimal-Techno. Schon »Shutdown« entfaltet durch verträumte Melodien einen Herzschlag-ähnlichen Beat und einen hypnotischen Aufbau sowie eine perfekte Einleitung. Während »Break a Day« oder »Wait« mit fernen Klängen eine beruhigende, fast schon ambientartige Stimmung erzeugen, gibt »Free Love« gegen Ende noch einmal alles: Es geht darum, loszulassen, frei zu sein und – wie der Titel verspricht – frei zu lieben. Mit »Néné«, dem technoidsten Track der EP, schließt das Werk ab – dunkle Beats, sphärische Melodien, verzerrte Stimmen und flimmernde Synths sorgen für ein würdiges Finale. Celina Riedl

The Cure

The Cure

Songs of a lost World

Songs of a lost World

Viele hatten schon gar nicht mehr damit gerechnet, dass dieses Album noch erscheinen würde. Für 2019 war das neue Cure-Album erstmals angekündigt, seitdem wurde es Jahr für Jahr verschoben. Andererseits: Was sind schon fünf Jahre im Vergleich zu der mittlerweile 48 Jahre währenden Bandgeschichte? Eben. Die allerdings erweist sich auch schon seit mindestens 32 Jahren als exorbitant großer Schatten, aus dem die Band seitdem kaum noch hervorgetreten ist. Seit dem 1992er-Album »Wish« ging es musikalisch jedenfalls rapide bergab für die Band. Insofern war die Spannung groß, als im Oktober die vorab ausgekoppelte Single »Alone« erschien. Und siehe da: Gleich nach wenigen Takten war klar, dass sich die Band soundtechnisch zurück in die Achtziger bewegt. Daran schließen die übrigen sieben Songs des Albums an. Das Problem aber ist: Im Gegensatz zu ihren Meisterwerken wie »Disintegration« oder »The Head on the Floor« sind der Band die Jahrhunderthooks ausgegangen. Zwar singt Robert Smith auch mit seinen mittlerweile 65 Jahren noch immer wie ein einsamer Wolf in seinen besten Jahren bei Mitternacht. Man kann sich nur leider 30 Minuten später in der Dusche nicht mehr an seine Melodien erinnern. Für ein paar schaurig-schöne Momente beim allabendlichen Stadtspaziergang taugt das Album zwar allemal – für mehr aber auch nicht. Luca Glenzer

Madison Cunningham & Andrew Bird

Madison Cunningham & Andrew Bird

Cunningham Bird

Cunningham Bird

Madison Cunningham und Andrew Bird spielen und touren seit gut einem halben Jahrzehnt zusammen. Jetzt sind sie angetreten, um allen Nerds für Musikgeschichte ein feines Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Denn »Cunningham Bird« ist ein komplettes Cover-Album. Das Original dazu stammt von Lindsey Buckingham und Stevie Nicks, die später als Mitglieder von Fleetwood Mac zu größerer Popularität gelangten. Anfang der Siebziger war das Liebespaar völlig abgebrannt in Los Angeles gelandet – sein Album »Buckingham Nicks« von 1973 war für Polydor ein kommerzieller Flop. Inzwischen ist es eine gefragte Rarität und wartet seltsamerweise immer noch auf einen Re-Release. Wenig verwunderlich nimmt sie konsequent den Soft-Rock von Fleetwood Mac vorweg. Cunningham und Bird drücken der Vorlage versiert und galant ihren folkigen Stempel auf. Birds Markenzeichen, die Violine, kommt ausgiebig zum Einsatz. Und dass ihre beiden Stimmen perfekt harmonieren, wird hier erneut bestätigt. »Cunningham Bird« ist ein absolut solides Album. Nicht nur für Nerds. Und für alle Neulinge eine gute Gelegenheit, sich in das nicht minder spannende Original einzuhören. Kay Engelhardt

Shitney Beers

Shitney Beers

Amity Island

Amity Island

Dieser Hinweis ist sicher nicht neu, aber wer bislang keine Berührungspunkte mit Shitney Beers hatte, mag beim ersten Hören überrascht sein. Während der Name süffigen Streetpunk verheißt, erzählt das »Intro« eher von musikalischer Nähe zu Acts wie Boygenius. Wo deren Melodien allerdings teilweise so gewollt sperrig scheinen, dass es an Prätention grenzt, ist das Songwriting auf »Amity Island« zugänglicher. Das bedeutet nicht, dass es den Titeln der LP an Tiefgang mangelt. Schon in der Auskopplung »Maya Hawk«, die mit gniedeliger Gitarre auf einem entschieden lässigen grungey Soundteppich quasi das vertonte Pendant ist zur erfolgreichen Bemühung, vorm eigenen Crush cool dazustehen, wird nicht unreflektiert taggeträumt. Dem lyrischen Ich ist durchaus bewusst, dass eine Zukunft mit der amerikanischen Angebeteten die Aufgabe der gesetzlichen Krankenversicherung bedeuten könnte. Und auch abseits des Tiktok-tauglichsten Songs der Platte bleibt man textlich, wenn auch zum Teil hüpfend, recht bodennah. In »N4N« beispielsweise werden schmerzhafte Fragen zu Genderidentität und der Deutungshoheit darüber gestellt – ganz ohne theoretisches Gefasel, stattdessen unmittelbar und eindringlich. Entsprechend ist »Amity Island« trotz nostalgischer Instrumentation – da ist ordentlich 90s-College-Rock drin – vielen anderen Alben des Jahres weit voraus. Laura Gerlach

Cathy Krier

Cathy Krier

Piano Poems

Piano Poems

Das Album »Piano Poems« der Luxemburgerin Cathy Krier ist eine Zusammenstellung unterschiedlichster Programmmusik, die jeweils einen literarisch-poetischen Hintergrund hat. Krier unterstreicht darin, dass sie eine hervorragende Pianistin ist, deren »Gaspard de la nuit« – Ravels berühmtes, durch seine pianistischen Anforderungen geradezu berüchtigtes Werk – den Vergleich mit zahlreichen Veröffentlichungen dieses ungeheuer populären Werkes nicht scheuen muss. Wunderbar gespielt auch Prokofjews Cinderella-Stücke, in denen Charles Perraults Märchen (ein Vorläufer vom »Aschenputtel» der Brüder Grimm) lebendig wird. Ein wenig beliebig wirken hingegen die drei Liszt-Bearbeitungen der Schubert-Lieder, die Liszt natürlich in romantischer Manier für sich selbst geschrieben hat und die durch Salon-Ornamente oft einfach kitschig wirken (»Ständchen«!). Wirklich interessant und im Zentrum des Albums stehen die beiden kurzen Welt- ersteinspielungen zweier zeitgenössischer Komponistinnen: Catherine Kontz und Konstantia Gourzi. »Murmuration« nennt Kontz ihr Stück, das seine Inspiration aus den poetisch anmutenden Formationen der Vogelschwärme schöpft – ein Naturphänomen, das poetisch wahrgenommen und gedeutet wird. Ein Meisterwerk ist Konstantia Gourzis »Ithaka«, bei dessen Ausführung, wie bei Kontz, auch der Flügelinnenraum genutzt wird. Ein Gedicht des griechischen Schriftstellers Konstantinos Kavakis, das Odysseus’ Rückkehr in seine Heimat Ithaka thematisiert und in dem es letztlich um Selbstfindung geht, liegt dem Werk zugrunde. Die Musik ist eine spirituelle Miniatur, zeitlos, sprechend, wundersam meditativ und poetisch. Musik als Essenz des Lebens. Silke Peterson

Philipp Orlowski

Philipp Orlowski

Zu Hause

Zu Hause

Okay, das hier könnte ein wenig wie Tabu-Spielen werden: Bitte rezensieren Sie Philipp Orlowskis neue EP »Zu Hause«, ohne folgende Acts zu nennen: Max Müller bzw. Mutter, Christoph Schreuf bzw. Kolossale Jugend, Brezel Göring, Chris Imler … Das Ohr sucht ja immer nach Orientierung. Aber das würde Philipp Orlowski nicht gerecht werden, er hat seinen ganz eigenen Blick auf die Welt und seine ganz eigene Art, diesen in Kunst umzusetzen. Das hat der Leipziger seit Jahren in verschiedenen Kunstformen wie Malerei oder Comic und unter verschiedenen Pseudonymen bewiesen. Mit Bands wie Centaur, Schgrampf oder als Dave Bowman zeigt er, dass er selbst in einer einzigen Kunstform – in diesem Fall der Musik – viel auszuloten vermag, egal ob mit Punk, Electro, Indie oder Psychedelic. Die Texte der hier vorliegenden vier Tracks sind getragen von einer Spannung aus abstrakten Fragmenten und subjektiver Konkretheit. »Akzeptanz ist das Gefühl, das dein Herz befreit / Wenn du plötzlich Liebe siehst, ist es schon längst zu weit«, singt er an einer Stelle und ruft damit ein Sammelsurium an Assoziationen hervor. Wörter wie »Liebe« und »Akzeptanz« sind als Gefühle bekanntermaßen konkret, als Konstrukte aber unendlich weit. Ähnlich komplex funktioniert auch die Instrumentierung: Minimalistisch getragen von Bass oder Schlagzeug, gibt sie Melodie und Gesang den nötigen Raum. Unter den straighten Basslinien und Gitarren sind kleine Soundspielereien eingebaut. Mitunter lockern Melodieschnipsel das Geschehen auf. Damit knüpft Orlowski immer wieder an den Sound von Centaur an und liefert wunderbare Dada-geprägte Gesellschaftskritik und Alltagsbeobachtungen. Kerstin Petermann

The Smile

The Smile

Cutouts

Cutouts

Mit »Ok Computer«, dem Überalbum, begann 1997 ein neues Kapitel in der Bandgeschichte von Radiohead. Das dritte Werk bedeutete nicht nur den kommerziellen Durchbruch, es verschaffte der Band auch Freiheit, aus der »Kid A« und »Amnesiac« geboren wurden. Die gestiegene Aufmerksamkeit machte aber auch den kreativen Prozess komplizierter. Die Band füllte Stadien, die Alben wurden aufwendiger und es wurde immer schwieriger, alle fünf Köpfe zeitgleich ins Studio zu bekommen. In der Pandemie begannen Thom Yorke und Johnny Greenwood damit, sich Ideen hin- und herzuschicken, aus denen schließlich The Smile entstand. Gemeinsam mit dem Sons-of-Kemet-Drummer Tom Skinner steht die Improvisation im Vordergrund, der schnelle kreative Arbeitsprozess. So entstand nun bereits das dritte Album, nach »Wall of Eyes« das zweite innerhalb von einem Jahr und das bisher schlüssigste. »Cutouts« entstammt denselben Aufnahmesessions wie der Vorgänger, ist aber doch einen Schritt weiter. Der Geist von Krautrock verschmilzt perfekt mit Greenwoods Arrangements, Yorkes Strom aus Worten und dem jazzigen Schlagzeugspiel von Skinner. Die wiedergewonnene Freiheit ist spürbar, der Spaß daran zeigt sich auch in den regelmäßigen Liveauftritten. Besonders Greenwood und Skinner haben hier eine gemeinsame rhythmische Sprache gefunden, über der Yorke improvisiert. Die zehn Stücke sind keinesfalls Fragmente, sondern stilistisch vielfältige Miniaturen, die Inspiration aus allen Richtungen ziehen. Lars Tunçay

JPD

JPD

Chat JPD

Chat JPD

»Zukunftsmusik« ist der Auftakt für das Album »Chat JPD«. So beweist Julian Philipp David aka JPD auch mit seiner zweiten Veröffentlichung, dass er sich auf mehr als nur klangvolle Akronyme versteht. Für jenen Titeltrack wattiert der 32-jährige Musiker Gedanken an das Leben im Hier und Jetzt und den Zwang zur Zukunftsvorstellung in eingängigen, tanzbaren Pop. Die elektronischen Klangströme bremst der Wahlleipziger deutlich, wenn er mit seinen Rapeinlagen den katastrophalen Größenwahn Elon Musks anklagt. Doch statt in Wut umzuschlagen, bleibt der Sprechgesang leichtfüßig: »Du und ich sind Space Invaders / klettern hoch auf die Wohncontainer / füllen das Gras in die langen Papers / gegen die Traurigkeit / und so Katastrophen denken wir uns / möglichst weit entfernt von hier / eine neue Zukunft für uns aus.« So träumt sich JPD mit seinen Hörerinnen und Hörern zum »Mars«. Doch angreifen kann JPD sehr wohl: So erstarkt der Slogan »Fick die Investoren / Die Häuser denen, die drin wohnen« gemeinsam mit der pulsierenden Melodie im Song »Investoren«. Mit ein bisschen Self-Care (»Augenblick (für mich)«) und dem verspulten Song »Ruhetag« klingt das ultragegenwärtige Album aus – stark! »Chat JPD« birgt tanzbare Fluchtimpulse aus der erschöpfenden Gegenwart, umarmende Lyrics, die bisweilen von herzerwärmenden Träumen einer schöneren Welt erzählen. Herrlich! Claudia Helmert

Nola

Nola

Blindly and fast

Blindly and fast

Wer kennt nicht Gefühle der Reizüberflutung und Überforderung? Genau darum geht es auf der zweiten EP von Nola. Schnell dreht sich unsere Welt und blind müssen wir im Alltag manchmal darauf reagieren. Bei dem Leipziger Quartett klingt das sehr tanzbar. Das Trio um Sängerin Nola Fuchs präsentiert dabei fünf Tracks, die zwar an Trip-Hop erinnern, aber dies vor allem wegen der Beats und Keyboard-Sounds, die das Fundament bilden, über das sich Fuchs’ kräftige Stimme legt. Hier gibt es aber keinen Drumcomputer und keine Soundprogramme, sondern live eingespielte Instrumente. Heraus kommt ein überraschend warmer und organischer Klang, der wunderbar zum Thema der EP passt, bei dem ja durchaus starke Gefühle wie Resignation oder Verzweiflung mitschwingen. Das zeigen besonders eindrücklich die beiden Singles, »Some Parts« und »ADHD«. Was könnte auch ein besseres Sinnbild für Überforderung sein als die Aufmerksamkeitsstörung ADHD? »Some Parts« beschreibt dabei ein diffuses Gefühl von Orientierungslosigkeit, das sich ergibt, wenn wir die ganz große Welt erklären wollen oder herausfinden wollen, wer wir eigentlich sind. Damit ist es zugleich das passende thematische Titelstück, denn aus dieser emotionalen Gemengelage speist sich ja allzu oft die Überforderung. Damit schaffen Nola es nicht nur, thematisch einen roten Faden zu ziehen. Das eher bedrückende Thema reibt sich ganz wunderbar an den spielerischen Beats und Melodiefragmenten der Instrumente. Kerstin Petermann

Geordie Greeps

Geordie Greeps

The New Sound

The New Sound

Der Spruch, Geschichte wiederhole sich, kommt nicht von ungefähr. Ein Beweis dafür ist folgender Fall musikalischer Synchronizität: Am 3. Oktober 1989 veröffentlichte ein experimentierfreudiger David Byrne sein Solo-Debüt-Album »Rei Mono«, in dem der Talking-Heads-Leadsänger Musikenthusiasten auf der ganzen Welt mit einer schrecklichen Salsa-Rock-Fusion konfrontierte – wenig später löste er die Post-Punk-Band aus New York auf. Im August 2024 löste sich wiederum die Math-Rock-Avantjazz-Band Black Midi aus London auf, womit sie unzähligen Fans das Herz brach. Und am 4. Oktober kam Black Midis Leadsänger Geordie Greep mit der Veröffentlichung seines Solo-Debüt-Albums »The New Sound« um die Ecke. Und womit experimentiert der 25-Jährige auf seiner Befreiungsscheibe? Natürlich mit mannigfaltiger »Tropicália«! Mal Salsa, mal Mambo, mal Tango oder einfach alles gleichzeitig. Ja, warum denn nicht? Dieser neue Klang, so wie Creep es nennt, integriert nicht nur den Rhythmus südamerikanischer Tanzmusik, sondern verbindet diesen mit dem für Black Midi charakteristischen progressiven Post-Rock-Sound, dem Crooner-artigen Gesang Creeps, seiner mal punkigen, mal theatralischen Stimmabgabe – und das mit der Unterstützung von 30 Gastmusikerinnen und -musikern! Das Album wurde in wenigen Tagen in Brasilien aufgenommen und ist wahrhaftig die Tür zum intersektionalen Wahnsinn. Mach sie auf und du wirst sehen, wie kräftig David Byrne die Hüfte dazu schwingt. Libia Caballero-Bastidas