anzeige
anzeige

Rezensionen

Ensemble Nobiles & Ensemble Leipziger Salon

Ensemble Nobiles & Ensemble Leipziger Salon

Es rappelt im Salon

Es rappelt im Salon

Neben den Comedian Harmonists gab es im Zeitalter der charmanten Schlager der zwanziger und dreißiger Jahre auch andere Ensembles, die Bühne, Radio und Schallplatte eroberten. Doch die Kardosch Sänger, die Melody Gents und andere sind heute in Vergessenheit geraten. Das Leipziger Ensemble Nobiles und das Ensemble Leipziger Salon haben nun ein wirklich unterhaltsames Doppelalbum veröffentlicht, zu dem der Rundfunkjournalist Claus Fischer interessante Einführungen in dieses Kapitel Zeitgeschichte und Tondokumente aus seiner Schellackplattensammlung beigesteuert hat. »Es rappelt im Salon« dokumentiert diese versunkene Welt einerseits in kommentierten Originalaufnahmen und lässt auf der zweiten CD die alten Hits wieder auferstehen. Da wird in »Ich möchte heiraten« Mendelssohns Hochzeitsmarsch eingebaut und auch sonst lustvoll-witzig hineinarrangiert. An der Seite der ehemaligen Thomaner des Ensemble Nobiles sind bei dieser Neueinspielung die Musikerinnen und Musiker des Ensembles Leipziger Salon zu hören. Das Ergebnis ist eine nostalgische Zeitreise, voll beschwingter Leichtigkeit, Charme und Eleganz. Nobiles intonieren astrein und artikulieren verständlich bis ins Detail, so dass man den amüsanten Geschichtenliedern ganz entspannt folgen kann, während die historischen Aufnahmen teilweise nur rudimentär zu verstehen sind. Dafür bestaunt man dort auch heute noch die speziell historische Mischung aus Zack, Leichtigkeit und Vitalität. Anja Kleinmichel

Fat White Family

Fat White Family

Forgiveness is yours

Forgiveness is yours

Die Zeiten, in denen man mit so ollen Sachen wie Sex, Drugs und Rock’n’Roll noch groß provozieren konnte, sind ja eigentlich vorbei. Der Band Fat White Family gelingt es aber trotzdem immer wieder. In den 13 Jahren ihres Bestehens haben sich die Briten dabei eine Art eigenen düster-ekstatischen Rockmythos geschaffen, der sehr wenig mit Glamour zu tun hat und viel mit Destruktivität, Selbsterniedrigung und dem Hang zum Verstörenden. Das wird in Interviews und Pressestatements dann auch viel und gerne zur Schau gestellt. Und so verwundert es kaum, dass auch das neue Album »Forgiveness is yours« mal wieder in einem Strudel aus Psychosen, Drogenmissbrauch und Angst vor dem Sozialamt entstanden sein soll. Anhören tut man es der Platte nicht unbedingt, jedenfalls nicht sofort. Wie schon das letzte Album »Serfs up!« kommt auch sie weitestgehend ohne den psychedelischen Noise-Rock früherer Tage aus. Stattdessen gibt es angenehm eklektische Pop-Perlen – samt heimeligen Flötenklängen, tanzbaren Disco-Grooves und opulenten Streicheinlagen: catchy, funky und sexy! So richtig gemütlich machen kann man es sich dann aber doch nicht. In gewohnter Manier werden die Arrangements immer dann zersägt, wenn es gerade zu nett wird. Und auch textlich holt Sänger Lias Saoudi alles raus, was an existenziellen Abgründen gerade so vorhanden ist. Von Begegnungen mit John Lennons Geist auf Ketamin bis zur extrem eindrücklichen Schilderung der traumatischen Beschneidung seines Bruders. So viel Beklemmung so wohlklingend und aufregend zu verpacken, ist dann schon ein Kunststück. Yannic Köhler

Goat Girl

Goat Girl

Below the Waste

Below the Waste

Dass der Goat-Girl-Sound von »Below the Waste« noch dröhnender als die raue Debüt-Perle von 2018 des Post-Punk-Trios aus Brixton klingt, hätte wohl niemand erwartet. Zumindest nicht, nachdem Holly Mullineaux neue Bassistin der Band wurde und ihre Sammlung hochwertiger Synthesizer vorstellte. Mit diesen hatten sie nämlich auf dem zweiten Album »On all fours« (2021) einen Kompromiss zwischen pavementesken, verzerrten Gitarrenwänden, Indie-Disko, Synthie-Pop, Noise-Rock, clubbigen Soundlandschaften und dem Gesang von Clottie Cream geschlossen. Eine ganz schöne Up-Tempo-Geschichte also, von der nun auf »Below the Waste« keine Spur mehr ist. Die dritte Platte der Londoner behält zwar die Synthesizer, das Folk-Artige und No-Wavige, ist aber träumerischer, obskurer, voller Blasinstrumente, Streicher und von repetitiven Harmonien durchdrungen. Dieser Rekurs auf Strukturen der minimalistischen Musik ist ein Trend in der gegenwärtigen britischen Post-Punk-Szene, auch auf den letzten Alben von Squid, Black Midi und Maruja zu hören. Da wundert es nicht, dass John »Spud« Murphy von Black Midi das Album mitproduzierte. Das Ergebnis überzeugt. Libia Caballero

Marina Allen

Marina Allen

Eight pointed Star

Eight pointed Star

Marina Allen aus Los Angeles ist mit »Or Else« im Jahr 2022 ein waschechter kleiner Indie-Hit gelungen: Ausgestattet mit tollem Text, vorgetragen mit wahnsinnig präzisem, ausdrucksstarkem Gesang und geerdet durch grandioses Songwriting. Und das nahezu unbemerkt von der breiten Öffentlichkeit. Wäre derselbe Song Anfang der Siebziger herausgekommen, hätte sie mit hoher Wahrscheinlichkeit wenigstens die amerikanischen Charts erobert. Im Hier und Jetzt wird es jedoch immer schwieriger herauszustechen. Dabei besitzt Allen, die aus New Jersey stammt und die es mit zehn Jahren nach Kalifornien verschlug, eine unverkennbare Stimme. Ohne Probleme kann sie es mit großen Vorbildern wie Carole King und Karen Carpenter aufnehmen. Auf ihren ersten beiden Alben präsentierte sich Allen der Melancholie sehr zugeneigt. Diese weicht auf ihrem dritten Longplayer »Eight pointed Star« einer weitaus hoffnungsvolleren, stellenweise gar unbeschwerten Stimmung. Die neun aktuellen Stücke klingen erstmals nach Bandgefüge und weniger nach Singer/Songwriterin am Piano mit gelegentlicher musikalischer Unterstützung, was Allens Soundkosmos öffnet und den Songs guttut. »Swinging Doors« etwa hört sich fast schon so überschwänglich und jangly an wie die Lemonheads. Ganz großes Kino! Kay Engelhardt

Dumbo Tracks

Dumbo Tracks

Move with Intention

Move with Intention

Als Elementarteilchen will man nicht alleine sein. Erst mit den anderen ist man etwas und bildet das große Ganze. In diesem Falle ist Jan Philipp Janzen aka Dumbo Tracks das Elementarteilchen und sein zweites Album das große Ganze. Dumbo Tracks liefert das Gerüst für die neun Tracks von »Move with Intention«, sorgt als Produzent auch für den Kitt, der die vielen kleinen Versatzstücke wie Loops und Dub-Reverbs zusammenhält. Das Besondere und Bunte, das das Album ausmacht, liefern aber die anderen Teilchen, die über die 39 Minuten des Albums herumschwirren und ihm Farbe verleihen. Das fängt schon bei der Vielfalt der Stimmen an: Kollaborationen mit Rubee Fegan (von Smile) oder der aus dem House bekannte Portable versprechen eine Vielfalt an Tonfärbung. Nothingspecial aus Bonn und die Hamburgerin Ada erweitern das Spektrum zudem noch um weitere Genres und ergänzen die musikalischen Einflüsse um Dark Pop und Techno. Und dazwischen sorgt Jan Philipp Janzen mit Orgel oder Drumcomputer dafür, dass alles fließt und groovt. Er schafft es, diese unterschiedlichen Teile zu einem stimmigen Album zusammenzufügen, das man als Groove Pop bezeichnen kann. Elektronisch und absolut vielseitig zwar, aber durchweg poppig ist es geworden. Poppiger noch als der Vorgänger, weil die Gäste sich im Studio zu Hause fühlen durften. Dumbo Tracks hat sie nicht eingeladen, um ihnen zu sagen, was sie machen sollen, sondern weil er sie machen lassen wollte. Bekommen hat er eine Bereicherung seiner eigenen Ideen. Kerstin Petermann

Justice

Justice

Hyperdrama

Hyperdrama

Vom Bombast ihres Erstlings über das hymnische »Audio, Video, Disco.« bis hin zum Elektro-Funk von »Woman«: In rund zwanzig Jahren haben sich Justice ihre eigene Bühne geschaffen. Nicht zuletzt durch die exaltierten Live-Shows, die jeweils auf eigenen Tonträgern festgehalten wurden. »Hyperdrama« ist da der logische nächste Schritt und nicht nur dem Titel nach all das, wofür Gaspard Augé und Xavier de Rosnay stehen. Ihre Mischung aus Future-Funk und Disco durch den Filter von French-House reichern sie auf ihrem vierten Studio-Album durch handverlesene Gäste an. Das Album beginnt mit der Kombination aus dem melodiösen Funk von Justice und dem entrückten Falsettgesang von Kevin Parker aka Tame Impala. Eine dermaßen perfekte Mischung, dass es sie drei Stücke später bei »One Night/All Night« gleich noch mal zu hören gibt. Aus Neuseeland stößt Psychedelic-Rocker Connan Mockasin hinzu, aus L.A., der zweiten Heimat von Justice, der R&B-Sänger Miguel und Bassist Thundercat. Die 13 Songs fügen sich nahtlos in das makellos produzierte Set, das live dann wieder zu einem eigenen Hybriden verschmelzen wird. »Hyperdrama« mag die Ecken und Kanten des Justice-Debüts vermissen lassen, vereint aber die Stärken des Duos, ohne wie zuletzt an den Rändern zu zerfransen. Lars Tunçay

Die Wende

Die Wende

Die Wende

Die Wende

Die Wende nennt sich eine neue Band aus Sachsen, die sich aus dem Chemnitzer Duo Baumarkt und der Leipziger Solokünstlerin Baustelle zusammensetzt. Die erste gemeinsame Veröffentlichung des Trios ist ein Experiment. Es verwebt assoziativ Texte von irgendwoher – »Ich les mal was vor / Fragen an Johnny Rotten« –, versucht, die Band zu verorten, etwa mit Zeilen wie: »Denke nach und verurteile Ironie aufs Schärfste«. Dabei adressieren Die Wende nonchalant ihre Zuhörerschaft: »Hallo Kunstliebhaber:innen aus den Achtzigern, hier ist etwas, das so ist wie früher!« Genauso assoziativ reihen sie für die Melodien klangvolle Synthiebruchstücke aneinander. Mal dröhnt es geräuschvoll, mal klirren Akzente willkürlich auf den humpelnden, bisweilen blechernen Rhythmen. Dass zwischendurch das Mikrofon ausfällt, wird direkt in die nahtlose, über 60-minütige Live-Improvisation aufgenommen. So ist jede Sekunde des Tapes »Die Wende« nicht nur für die Musikerinnen und Musiker, sondern auch für die Zuhörenden eine Überraschung. Keine davon sollte man verpassen. Es lohnt sich, gespannt zu lauschen, wie die Klänge fließen, rauschen und prasseln – Die Wende sind wirklich genial dilettantisch. Claudia Helmert

Martin Helmchen

Martin Helmchen

Bach Six Partitas

Bach Six Partitas

Historische Kompositionen auf dem Instrumentarium der Entstehungsepoche darzustellen, ist für Interpreten faszinierend und aufschlussreich. Auf seiner neuesten CD spielt Martin Helmchen alle Bach-Partiten auf einem Tangentenflügel ein und lässt so seine Hörerinnen und Hörer an einer Entdeckungsreise teilhaben. Das gespielte Original-Instrument von Spät & Schmahl aus dem Jahre 1790 wurde 40 Jahre nach Bachs Tod gebaut, Helmchen geht davon aus, dass es eine Weiterentwicklung dessen ist, was Bach kannte und sich zu Lebzeiten möglicherweise erträumt hat. Unzufriedenheiten mit den Limitationen des gegebenen Instrumentariums gab es immer. Helmchen selbst begeistert sich insbesondere für die Farben, die » Symbiose der Charakteristika von Cembalo, Clavichord und frühem Hammerflügel … diese Registerzüge«. Die klangliche Qualität der majestätischen und kraftvollen Akkorde in den Eröffnungssätzen der D-Dur- oder der c-Moll-Partita und die besondere Transparenz der Darbietung lassen durchaus aufhorchen. Und ja, es ist eine ganz besondere Farbe, wenn Helmchen den weichen Lautenzug im Air der e-Moll-Partita einsetzt, in Wiederholungen die Registrierung in andere Farben ändert. Wer das Spiel des Pianisten Martin Helmchen am modernen Flügel jedoch kennt und seine feinsinnige, hochindividuelle Art, rhythmische Komponenten aus schwingendem Klang abzuleiten, bemerkt, dass er hier in eine abstraktere, weniger subjektiv geprägte Bachwelt eintritt, die ganz anderen Gesetzen gehorcht. Ein interessanter Ausflug, von dem aus man jedoch gern wieder heimkehrt, zu diesem ganz besonderen Klavier-Interpreten. Anja Kleinmichel

Kissing Disease

Kissing Disease

Erster Kuss

Erster Kuss

Die düsteren Melodien der Synthesizer schmiegen sich an die repetitiven Drumsounds, während die Gedanken des lyrischen Ichs verloren, sehnsuchtsvoll und ziellos kreisen: »Meine Farben reichen nicht, um mir eine Dystopie auszumalen ohne dich«. Mit dem ersten Song »Exil« taucht die Gruppe Kissing Disease ihre Umgebung in Melancholie, die nicht nur aus dem Sound, sondern auch aus den Texten tropft. »Sollen die Geister mich doch holen«, entgegnet die NNDW-Künstlerin Larasüß nonchalant, die den Song featurt. Die Band setzt mit ihrem Namen auf die Ambivalenz, die in Kissing Disease mitschwingt: zum einen das Lustvolle, das man hinter einer Kusskrankheit vermuten vermag – das übrigens in dem treibenden Track »Kusskrank« anklingt –, zum anderen auch der Schmerz, die ganz profane Übersetzung mit »Pfeiffersches Drüsenfieber«, eine Infektionskrankheit, die durch Speichel übertragen werden kann, also auch durchs Küssen. Sehnsucht und Schmerz sind obendrein die Themen der Debüt-EP »Erster Kuss«. Wie durch die Künstlerinnen und Künstler Edwin Rosen, Modular und Skuppin – um nur einige Beispiele zu nennen – schwappt mit Kissing Disease aus Halle die Neue Neue Deutsche Welle einmal mehr über. Und es lohnt sich, sich auf den selbst gebauten, tanzbaren Synthietönen, die den Charme der Dark-Wave-Klänge und der 80s versprühen, treiben zu lassen. Claudia Helmert

Camera Obscura

Camera Obscura

Look to the East, look to the West

Look to the East, look to the West

Camera Obscura starteten Ende der Neunziger als so etwas wie die kleine Schwester der befreundeten Belle & Sebastian. Beide Bands gelten als wichtige Vertreter des Twee-Pop, also des »hübschen« Indie-Pop. Spätestens mit dem dritten Album »Let’s get out of this Country« entwickelten Camera Obscura ihr komplett eigenständiges Profil. Zwischen 2001 und 2013 brachten sie fünf Longplayer raus. – Doch auf dem Gipfel des Erfolgs verstarb 2015 Keyboarderin Carey Lander an Knochenkrebs. Ihr Einfluss war so immens, dass es lange unklar war, ob ihr Tod auch das Ende der Band bedeutete. »Look to the East, look to the West« ist nun das erste Lebenszeichen nach vielen Jahren Pause. Donna Maciocia wurde als zusätzliches Bandmitglied angeheuert und unterstützt auch das Songwriting. Das neue Werk kommt anders als die restliche Diskografie ganz ohne Streicher- und Bläser-Arrangements aus. Konsequent wird aber der auf dem letzten Album vor der Auszeit eingeschlagene Weg in Richtung Country fortgesetzt. Und die unvergleichliche Tracyanne Campbell singt noch so schwelgerisch und herzzerreißend wie eh und je. Mit Songs wie »Denon« wird auch mal wieder der Motown-Sound gefeiert. Ebenso spielend schütteln Camera Obscura Pop-Kracher wie »Big Love« aus dem Ärmel. Überaus rührend ist die minimalistische Ballade »Sugar Almond«, eine Liebeserklärung an die schmerzlich vermisste Freundin und Bandkollegin Lander. Kay Engelhardt

Jessica Pratt

Jessica Pratt

Here in the Pitch

Here in the Pitch

Jessica Pratts Stimme ist sicher zu speziell für die ganz großen Bühnen. Aber dorthin will sie vermutlich sowieso nicht, ist also in der Nische gut aufgehoben. Zumal sie für verquere, experimentell verträumte Arrangements mit Folk- und Jazzelementen steht. Das instrumentale Setting war auf ihren bisherigen drei Alben stets ähnlich, ihr einzigartiger Gesang wurde meist nur von einer zart gezupften Akustikgitarre begleitet. Ihr neues Werk »Here in the Pitch« bricht mit dieser Routine. Zwar bleibt die Stimmung auf der Platte sonderbar mystisch – aber weniger minimalistisch als bisher. Auf ihrem vierten Album entdeckt die Kalifornierin bisher unbekannte Welten: Flöten, Pauken und Glockenspiele sind nur drei Beispiele aus der musikalischen Spielzeugkiste, die Pratt weit aufgeklappt in Gary’s Electric Studio in Brooklyn aufgestellt hat. Wundersam verträumte Melodien plätschern daher und schmiegen sich um die Stimme der Songwriterin. Herausragende Höhepunkte bietet das Album nicht, das Gesamtkonzept wirkt aber stimmig. Auf Hooks, Refrains und Ohrwürmer verzichtet Jessica Pratt komplett. Die braucht sie auch gar nicht, denn »Here in the Pitch« klingt so schön verwunschen, dass man auf der Suche nach dem nächsten Tagtraum immer wieder darin eintauchen will. Und das geht vor kleinen Bühnen sowieso viel besser. Julia Seegers

Maria Schüritz & Band

Maria Schüritz & Band

Durch die Nacht

Durch die Nacht

Maria Schüritz hat noch mal tief durchgeatmet, bevor sie sich – gut versorgt mit reichlich Sauerstoff – »Durch die Nacht« groovt. Die Leipziger Songpoetin schließt mit dieser Platte an das 2022 veröffentlichte Schwesternalbum »Der Lack ist ab« an. Ganz in Liedermacherinnen-Manier erzählt Schüritz clever getextete Geschichten. Den Rahmen dafür bietet der Abend einer umtriebigen Großstädterin. Am Anfang steht die urbane Wanderlust (»Kein Laminat«). Die Protagonistin stürzt sich in die Nacht und lässt sich von ihrer Schöpferin durch die Stadt singen. Der urbane Abend ist politisch, persönlich und greift aktuelle Themen wie Verschwörungstheorien, Klimawandel und den Zusammenhalt von Gesellschaften auf. Den aktuellen Zustand der europäischen Idee skandiert das Rio-Reiser-Cover »Zauberland« mit kleinen Textanpassungen. Schüritz schaut zurück auf die Jugend in der DDR (»Was war das nur für ein Land«) und lässt sich auf ihrem neuen Album vor allem von unterschiedlichen Musik- und Kunststilen inspirieren. Die Stücke sind Fusionen aus Funk und Soul, mal klassisch rockig, mal fließen World-Music oder Trip-Hop-Elemente ein. Schüritz’ charakteristischer, kraftvoller Gesang stellt die Texte dabei in den Mittelpunkt und bringt uns alle sicher durch die Nacht, ganz ohne außer Atem zu kommen. Julia Seegers

Future & Metro Boomin

Future & Metro Boomin

We don’t trust you

We don’t trust you

Es ist eine der am meisten erwarteten Hip-Hop-Veröffentlichungen des Jahres: Metro und Future. Der Titel ist eine Anspielung auf das berühmte Producer-Tag: »If young Metro don’t trust you, we gon’ shoot you«, eingesprochen von – genau – Rapper Future. Die beiden Ikonen sind spätestens seit ihrer Zusammenarbeit auf Futures legendärem Album »DS 2« eines der Dream-Teams des Genres. Metro Boomin, seines Zeichens Produzent, beherrscht sie immer noch, die gespenstischen Synthies, die Gänsehaut-Streicher. Auch wenn alles eine Spur zu sauber durchproduziert klingt: Er kann es sich erlauben, der Hitmaker, der unvergessene Beats geschustert hat, man denke nur an Drakes und Futures »Jumpman« oder Migos’ »Bad and Boujee«. Dabei beweist er wieder sein Gespür für Samples: 70s-Funk auf dem Opener »We don’t trust you«, Miami-Bass auf »Like That«, 60s-Soul auf »Everyday Hustle« mit Rick Ross, der hier zur Bestform aufläuft. Die Feature-Gäste – darunter Kendrick Lamar und Travis Scott – vermitteln den Eindruck, den beiden Koryphäen durch starke Parts ihren Respekt zollen zu wollen. Future und Metro können auch mal eben The Weeknd für ein paar Adlibs holen (die zweifelsohne hypnotisieren). Die zentrale Frage bleibt wohl, ob Future nach all den Jahren noch den verletzten, Codein-getränkten, roughen Trap-Sound machen kann, den er (auch mithilfe von Metros Produktionen) erfunden hat, ohne aus der Zeit gefallen oder wegen seiner zahlreichen Chart-Hits unglaubwürdig zu klingen. Die Antwort liegt auch in Metros nachdenklichen Beats, wenn Future auf »Runnin Outta Time« rappt: »Sometimes even rich niggas get lost / I’m experiencin’ more paranoia.« Der Schmerz ist da, frei nach Notorius B.I.G.: »more money, more problems«. Wem die beiden nicht vertrauen, der nehme sich in Acht. Jan Müller

Schubsen

Schubsen

Das Öffnen der Visiere

Das Öffnen der Visiere

Wenn nichts mehr geht, hilft nur noch Offenheit – manchmal auch brutale Offenheit. Deshalb klappen Schubsen auf ihrem vierten Album die Visiere hoch und sagen, dass sie keine Antworten mehr haben auf die Fragen, die die Welt uns stellt. Die Nürnberger, mittlerweile vom Quartett zum Duo geschrumpft, vertonen die Sprachlosigkeit, die AfD-Wahlprognosen, überbordende Selbstpräsentation und übermächtige Filterblasen bei ihnen hinterlassen. Zwar ist »Das Öffnen der Visiere« ein in Post-Punk gepacktes Fragezeichen, aber es erzählt an keiner Stelle von Resignation oder gar Kapitulation. Vielmehr pressen Friedo und Krupski ihre Fragen in Form von Beobachtungen und Feststellungen in 11 Songs und 35 Minuten. Heraus kommt ein überaus dringliches Album, das mit unnachgiebig-mitreißendem Schlagzeug und fast schon swingenden Gitarren leichter und poppiger ist als die Vorgänger. Der Fokus liegt aber noch mehr auf Krupskis Stakkato-Gesang und den fast schon auf Parolen reduzierten Ansagen. Sätze wie »Ich wünschte, ich hätte Ängste« oder »Muss ich denn immer alles sein / Ich muss mal gar nichts sein« stehen da und beantworten so viel, wie sie offen lassen. Und dieses Offene ist gut, denn es lässt Raum für die eigenen Antworten und den eigenen Weg. Kerstin Petermann

Michael Barenboim & Natalia Pegarkova-Barenboim

Michael Barenboim & Natalia Pegarkova-Barenboim

Lieder ohne Worte

Lieder ohne Worte

Felix Mendelssohn Bartholdy holte 1836 den Violinvirtuosen und Komponisten Ferdinand David als Konzertmeister ans Gewandhaus zu Leipzig. David wurde als enger Freund auch Widmungsträger von Mendelssohns bekanntem Violinkonzert. Von Ferdinand Davids Kompositionen hat sein Posaunenkonzert die Zeiten überdauert, die meisten anderen seiner Werke aber sind in Vergessenheit geraten. Kaum bekannt sind auch seine Bearbeitungen der »Lieder ohne Worte« von Mendelssohn. Es scheint recht naheliegend, diese Klavierstücke – bestehend aus Melodie plus Begleitung – auf ein Soloinstrument mit Klavierbegleitung zu übertragen. Für Pianisten verlieren die beliebten Stücke dadurch natürlich etwas an Reiz, denn obgleich diese zum Teil sehr schlicht gehalten sind, gehört die überzeugende Gestaltung einer singenden Melodielinie zu den delikatesten Herausforderungen am Klavier. Der solistischen Aufgabe des »Singens mit den Händen« (wie Mendelssohns Schwester Fanny es formulierte) hat sich auf der vorliegenden Aufnahme der Geiger Michael Barenboim angenommen. Die schmucklosen, einfachen Melodien nimmt er im Allgemeinen schlicht, ab und an aber wird ein Portamento eingefügt, dreht ein Schweller Pirouetten. Gestaltungsmittel, über die ein Pianist so nicht verfügt. Begleitet wird der Geiger mit dem wandlungsfähigen Ton von der Pianistin Natalia Pegarkova-Barenboim, seiner Frau. Im Ergebnis hört man ein stimmiges, selbstverständliches Ineinandergreifen der Parts. Eine Aufnahme, die durch die gegebene klare, kaum interagierende Rollenverteilung ein wenig ermüdet, aber durch die intime Schlichtheit der Interpretation überzeugt. Anja Kleinmichel

Bärchen und die Milchbubis

Bärchen und die Milchbubis

Die Rückkehr des Bumm!

Die Rückkehr des Bumm!

»Bumm« kannst du nicht ignorieren. Oder wer kann schon bei Sätzen wie »Ich bin alt und ich darf alles – rauchen und saufen, alles – sogar Happy Bonbons, Happy Bonbons, Happy Bonbons« weghören? Vor allem wenn man zur Melodie mitpfeifen kann. Und von solchen Sätzen gibt es einige auf »Die Rückkehr des Bumm!«, als da wären: »Nur die Natur macht alles richtig, sie wuchert alles zu« oder »Ich brauch keine Pille, keine davor und keine danach«. Es geht um Selbstbestimmung über den eigenen Körper, darum, dass man sich manchmal hilflos fühlt. Um patriarchale Anwandlungen und Normverschiebungen nach rechts. 14 Mal heben Annette Simons und ihre drei Bandkollegen sanft den musikalischen Mittelfinger zum Mitschnipsen. So melden sich Bärchen und die Milchbubis nach 43 (!) Jahren jetzt mit ihrem zweiten Studioalbum zurück. Nach »Dann macht es Bumm« nun also »Die Rückkehr des Bumm!«. In den vergangenen Jahren hat sich das Hannoveraner Quartett immer mal wieder mit seinem Pop-Punk zur gesellschaftlichen Lage zu Wort gemeldet: Zwei EPs, Samplerbeiträge und eine Compilation des bisherigen Werks machen deutlich, dass die deutsche Musikszene nicht auf den bissig-fröhlichen Humor dieser Band verzichten kann. Er ist nicht nur Salz in der Wunde, sondern auch Salz in der Suppe der gesellschaftlichen Diskussion. Mit der AfD in Umfragen als zweitstärkste Kraft oder ernstgemeintem Vorschlag für ein Gender-Verbot ist es 2024 aber auch mal wieder Zeit für einen richtigen Bumm. Kerstin Petermann

H.i.T.

H.i.T.

Die Band

Die Band

H.i.T. ist die Punkband, von der mein 13-jähriges Ich gehofft hätte später einmal Teil zu sein. Zum einen, weil H.i.T. wahnsinnig gut klingen – Kommentare zum Musikvideo ihrer ersten Singleauskopplung vergleichen sie mit den Bad Brains: brachiale Drums, ningelnde Saiten, zielorientierter Gesang. Zum anderen, weil sie schnörkellos die Eckpfeiler eines erfüllten Lebens vermitteln: gute Leute, Skaten, Beton zum Skaten, Graffiti und Spätis, an denen man mit guten Leuten hängt. Und natürlich, weil sie auf diese besondere Art cool sind, auf die nur Leute cool sind, die gerade einen Riesenspaß haben und denen dabei egal ist, ob sie cool sind. Punk war lange nicht mehr so schlau, ohne verkopft zu sein, so schön, ohne performativ zu sein. Weil mir sowohl das Talent als auch die Kreativität fehlten, eine Band wie H.i.T. ins Leben zu rufen, bin ich froh, dass Puneh aka Makrele, Tightill und Max zur Jacobsmühlen (unter anderen – mir ist zur Zeit der Entstehung dieses Textes noch nicht ganz klar, wer genau in welcher Form Teil der Band ist) der deutschen Musiklandschaft dieses Geschenk machen und Anfang April eine sechs Titel umfassende EP auf Soulforce Records veröffentlichen. Einer dieser Titel ist »Kiosk«. Darin heißt es: »Nenn es Späti, Cornern, Kiosk oder Eck / Wir sind halt da draußen, seitdem ich mich selber kenn / Damals ’ne bunte Tüte und kein Haar am Sack« und ein bisschen so fühlt die kommende EP sich an. Wie eine bunte Tüte an der Ecke teilen und mit Bier nachspülen. Das sollte überhaupt viel öfter getan werden, denn, so H.i.T. weiter: »Dafür ist man nie zu alt, nur zu neoliberal«. Laura Gerlach

Nichtseattle

Nichtseattle

Haus

Haus

Verwunderung, bisweilen unverständliches Kopfschütteln rief Katharina Kollmann alias Nichtseattle vor zwei Jahren allerorts hervor, als sie ihr zweites Album »Kommunistenlibido« veröffentlichte. Was sie sich denn dabei gedacht habe, dieses Tabuwort – K O M M U N I S M U S – gut 30 Jahre nach der sogenannten Friedlichen Revolution zu bemühen, noch dazu als Ostdeutsche. Dabei wollte die 1985 Geborene selbstredend keine Sympathien für Stasi und Mauer bekunden, sondern lediglich ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit und weniger Ellbogenmentalität Ausdruck verleihen. Daran knüpft auch das neue Album »Haus« an, das entgegen der naheliegenden Interpretation keinesfalls einen Rückzug ins Private propagiert – im Gegenteil. Bereits im fantastischen Opener »Beluga« singt Kollmann gegen hippieske Häuslichkeit an, die sich mit Quinoa, Bio-Beluga-Linsen und Yoga im Gepäck Harmonie und Weltfrieden herbeihalluziniert. Am Ende singt sie dann zusammen mit dem von ihr geleiteten Kaufhallenchor »Ich tret auf unsere Marktanteile / Schieß die weg und fahr ne Weile / Nachts durch meine Zuhausestadt / Die keine Ahnung von Liebe hat«, was einem auch beim 25. Hörgang noch eiskalte Schauer über den Rücken jagt. Auch der Rest des Albums überzeugt durchgehend mit chansoneskem Indie-Pop im Slowcore-Tempo, wenngleich kein zweiter Übersong wie »Beluga« dabei ist. Wäre aber zugegebenermaßen auch etwas zu viel verlangt. Luca Glenzer

Khruangbin

Khruangbin

A La Sala

A La Sala

Knapp vier Jahre ist es her, dass diese texanische und allseits geschätzte Band ihr letztes reguläres Album veröffentlichte. Ihr Markenzeichen sind überwiegend instrumentale Tracks, bei denen keine Stoppuhr benutzt wird. In der Zwischenzeit lag das Trio, das sich einst als Kirchenband kennenlernte, keineswegs auf der faulen Haut. Zur Überbrückung der Wartezeit schenkte es uns ein spannendes Afrobeat-Album in Kooperation mit Vieux Farka Touré sowie eine weitere EP mit dem talentierten Soul-Crooner Leon Bridges. »A La Sala« markiert nun die Rückkehr zum Khruangbin-Sound der ersten Stunde. Ihren vierten Longplayer hat die Band sehr minimalistisch mit ihrem langjährigen Toningenieur Steve Christensen aufgenommen. Bezeichnend für das Frühwerk von Khruangbin ist die luftige Entspanntheit, gepaart mit groovigem Funk – eine Prise Thai-Funk sowie ganz viel souliger Funk der amerikanischen Siebziger, um genau zu sein. Ein Sound, dem wir stundenlang lauschen können. Hier und da zwitschern ein paar Vögel. Auch Grillen dürfen gelegentlich zirpen. Ansonsten ist »A La Sala« die meditative Essenz dieser Band. Da die ohnehin Everybody’s Darling ist, wird ihr wohl niemand diesen schönen Ausflug zu ihren Wurzeln verübeln. Fans der ersten Stunde dürfte die Platte sogar in rege Verzückung versetzen. Kay Engelhardt

Hjirok

Hjirok

Hjirok

Hjirok

Sie taumeln in Widersprüchen: Hjirok sind Hani Mojtahedy, eine kurdische Sängerin und Künstlerin, und Andi Toma, ein deutscher Musikproduzent und Gründungsmitglied der Formation Mouse on Mars. Im Duo schaffen die beiden Klangwelten, in denen sich traditionelle Erzählungen in verschiedenen Sprachen, wilde Melodien und tänzerische Rhythmen um experimentelle elektronische Klänge winden. Die Ornamente in der Musik gehen wesentlich von der Setar aus, einem persischen Saiteninstrument, das sich mit einer Laute vergleichen lässt. Die Trommeln pulsieren ganz warm, wölben sich manchmal über Mojtahedys Stimme. Das überrumpelt hier und da etwas, denn der starke, bisweilen ungestüme, raunende, betörende Gesang reizt besonders. Die Kraft in Mojtahedys Stimme kommt nicht von ungefähr, so berichtet Toma über ihre Stimme im gewaltsamen Regime: »Hani singt für Gleichberechtigung und es gibt Leute, die Angst davor haben – vor ihrer Weiblichkeit, ihrer Stärke.« Kaleidoskopisch formieren, überlagern sich die Höreindrücke des Albums »Hjirok«. So faszinieren die Songs durchgehend. Man verfällt der Musik rasch, wippt und wiegt sich hin und her und vergisst in dem wohligen Trancezustand, dass die Zeit nur so verfliegt. Claudia Helmert