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Rezensionen

Susanne Fröhlich

Susanne Fröhlich

Ukai – 迂回

Ukai – 迂回

Mit »Ukai – 迂回« entführt die Blockflötistin Susanne Fröhlich in eine Klangwelt abseits vertrauter Pfade. Die Verbindung von traditionellen japanischen Klängen und zeitgenössischen Kompositionen von Markus Zahnhausen, Chaya Czernowin, Gerriet Krishna Sharma, Sarah Nemtsov und der Interpretin selbst lassen die Blockflöte in einem unbekannten Licht erstrahlen. Gleich die ersten Stücke machen deutlich: Diese CD ist nichts für den beiläufigen Musikgenuss, sie fordert Neugier und Offenheit. Fröhlich präsentiert nicht nur ihre beeindruckende Virtuosität, sondern auch ihre intensive Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Instrumentenfamilie der Blockflöte. Hier zeigt sich, wie die moderne Weiterentwicklung des Instruments neue Klangspektren eröffnet, die weit über traditionelle Vorstellungen hinausgehen. In den Kompositionen, darunter mehrere Welt-Ersteinspielungen, verschmelzen schwebende, meditative Passagen mit experimentellen Klangfarben, die die expressive Bandbreite der Blockflöte in den Mittelpunkt rücken. Dabei überrascht das Instrument mit einem erstaunlichen Tonspektrum, klingt mal traditionell warm und hölzern, dann zischend, derb oder ungewohnt laut, lässt in ungeahnten Höhen aufhorchen, während staccatoartige Passagen seine rhythmische Präzision betonen. »Ukai – 迂回« präsentiert ein oft unterschätztes Instrument als eigenständige, faszinierende Klangwelt – und beeindruckt dabei nachhaltig. Isabella Guzy

Popkornzone

Popkornzone

Polyacryl

Polyacryl

Wie ein harter Kern brodelt der Bass, schrammelt die Gitarre, scheppert das Schlagzeug. Im hitzigen Zusammenspiel schwillt der Sound der Band an, um – puff! – schließlich in ganz individuellen Formen zu kulminieren. So macht die Punk-Gruppe Popkornzone ihrem Namen alle Ehre. Am Bandnamen nicht unschuldig sind sicher die Popkornbrüder, Milan und Ferdinand Dölberg, die außerhalb der Band bildende Künstler und Filmemacher sind. Die erste EP der Berliner erschien 2022. Von dieser wärmen sie den DIY-Spirit nun wieder auf, der viel wuchtiger durch die sieben Tracks von »Polyacryl« heizt. So raunt der Sänger Ferdinand Dölberg am Ende des Tracks »Stal-no« treffend: »Na, es wird immer unrhythmischer.« Der rotzige und trotzige Gesang wildert, die Riffs treiben. Ein Gespür dafür, wie es sich anfühlt, »schlecht geträumt« zu haben, vermitteln sich auftürmende Klangcollagen. Die zumeist deutschen Lyrics gleichen in ihrer Impulsivität der Musik: Schlagartig reihen sich Eindrücke aneinander, wie etwa davon, an der Kasse in der Schlange zu stehen, mal ruft die Gruppe mit wunderbar Dada-haften Slogans wie »Perücken verzücken« zum gemeinsamen Grölen auf. Die allesamt kurzen Tracks setzen schnelle Schnitte zwischen die unterschiedlichen Stimmungen der Songs und bestärken nur die Wucht, die der Musik innewohnt. Tolle Energien setzt die Popkornzone frei. Claudia Helmert

Von Spar / Eiko Ishibashi / Joe Talia / Tatsuhisa Yamamoto

Von Spar / Eiko Ishibashi / Joe Talia / Tatsuhisa Yamamoto

Album I & II

Album I & II

Die japanische Experimentalmusikerin Eiko Ishibashi, die in der Vergangenheit vielfach mit Jim O’Rourke zusammenarbeitete, wurde international bekannt durch ihre Soundtracks für die Filme von Oscarpreisträger Ryusuke Hamaguchi, »Evil does not exist« und vor allem »Drive my Car«. 2019 stand sie beim Kölner Week-End-Fest gemeinsam mit den Schlagzeugern Tatsuhisa Yamamoto und Joe Talia auf der Bühne, die für ihr improvisiertes Spiel in der Tokioter Musikszene geschätzt werden. Bei diesem Gastspiel kam es zum Treffen mit den Musikern der Kölner Von Spar, die sich eher als offenes Musikkollektiv verstehen denn als Band. Dieses Zusammentreffen mündete in ihrer Zusammenarbeit an Von Spars letztem Studioalbum »Under Pressure«. Es entstand eine Freundschaft und der Wunsch einer ausgedehnten Session, die jetzt auf zwei Alben Raum findet. Ishibashis experimenteller Ansatz mischt sich darauf mit Von Spars Liebe zu Can, die sie 2013 bereits mit Stephen Malkmus und ihrer gemeinsamen Interpretation von »Ege Bamyasi« unter Beweis stellten. Album I und mehr noch Teil II sind offene Räume für Improvisation, in denen sich mal mehr, mal weniger Songstrukturen entdecken lassen. Von den treibenden Kraut-Grooves, jazzigen Bassläufen, schwebenden Gitarrenstrichen und sanften Synths geht aber stets eine hypnotische Faszination aus. Atmosphärische Soundscapes für aufgeschlossene Ohren. Lars Tunçay

Flora Hibberd

Flora Hibberd

Swirl

Swirl

Zu unserem Glück motivierten die Londonerin Flora Hibberd ihre Pariser Kunstfreundinnen und -freunde dazu, ihrem feinen Gespür für musikalische Ideen nachzugehen und Ausdruck zu verleihen. Zu ihren unüberhörbaren Vorbildern zählen Cat Power, Leonard Cohen und Aldous Harding. Ihre eigene Klangwelt bewegt sich passenderweise irgendwo zwischen Indie-Folk und entspanntem Jazz-Pop. Über ihre Arbeit sagt die Musikerin: »Es ist nicht leicht zu erklären, wie Songwriting überhaupt funktioniert. Nicht, weil es sonderlich schwierig oder geheimnisvoll ist. Aber die einzelnen Schritte zum fertigen Song sind nebulös und können sehr intuitiv sein. Man braucht schon ein wenig Vertrauen, dass einen der Song an die Hand nimmt.« An jenem Vertrauen fehlt es der Britin nicht. Dementsprechend kommt ihr Debüt-Album auch ätherisch, verspielt und homogen daher. Seinem Namen macht es alle Ehre, ist dabei aber ein sehr sanfter Strudel. Die außerirdische Stimme Hibberds nimmt uns sofort gefangen und trägt uns durch dieses zurückgelehnte Album. Kay Engelhardt

Chris Imler

Chris Imler

The Internet will break my Heart

The Internet will break my Heart

Über das Internet zu sprechen oder zu singen, ist so 2008. Könnte man meinen. Ähnlich wie die Zweigeschlechtlichkeit im Jahr 1950 ist es heute eine allgemeingültige, vollkommen alternativlos erscheinende Tatsache. Den Berliner Underground-Papst Chris Imler hält das indes nicht davon ab, es dennoch thematisch ins Zentrum seines neuen Albums zu stellen. Vielleicht auch deshalb, weil er – Jahrgang 1959 – zu jener seltener werdenden Spezies gehört, die das Prä-Internet-Zeitalter noch bewusst miterlebt hat. In den frühen achtziger Jahren war er Teil der virulenten Westberliner Post-Punk-Szene. Solokünstler wurde er erst in den frühen 2010er Jahren – also in einem Alter, in dem viele Subkulturschaffende längst die Beine hochlegen. Seitdem hat Imler sich mit zahlreichen legendären Auftritten sowie drei Alben eine kleine, dafür aber höchst eingeschworene Fanschar erspielt. Die wird, so kann man annehmen, auch mit dem neuen, hier vorliegenden Album wachsen. Denn erneut versteht Imler es, mit Songs wie dem Titeltrack, »Un solo Corpo« oder »Me Porn, you Porn« einen höchst eigenwilligen Mix aus analogen und elektronischen Klängen zu kreieren, der soundästhetisch irgendwo zwischen DAF, Suicide und Alien Sex Fiend einzuordnen ist. Zwar erreicht auch »The Internet will break my Heart« nicht die Intensität von Imlers irren Liveshows – doch an dieser Messlatte kann man auch nur scheitern. Luca Glenzer

Tocotronic

Tocotronic

Golden Years

Golden Years

Wer nach 32 Jahren Bandgeschichte das 14. Album veröffentlicht, hat es sich zweifellos verdient, dieses »Golden Years« zu nennen – Sentimentalitätsüberschussgefahr hin oder her. Die Ex-Hamburger und seit Kurzem – ca. 25 Jahren – in Berlin ansässige Band Tocotronic hat sich das jedenfalls nicht nehmen lassen und setzt nach »Die Unendlichkeit« und »Nie wieder Krieg« erneut aufs bewährte Pathos. Bereits der vorab ausgekoppelte Uptempo-Track »Denn sie wissen, was sie tun« machte dabei deutlich, dass die Band um Sänger und Frontmann Dirk von Lowtzow sich wie bereits auf den drei vorangegangenen Alben von allzu kryptischen lyrischen Pirouetten verabschiedet hat. Oder anders gesagt: »Eins zu eins ist jetzt vorbei« ist längst vorbei. Anno 2025 heißt es in Richtung AfD, FPÖ & Co: »Diese Menschen sind gefährlich, denn sie wissen, was sie tun« und »Darum muss man sie bekämpfen, denn sie werden zahlreicher.« Ja, das kommt mitunter grenzwertig plakativ daher, aber ist trotz alledem immer noch verdammt catchy! Mit »Ein Rockstar stirbt zum zweiten Mal« und »Jeden Tag ein neuer Song« gibt es dieses Mal bloß zwei Songs, die auch nach mehrmaligem Hören nicht so recht zünden wollen. Dem gegenüber stehen mehrere starke wie der Opener »Der Tod ist nur ein Traum«, der Titeltrack oder »Vergiss die Finsternis«. Und mit »Bleib am Leben« präsentieren Tocotronic gar einen waschechten Überhit, der angesichts der politisch-gesellschaftlichen Krisenlage gerade zur rechten Zeit erscheint. Zugleich unterstreicht der Song mit seinen hüsker-düesken Noise-Gitarren- Kaskaden zum vorerst letzten Mal den kaum ersetzbaren musikalischen Mehrwert des langjährigen Lead-Gitarristen Rick McPhail, der nach Beendigung der Albumaufnahmen seinen Ausstieg aus der Band verkündet hat. Luca Glenzer

Sinem

Sinem

Köşk

Köşk

Was haben Anadolu Pop und Post Punk gemein? Wenn es nach der Münchner Sängerin Sinem Arslan Ströbel geht: ziemlich viel. In ihrem neuen Musikprojekt namens Sinem verbindet sie das Schwelgerische mit dem Kantigen und damit das Beste und Interessanteste aus beiden Welten. Damit vollbringt sie zugleich das Kunststück, dem längst ausgereizten Nach-Punk das erste Mal seit viel zu langer Zeit so etwas wie Innovationskraft zu entlocken. Dabei war das zunächst gar nicht ihr Ziel: Denn ursprünglich wollte Arslan Ströbel vor gut einem Jahr bloß ein paar Türkpop-Smash-Hits für den runden Geburtstag der Oma einstudieren. Nach einem gemeinsamen Jam mit ihrem Mitbewohner, dem Drummer Tom Wu, war dann aber schnell die Idee für ein gemeinsames Musikprojekt geboren. Dass nun, knapp 15 Monate später, bereits das Debütalbum mit dem Titel »Köşk« in den Startlöchern steht, ist genauso sensationell wie die acht Songs, die sich darauf befinden. Mitunter klingen sie, als wäre Cem Karaca eine musikalische Liaison mit Siouxsie Sioux eingegangen – und Sinem Arslan Ströbel ihres Werkes Kind. Luca Glenzer

Eva Klesse Quartett

Eva Klesse Quartett

Stimmen

Stimmen

Die Welt ist laut. So laut, dass leise Stimmen darin zumeist kein Gehör finden und somit untergehen. Anders ist das auf dem neuen Album »Stimmen« des Eva Klesse Quartetts, das sich zum Ziel setzt, das Volumen des Leisen und Unscheinbaren zu erhöhen. Die darauf enthaltenen 13 Stücke drehen sich in drei Kapiteln um Geschichten, die von gesellschaftlichen Umbrüchen, von Widerstand, Träumen und gescheiterten Utopien handeln. Dafür hat die Schlagzeugerin und Bandleaderin ihre Band mit Evgeny Ring (Saxofon), Philip Frischkorn (Piano) und Marc Muellbauer (Bass) um die Gäste Michael Schiefel (Stimme), Zuza Jasinska (Stimme) und Philipp Rumsch (Sound-Design, Electronics) erweitert – und mit ihnen auf Texte von Carolin Emcke, Ellen Hellwig, Yulia Tsvetkova und anderen zurückgegriffen. Diese werden zumeist in Spoken-Word-Manier von Klesse selbst vorgetragen. Musikalisch aufgelockert wird das Album durch wiederholte chorale Passagen sowie charakteristische, aber nie überbordend wirkende Solopassagen. Im Laufe des Albums entwickeln die Stücke so einen Sog, der gleichermaßen beruhigend wie begeisternd wirkt und dem man sich kaum zu entziehen vermag. »Es ist alles geliehen – aus Büchern, aus Erzählungen, aus der Geschichte«, heißt es im eröffnenden »Equatation (Intro)«. Das stimmt! Doch am Ende des Albums transzendieren sich die geliehenen Einzelstimmen, so dass sie nicht mehr separiert voneinander stehen, sondern ein neues, großes Ganzes ergeben. Luca Glenzer

Chartreux

Chartreux

Fatigue

Fatigue

Eingängige Hardcore-Punk-Melodeien, eine Spur Postcore: Der Skateboard-Slam ist hier so unvermeidbar wie überzeugend. Nur kommen Chartreux nicht aus den USA, sondern aus Leipzig. Sound und Kompositionen sind für eine hiesige Garagenpunk-Band ungewöhnlich, gerade in ihrer Genreklarheit. Dass die elf Songs in knapp zwanzig Minuten durchgespielt sind, lässt reines Hardcore-Geballer erwarten. Doch ist die Platte in Tempo und Melodie ab-wechslungsreich gestaltet. Reichlich Hör- und Spielerfahrung klingen hier heraus, die nach dem Prinzip do it yourself die gemeinsamen Kompositionen antrieben. Zumindest scheint die Platte vor allem im Proben- und Jamprozess entstanden zu sein. Ermüdung ( »Fatique«) stellt sich auch beim Schleifenhören nicht ein – auch wenn die Cover-Katze so guckt. Im Gegenteil animiert die Musik zum Mitwippen, zur flotten Fahrradfahrt oder dosierten Roundhouse-Kicks. Diese vier mittelalten Männer will man unbedingt mal hier live sehen. Wenn im Zoro oder im Schuppen das Kondenswasser zu ihrer Musik von der Decke tropft, katapultiert das Erlebnis zurück in die Hochphasen westlicher Garagenpunk-Musik mit weißem Mittelklassetouch. Tobias Prüwer

Sofie Royer

Sofie Royer

Young-Girl forever

Young-Girl forever

Ein eindrucksvolles Popgewand zeigt Sofie Royer, indem sie eingängige wie leichtfüßige Synthesizermelodien verwebt. Die wieder in Wien lebende Künstlerin scheint sich dabei vom Leuchten der achtziger Jahre inspirieren zu lassen, lässt aber auch ihr Interesse an der melancholischen Stimmung von Chansons anklingen. Jene akzentuiert sie mit druckvollen Gitarrensoli, wie etwa im Song »Lights out Baby, Entropy!«, oder verzerrt ihre Stimme entlang der Melodie im Song »Saturdee Nite«. Überhaupt wirkt ihr Pop erst so eindrucksvoll durch die warme Klangfarbe ihrer Stimme. Und mit jener singt sie im Track »Young-Girl (Illusion)«: »Don’t mess with a Girl that wears a Rabbit Fur« und »Left in what could have been nice at first but was just another Illusion«. Sie enthüllt mit starken Symbolen und Bildern Song für Song ihre (selbst-)kritische Haltung zu populärer Musik. Zu ihren französischen, englischen und deutschen Texten inspirierten sie zum einen Interviews mit dem Regisseur Rainer Werner Fassbinder, wesentlicher aber noch die Schrift »Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens«. Letztere veröffentlichte Tiqqun, ein französisches Kollektiv aus Autorinnen und Autoren, die in der gleichnamigen philosophischen Zeitung über Antikapitalismus, Situationismus und Feminismus schreiben – Themen, die auch Royer faszinieren. So spielt »Young-Girl forever« mit Rollenvorstellungen, Konsum und Kunst, klingt vielseitig und bleibt trotz der großen Themen herrlich tanzbar. Claudia Helmert

Roger Robinson

Roger Robinson

Heavy Vibes

Heavy Vibes

Vollendung einer Werk-Trinität. Das bestens bezeichnete »Heavy Vibes« ist das dritte Jahtari-Album des T.-S.-Eliot-Preisträgers Roger Robinson, dessen Selbstbezeichnung »British resident with a Trini sensibility« lautet. Der im UK geborene Sohn von Immigranten aus Trinidad wuchs dann wiederum dort auf und lebt heute teils auch da. Der Bogen wird also von der Karibik über London geschlagen, konkret das subkulturell mythisch aufgeladene Brixton, nach: Connewitz. Denn dort residiert Disrupt, in dessen Homestudio die minimalistisch rollenden Riddims mit Dunkelstimmen-Poesie bestückt wurden. Diese changieren zwischen post-karibischem Sozialkommentar in der Tradition der kämpferischen Dub-Poetry eines Linton Kwesi Johnson und abstrakteren Gefühlsbildern, wie sie Robinson auch in Kooperation mit Kevin »The Bug« Martin bei King Midas Sound performt. Die mit Dub-Effekten verzierten Schwerlast-Vibe-Transporter stammen auf diesem Album allerdings nicht allein aus reiner Disrupt-Produktion, sondern von der weltweiten Jahtari-Family, von Tapes, Naram, Jura Soundsystem, Maffi und Bo Marley. Dadurch bleibt das Geschehen stets abwechslungsreich. Das Cover jedoch kommt direkt aus der Familie, nämlich von Kiki Hitomi im Nachbarzimmer, die wiederum in der Frühphase bei King Midas Sound mitwirkte. Kleine große Welt und gute schwere Vibes! Alexander Pehlemann

Fritzi Ernst

Fritzi Ernst

Jo-Jo

Jo-Jo

Songs über Körperflüssigkeiten, Depressionen und Heartbreak, dazu Humor zwischen Pausenhof und Eck-Kneipe: Mit dieser Mischung erscheinen Schnipo Schranke 2014 auf der Bildfläche. Damit können sich damals – von Feuilleton bis WG-Party – erstaunlich viele Menschen anfreunden (bis auf die Welt natürlich, die hier gleich den popmusikalischen »Ekel-Feminismus« aufziehen sieht). Das alles währt allerdings nur kurz: 2019 ist Schluss und beide Hälften des Duos machen seitdem mit eigenen Projekten weiter. Daniela Reis mit Partner Ente als das Synthpop-Duo Ducks on Drugs und Fritzi Ernst halt einfach als Fritzi Ernst. Die schließt 2021 mit ihrem Solo-Debüt »Keine Termine« dann auch an den bekannten Schnipo-Style an, macht allerdings ihre eigene Version daraus. Körperflüssigkeiten spielen keine so große Rolle mehr, Depressionen und Versagensängste sind aber weiterhin zentrale Themen. Vor allem wird Ernst zur Advokatin des Unperfekten und der Erschöpfung, zelebriert die Lust am Keine-Lust-Haben. Das alles wird nun auch auf »Jo-Jo« weitergeführt. Allerdings ist das zweite Album deutlich optimistischer und wird vom Label als »more lighthearted« angekündigt. Auch das Themenspektrum ist um einige neue Aspekte erweitert: Etwa wird die Trennung von Schnipo Schranke reflektiert und mit »Märchen« gibt es sogar so etwas wie einen handfesten Love-Song. Ansonsten findet man aber auch hier wieder radikal simples Songwriting und Fritzis naiv-unprätentiöse bis stellenweise infantilen Lyrics (etwa, wenn sie von ihren »Freundis« singt, die ihr helfen, oder Textzeilen wie »Upsi Upsi Ups« zum Besten gibt). In den besten Momenten entwickelt das einen ganz eigenen, interessanten Charme, gerät dann aber doch häufig in arg seichtes Fahrwasser und bleibt leider hinter dem äußerst vielversprechenden Vorgänger zurück. Yannic Köhler

Michael Kiwanuka

Michael Kiwanuka

Small Changes

Small Changes

Es sind die kleinen Veränderungen, die Michael Kiwanukas viertes Album so wertvoll machen. Klar, das ist immer noch unverkennbar Kiwanuka, aber der Sound ist reduzierter, zurückhaltender, nicht so groß inszeniert. Seine Stimme wird nicht überlagert, sein Charakter nicht überwältigt vom eigenen Sound. Fünf Jahre Zeit hat sich der Londoner für den Nachfolger vom mit dem Mercury-Prize gekrönten »Kiwanuka« gelassen. Er musste seine eigene Stimme wiederfinden, sagt der 37-Jährige, die Motivation und Inspiration, Musik zu machen. Das Ergebnis wirkt fast beiläufig, dabei aber brillant. Die Melodien saugen sich fest in der Erinnerung, die Stimme ist makellos, die Musik sehr groovebetont. Für den richtigen Klang haben wieder Danger Mouse und Inflo als Produzenten gesorgt, mit denen Kiwanuka seit seinem zweiten Album »Love & Hate« von 2016 zusammenarbeitet. Wobei diesmal die Waage eher in Richtung Inflo tendiert, bei dessen Projekt Sault Kiwanuka mitwirkt. Weniger pompöse Streicher-Arrangements, dafür mehr intime akustische Instrumentierung tun diesem Album und diesem Künstler gut. Vor allem, wenn Legenden wie Bassist Pino Palladino beteiligt sind, der schon mit vielen Größen, darunter Beyoncé und Adele, Elton John und Eric Clapton, zusammenarbeitete. Palladinos Basslauf bestimmt nicht zuletzt »Rest of me«, den besten Song des Albums, der an Seal erinnert, in seiner besten Phase wohlgemerkt. Kein Wunder, teilen er und Kiwanuka doch die Liebe für den Northern Soul der Sechziger. Lars Tunçay

Lambrini Girls

Lambrini Girls

Who let the Dogs out

Who let the Dogs out

Familienduell mit den Lambrini Girls: 100 Leute wurden gefragt, welche Themen auf einem feministischen Album nicht fehlen dürfen. Und los: gläserne Decke, Dick-Pics, Mansplaining, Victim-Blaming … Check, Check, Check und Check! Und auch ein zusätzliches Check für das kompromisslos druckvolle Schlagzeug. Das Trio aus Brighton knüpft nach der ersten Single und EP-Veröffentlichungen auch mit dem Debüt- Album »Who let the Dogs out« nahtlos an die Riot Grrrls aus den Neunzigern an und überträgt sie ins Heute. Nicht, weil es damals so geil war – sondern notwendig. Und das ist es immer noch. Auch heute in Zeiten von Wokeness muss es noch Initiativen für Save-Clubbing oder Subway-Shirts geben, um Frauen vor Belästigung zu schützen. Wie die Riot Grrrls vor 30 Jahren wüten die Lambrini Girls auf dem Album bunt und laut gegen Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Nicht, um ein Bild zu bedienen, sondern um gehört zu werden. Auch heute gibt es trotz Väter-Zeit auf Arbeit und Girls’ Day in Schulen noch einen enormen Gender-Pay-Gap und Frauen leisten den Großteil der Care-Arbeit. Das ist die Realität der Lambrini Girls Phoebe Lunny und Lilly Macieira, die live um Schlagzeugerin Banksy ergänzt werden. Und es ist die Realität von uns allen. Deswegen ist auf den elf Songs von »Who let the Dogs out« Raum, um den Mittelfinger auch gegen rechte Hetze oder den überbordenden Nationalismus in Großbritannien auszustrecken. Und deswegen verwehren sich die Lambrini Girls – bei allem Respekt – auch dagegen, Bikini Kill zu sein. Sie haben vielmehr ihre eigene Realität, auf die sie pissed sein können. Und ihr Ventil dafür ist Noise-Punk. Kerstin Petermann

Collectif9

Collectif9

Rituæls

Rituæls

Das kanadische Streicherensemble Collecitif9 stellt mit seinem vierten Studioalbum ein eindrucksvolles Ergebnis durchdachter Konzeptarbeit vor, das musikalisch voll überzeugt. Das 2011 gegründete Streichnonett verbindet in »Rituæls« vor allem zeitgenössische Kompositionen grundverschiedener Stile zu einem großen Epos. Die einzelnen Stücke von Michael Tippett (1905–1998), Bryce Dessner (*1976, The National) und den kanadischen Komponistinnen Jocelyn Morlock (1969–2023) und Nicole Lizée (*1973) werden dabei durch verwebende Elemente ineinander überführt. Dies geschieht mithilfe musikalischer Mittel von Bordunklängen, ausgehaltener Töne oder sich unmerklich verwandelnder Akkorde. Eine kollektive Improvisation eröffnet mit schlichten Klangflächen und leitet damit Hildegard von Bingens »O vis æternitatis« ein. Im Archaischen verbleibend, schließt sich Arvo Pärts »Psalom« im Spannungsfeld zwischen simpler Melodik und aufgeladener Stille an. In »Another living Soul« von Nicole Lizée werden fantastische, schaurig amorphe Klanglandschaften durchquert, die von den klagenden Melodien aus Michael Tippetts »Lament« abgelöst werden. Bruce Dessners »Aheym« ist daraufhin eine befreiende Komposition voll energetischer Rhythmen, die in den ruhigen Modulationen von Pärts »The Beatitudes« münden. Bruce Dessners »Tenebre« beschließt die Aufnahme mit einem fragilen Klangteppich. »Rituæls« entstand 2020 zunächst als Teil eines Konzertfilms. Collectif9 ist es mit fantastisch ausbalancierten Besetzungen und der überzeugenden dramaturgischen Linie aber gelungen, ein musikalisches Erlebnis zu schaffen, das keiner visuellen Extras bedarf. Christian Böddener

Rolf Kühn

Rolf Kühn

Fearless

Fearless

Vor zwei Jahren verstarb mit Rolf Kühn der erste und einzige deutsche Jazzklarinettist von Weltformat. 1929 in Köln geboren, wurde er in Leipzig musikalisch sozialisiert – wo sein jüngerer Bruder Joachim geboren wurde –, bereits 1956 verließ er die Stadt aber und lebte fortan in den USA, wo er unter anderem mit Benny Goodman, Tommy Dorsey und Chet Baker zusammenspielte. Später zog es ihn in den Westen Deutschlands. Im vergangenen Jahr erhielt er posthum mit seinem Bruder Joachim den Deutschen Jazzpreis für sein Lebenswerk. Warum er das verdient hat, das unterstreicht das vorliegende Album, das er kurz vor seinem Tod noch eingespielt hat. Dessen zehn Stücke vereinen alles, wofür Kühns Klarinettenspiel Zeit seines Lebens stand: seinen klaren, warmen Ton, seine unnachahmliche Ausdruckskraft und seine leichtfüßige Bewegung zwischen Struktur und Spontanität, Komposition und Improvisation. Geradezu rührend wirkt das Video zum vorab ausgekoppelten »Somewhere«, in dem er – einsam im Aufnahmeraum sitzend – merklich selig seine Tonspur einspielt. Schaut man genau hin, beschleicht einen das Gefühl: Mehr als das brauchte er nicht. Ein bisschen Ruhe, Zeit und eine Klarinette. Das Leben kann so einfach sein. Luca Glenzer

Various Artists

Various Artists

No further noise

No further noise

Seit 2017 veranstaltet der Leipziger Gitarrist Jonas Dorn in regelmäßigen Abständen die Konzertreihe »no further noise« im Leipziger Café Ino. Anlässlich der 50. Ausgabe der Reihe hat Dorn sich und die Reihe nun mit einer Vinyl-Jubiläumsveröffentlichung selbst beschenkt. Auf der Platte enthalten sind Aufnahmen verschiedener Besetzungen aus den Jahren 2017 bis 2024. Die Liste der daran beteiligten Musikerinnen und Musiker liest sich wie ein Who’s who der freien Leipziger Jazzszene: Neben Dorn selbst sind unter anderem Olga Reznichenko und Philipp Rumsch an den Keys, Kontrabassist Robert Lucaciu sowie die Drummer Max Stadtfeld und Daniel Klein zu hören – ebenso wie die Londoner Bassistin Ruth Goller. Musikalisch erweisen sich die Aufnahmen als überraschend konsistent: Dorns Gitarren-Arpeggios ziehen sich wie ein roter Faden durch die Stücke. Flankiert werden sie von mal noisigen, mal sanft dahinschwebenden Electronics. Eine äußerst feine wie zugleich unterstützenswerte Veröffentlichung! Luca Glenzer

Hologram Hug

Hologram Hug

In a dark Room

In a dark Room

Wie eine warme Umarmung im Leipziger Winter fühlt sich die neue EP »In a dark Room« von Hologram Hug an und weckt dabei Sehnsucht nach etwas Unbekanntem. Atmosphärische Klänge, psychedelische Melodien und kristallklare Synths tragen das zuhörende Publikum durch die Songs. Das Duo-Projekt besteht aus den Brüdern Ryan und Atom Park, die in den Suburbs von Charleston in South Carolina geboren und aufgewachsen sind und in Leipzig ein neues Zuhause für sich und ihre Musik gefunden haben. Als Hologram Hug spielen sie mit einer Mischung verschiedener Genres und verbinden Psych-Pop mit Elementen aus Minimal-Techno. Schon »Shutdown« entfaltet durch verträumte Melodien einen Herzschlag-ähnlichen Beat und einen hypnotischen Aufbau sowie eine perfekte Einleitung. Während »Break a Day« oder »Wait« mit fernen Klängen eine beruhigende, fast schon ambientartige Stimmung erzeugen, gibt »Free Love« gegen Ende noch einmal alles: Es geht darum, loszulassen, frei zu sein und – wie der Titel verspricht – frei zu lieben. Mit »Néné«, dem technoidsten Track der EP, schließt das Werk ab – dunkle Beats, sphärische Melodien, verzerrte Stimmen und flimmernde Synths sorgen für ein würdiges Finale. Celina Riedl

The Cure

The Cure

Songs of a lost World

Songs of a lost World

Viele hatten schon gar nicht mehr damit gerechnet, dass dieses Album noch erscheinen würde. Für 2019 war das neue Cure-Album erstmals angekündigt, seitdem wurde es Jahr für Jahr verschoben. Andererseits: Was sind schon fünf Jahre im Vergleich zu der mittlerweile 48 Jahre währenden Bandgeschichte? Eben. Die allerdings erweist sich auch schon seit mindestens 32 Jahren als exorbitant großer Schatten, aus dem die Band seitdem kaum noch hervorgetreten ist. Seit dem 1992er-Album »Wish« ging es musikalisch jedenfalls rapide bergab für die Band. Insofern war die Spannung groß, als im Oktober die vorab ausgekoppelte Single »Alone« erschien. Und siehe da: Gleich nach wenigen Takten war klar, dass sich die Band soundtechnisch zurück in die Achtziger bewegt. Daran schließen die übrigen sieben Songs des Albums an. Das Problem aber ist: Im Gegensatz zu ihren Meisterwerken wie »Disintegration« oder »The Head on the Floor« sind der Band die Jahrhunderthooks ausgegangen. Zwar singt Robert Smith auch mit seinen mittlerweile 65 Jahren noch immer wie ein einsamer Wolf in seinen besten Jahren bei Mitternacht. Man kann sich nur leider 30 Minuten später in der Dusche nicht mehr an seine Melodien erinnern. Für ein paar schaurig-schöne Momente beim allabendlichen Stadtspaziergang taugt das Album zwar allemal – für mehr aber auch nicht. Luca Glenzer

Madison Cunningham & Andrew Bird

Madison Cunningham & Andrew Bird

Cunningham Bird

Cunningham Bird

Madison Cunningham und Andrew Bird spielen und touren seit gut einem halben Jahrzehnt zusammen. Jetzt sind sie angetreten, um allen Nerds für Musikgeschichte ein feines Lächeln auf die Lippen zu zaubern. Denn »Cunningham Bird« ist ein komplettes Cover-Album. Das Original dazu stammt von Lindsey Buckingham und Stevie Nicks, die später als Mitglieder von Fleetwood Mac zu größerer Popularität gelangten. Anfang der Siebziger war das Liebespaar völlig abgebrannt in Los Angeles gelandet – sein Album »Buckingham Nicks« von 1973 war für Polydor ein kommerzieller Flop. Inzwischen ist es eine gefragte Rarität und wartet seltsamerweise immer noch auf einen Re-Release. Wenig verwunderlich nimmt sie konsequent den Soft-Rock von Fleetwood Mac vorweg. Cunningham und Bird drücken der Vorlage versiert und galant ihren folkigen Stempel auf. Birds Markenzeichen, die Violine, kommt ausgiebig zum Einsatz. Und dass ihre beiden Stimmen perfekt harmonieren, wird hier erneut bestätigt. »Cunningham Bird« ist ein absolut solides Album. Nicht nur für Nerds. Und für alle Neulinge eine gute Gelegenheit, sich in das nicht minder spannende Original einzuhören. Kay Engelhardt