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Rezensionen

Jan Gerdes

Jan Gerdes

East-West-Central-South

East-West-Central-South

Mit seinem neuesten Album stellt Jan Gerdes eine persönliche Auswahl afrikanischer zeitgenössischer Klaviermusik aus dem Zeitraum 1987–2022 vor – die im Kontext westeuropäisch-amerikanisch geprägter Neuer Musik durchweg vertraut und recht traditionsbewusst wirken. Deren sechs Komponistinnen und Komponisten stammen aus Südafrika, Äthiopien, Nigeria und dem Kongo. Den meisten Klavierstücken liegt dabei eine klangorientierte, postimpressionistische Haltung zu Grunde. Umso mehr freut sich der Hörer an punktuell aufleuchtenden individuellen Seitenwegen, musikalischen Randbemerkungen, Strukturen und besonderen Rhythmen. Clare Lovedays (*1967) erste Johannesburg-Etüde eröffnet die Platte dabei recht eigenwillig, mit rauen, dichten Akkordmustern, die sich – nach immer mehr Raum greifend – energetisch und irregulär pulsierend über die gesamte Klaviatur ausdehnen, während sich Lovedays kontemplativere Etüde Nr. 2 eher mit Nachklängen und Resonanzen beschäftigt. Atmosphärisch sind auch die drei Stücke »Schau-fe(r)n-ster« von Andile Khumalo (*1978), denen man die klangorientierte Prägung durch Komponisten wie Salvatore Sciarrino oder Tristan Murail anhört, die Jan Gerdes nuancenreich auslotet. Mit Chidi Obijiako (*1990) durchwandert man bei »A Walk in a misty Morning« verschiedene unerwartet auftauchende Situationen in einer Stadtlandschaft – teils klanglich, manchmal eher rhythmisch grundierte Bilder. Den fünf charaktervollen Miniaturen von Ezra Abate Yimam (*1961) liegt ein nahezu ungebrochen romantischer Gestus zugrunde. Jan Gerdes stellt das Repertoire mit viel Sinn für Charakter, Klangfarbe und die individuellen Besonderheiten jeder einzelnen Komposition vor. Anja Kleinmichel

Brigitte calls me Baby

Brigitte calls me Baby

The Future is our Way out

The Future is our Way out

Angeblich geht der Name der fünfköpfigen Band aus Chicago auf einen Briefwechsel des jugendlichen Wes Leavins mit Leinwandgöttin Brigitte Bardot zurück. Das passt ebenso zum großen Narrativ wie die Beteiligung des Sängers am Musical »Million Dollar Quartet«, in dem es um das Treffen zwischen Elvis, Johnny Cash, Jerry Lee Lewis und Carl Perkins 1956 in einem Studio geht. Mit dem Musical ging Leavins sieben Monate auf Tour und lernte Dave Cobb kennen, neunfach Grammy-prämierter Produzent. Cobb gewann Leavins für den Soundtrack des Films »Elvis« von Baz Luhrmann und produzierte schließlich auch das Debüt von Brigitte calls me Baby, der Band die Leavins mit seinen Mitstreitern in Chicago gegründet hatte. Eine erste EP erschien bereits im Herbst letzten Jahres; wie die übrigen nun auf »The Future is our Way out« versammelten Stücke im legendären RCA-Studio in Nashville aufgenommen. In ihren Songs verbinden die fünf die üppige Romantik des Pop aus der Mitte des Jahrhunderts mit der frenetischen Energie und Intensität des Indierocks der Jahrtausendwende. Cobb lässt der Musik Luft. Da bleibt mal eine Gitarre, mal ein Schlagzeugrhythmus stehen. Über allem schwebt der hymnische Gesang von Leavins, dem Crooner, dessen Timbre an Morrissey erinnert, aber mehr noch an Elvis Presley und Roy Orbison, mit deren Musik er aufwuchs, ebenso wie mit den Songs der New Romantics. All das vermischt das Quintett zu einer nicht wirklich homogenen, aber stets melodiefixierten Melange. Da ist für jeden Pop-Aficionado was dabei. Und nicht zuletzt für alle Smiths-Fans, die sich zu Recht von Morrissey abgewandt haben. Lars Tunçay

Ensemble Ambidexter

Ensemble Ambidexter

Ensemble Ambidexter

Ensemble Ambidexter

Die ersten Takte von »T. Wave« wirken unkonventionell, doch schon bald entfaltet sich eine Klangwelt, die zwischen Jazz und zeitgenössischer Klassik eine eindrucksvolle Symbiose eingeht. Mit seinem Debütalbum bietet das achtköpfige Ensemble Ambidexter einen reizvollen Spagat zwischen den zwei Genres. Die Dramaturgie des Albums folgt einem subtilen Spannungsbogen, der die Hörenden mal sanft, mal kraftvoll durch unterschiedliche Stimmungen leitet. Jazz und Klassik treten zuweilen als ebenbürtige Partner auf, die sich gegenseitig bereichern und inspirieren. Gelegentlich überlässt einer dem anderen das Feld. Die Musikerinnen und Musiker verweben jazzige Elemente mit klassischen Strukturen, die sich nahtlos ergänzen und zu einem harmonischen Ganzen verschmelzen. So entsteht ein Klangteppich, der zugleich vertraut und neu wirkt, der zum Träumen einlädt und durch seine Vielschichtigkeit fesselt. Das Album ist eine Reise durch zwei musikalische Welten, die auf beeindruckende Weise zusammengeführt werden. Ein Debüt, das mit jedem Hören an Tiefe gewinnt und Lust auf mehr macht. Isabella Guzy

Ghost Dubs

Ghost Dubs

Damaged

Damaged

Dub hat per se etwas Raum Schaffendes, wenn die Elemente in Hall fallen oder die Delays zwischen Talwänden fliegen. Die massiven und zugleich skelettierten Geisterdubs von Michael Fiedler – der auf mehr als zwanzig Jahre Produzenten-Sein blicken kann und zuletzt vor allem als Jah Schulz Respekt sammelte – rollen dabei schon dem Namen nach im vibrierenden Dunklen und walzen über eine verfinstert karge, anscheinend schwer beschädigte Landschaft. Dabei treffen die abstrakteren Momente der letzten Jah-Schulz-LPs auf die minimalistischen Soundscapes, die er unter bürgerlichem Namen veröffentlicht – verfeinert mit urbanen Dub-Ästhetiken aus der Hardwax-Schule: Chain Reaction, Basic Channel, Rhythm & Sound oder Pole aka Stefan Betke, der hier auch gemastert hat. Gekrönt wird das Ganze von jener Bass-brutalen Unerbittlichkeit und klanglichen Schärfe, die von Pressure-Produkten erwartet werden darf, ganz im sensualistischen Sinne der Hardcore-Attitude des Label-Masterminds Kevin Martin aka The Bug. Dystopie-Dance der Saison! Alexander Pehlemann

Chime School

Chime School

The Boy who ran the Paisley Hotel

The Boy who ran the Paisley Hotel

Andy Pastalaniec ist das Mastermind hinter dem Projekt Chime School. Im zarten Alter von vier Jahren machte er bereits mit sichtlichem Vergnügen Tanzschritte zu Motown-Songs, wie ihm seine Eltern kürzlich auf Filmmaterial zeigten. Definitiv kein schlechter Start in die Welt der Musik. Ein paar Jahrzehnte später haben es ihm eher britische Bands der späten Achtziger und frühen Neunziger angetan: Orange Juice, Talulah Gosh und Teenage Fanclub sind gute Adressen im Chime-School-Kosmos, was bereits das gleichnamige Debüt klangvoll unter Beweis stellte. »The Boy who ran the Paisley Hotel« ist nun die konsequente Fortsetzung des Erstlings. Wieder springen uns zuckersüße Melodien und flirrende Gitarren entgegen. An allen Ecken und Enden der Platte gibt es kleine, feine Details zu entdecken. Pastalaniec ist im positiven Sinne ein Kontrollfreak. Mit seiner Erfahrung als DJ, Radiomoderator und Toningenieur in Los Angeles war es eine lehrreiche Herausforderung für ihn, auch das zweite Album im Alleingang aufzunehmen und zu produzieren. Und selbst wenn ein Song »(I hate) The Summer Sun« heißt, lassen wir uns nicht beirren und genießen den sonnengetränkten Sound dieses Albums in vollen Zügen. Kay Engelhardt

Noga Erez

Noga Erez

The Vandalist

The Vandalist

Wer kennt es nicht? Es ist ein sommerlicher Sonntagmorgen, ziellos begibt man sich auf die Straße und plötzlich ist sie da, die noble Verschenkekiste, die der gute Nachbar (oder bitte noch lieber die gute Nachbarin) hingestellt hat. Manchmal findet man heiße Sachen darin und manchmal eher die Schande alter Unterhosen. Nach diesem Prinzip kann man sich dem dritten Album der israelischen Künstlerin Noga Erez annähern, das am 20. September bei Atlantic Records erscheint. Es wird streng davon ausgegangen, dass Erez für die Kreation von »The Vandalist« eine ganze Packung Musikkekse verschlang. Nostalgie-high vermischt sie Klanglandschaften aus Old-School-Hip-Hop der neunziger Jahre und energetischem Zweitausender-Pop mit einer Portion palmenfesten Reggaetons, ihrer makellosen Rap-Kunst und einem Gesang, der frei und teils überambitioniert zwischen Billie Eilish und Adele changiert. Klingt nach viel? Stimmt, es ist leider auch zu viel, so viel, dass man keine Kohäsion zwischen den 16 Songs der Scheibe feststellen kann. Erst das letzte Stück »Oh thank you« offenbart uns so etwas wie ein Konzept des anspielungsreichen Albums: Da nennt Erez pausenlos zwei Minuten lang in Klavierbegleitung ihre Einflüsse beim Namen: von Massive Attack, Eminem und Christina Aguilera, über Tarantino, Ringo Starr und Nina Simone bis hin zu Kendrick Lamar, Snoop Dogg, Britney, Cardi B, Kelis … Die Liste ist lang. Bei der Zusammentragung solcher Vielfalt kann es nicht wundern, dass manches feurig wirkt und manches eben nicht – so, wie bei den Verschenkekisten ist es ein Fifty-fifty-Geschäft. Libia Caballero-Bastidas

International Music

International Music

Endless Rüttenscheid

Endless Rüttenscheid

Auf dem neuen und dritten Album »Endless Rüttenscheid« von International Music verheißt nicht nur der Titel des ersten Songs Kraut. Natürlich haben die drei Musiker aus Essen auch diesmal wieder alle Musikrichtungen einfließen lassen, die in der Kombination Gitarre, Bass und Schlagzeug spielbar sind. So wechseln sie zwischen Beat & Boogie (Sechziger), Krautrock (Siebziger), New Wave (Achtziger) sowie Shoegaze und Postrock (Neunziger) hin und her. Manchmal passiert das auch innerhalb eines Songs. Die Produktion der zwölf Titel wirkt im Vergleich zu den vorangegangenen Veröffentlichungen reduzierter. Mit abermals Olaf Opal als Produzenten ist ihnen damit eine wundervolle musikalische Konkretisierung auf das Nötigste gelungen. Schon mit ihrem ersten Album »Die besten Jahre« (2018) haben International Music einen ganz eigenen, unverkennbaren Sound entwickelt, dessen konsequente Weiterführung auf »Endless Rüttenscheid« definitiv zu finden ist. So simpel wie genial ist auch das Konzept, alte Songs in einer verfremdeten Version noch mal zu veröffentlichen. Lyrisch arbeiten sie mit humorvoller Melancholie (oder melancholischem Humor). Ihre Texte sind mal »ein heller Funke im Rewe«, mal ein »Liebesformular« an die Möglichkeiten der Sprache. Am liebsten würde man im Proberaum auf der Couch sitzen, um bei der Entstehung dieser Songs dabei zu sein – das wäre wirklich »ein guter Ort, zu bleiben«. Fiona Lehmann

Conny Frischauf

Conny Frischauf

Kenne Keine Töne

Kenne Keine Töne

»Kenne Keine Töne«: Was soll, was möchte uns ein Album dieses Titels sagen? Ist es eine Aufforderung oder eine Zustandsbeschreibung? Beides ist möglich, so wie ohnehin viele Interpretationen möglich sind auf jenem vielgestaltigen Album, das nach »Die Drift« das zweite Solowerk der Wiener Klangkünstlerin Conny Frischauf darstellt. Erneut bewegt sie sich darauf zwischen poppiger Leichtigkeit und elektronischer Experimentierlust. Stimmlich erinnern die Songs wiederholt an die Kölner Sängerin Stefanie Schrank, die kürzlich mit »Schlachtrufe BRD« eine neue EP veröffentlicht hat. Soundästhetisch hingegen geht Frischaufs Ansatz weit darüber hinaus und verweist in seiner Weitläufigkeit eher an Kraut- und Ambient-Pioniere der 1970er Jahre wie Cluster, Brian Eno oder Tangerine Dream. Töne, Geräusche, Laute und Stimmen bilden einen dichten Soundkosmos, der bei geschlossenen Augen einen wahnwitzigen Film hervorzurufen vermag. Das in der Mitte des Albums platzierte Stück »Zwei Minuten« darf mit seiner durchgehenden Stille hingegen als Hommage an John Cages bahnbrechendes Werk »4'33« aus dem Jahr 1952 verstanden werden und fügt sich nahtlos ein in »Kenne Keine Töne«. Luca Glenzer

Autobahns

Autobahns

First LP!

First LP!

Man sollte es von Zeit zu Zeit wiederholen: Punk ist dem Ursprung nach nicht bierselig, machistisch und ideologisch verbohrt. Vielmehr war seine Frühform im New Yorker Underground der mittleren 1970er Jahre oftmals weiblich, queer, verspielt und überaus weird. Weird ist auch der Punk des Leipziger Quintetts Autobahns, das viele der frühen Szeneideale verkörpert und seine Musik konsequenterweise als »Weird Punk« bezeichnet. Nun hat es seine erste LP veröffentlicht. Was aber ist so weird an der Musik? Zum Beispiel die Synthiesounds, die sich mitunter anhören, als habe Supermario höchst persönlich sie auf seinem 8-Bit-Synthie eingespielt. Das Tempo der Songs ist standesgemäß hoch angesiedelt. Einzig »Silver Trauma« und »Loss Of The Rights« bewegen sich im Mid-Tempo-Bereich. Letzteres ist mit vier Minuten Spielzeit zugleich der opulenteste Track des Albums. Der Rest überschreitet nur selten die symbolische Zwei-Minuten-Marke. Keine Frage: »First LP!« macht Spaß. Aber wie es sich für eine gute Punkplatte gehört, kann sie das irre hohe Niveau der schier irren Liveshows von Autobahns nicht halten. Gut so! Denn im Zweifel gehört Punk auf die Bühne, nicht auf den Plattenteller. Luca Glenzer

Die Verlierer

Die Verlierer

Notausgang

Notausgang

Bekümmert, aber niemals träge, so klingt auch die zweite Veröffentlichung der Gruppe Die Verlierer. Für ihren Sound rauschen die Gitarren, ächzen und träumen bisweilen. Die Drums brausen, preschen vorwärts, während der Bass rumort. Die Wut aus ihren Bäuchen fließt direkt in die Lyrics. So tropft der Frust aus den Zeilen des Songs »Notausgang«, wenn es lautstark heißt: »Die Spaltung vorangetrieben, durch Populisten und Kapital …«. Auch mit kraftvollen Parolen klagen sie an, wie im Song »Fick diese Stadt«: »… vertreibt die Menschen, die in ihr wohnen, und verkauft ihre Kultur«. Mal raunt der Gesang von Hannes Berwing (auch Teil der Gruppe Maske), mal erstarkt, mal beschwingt die charismatische Stimme von Oska Wald (auch Musiker der Band Chuckamuck) eindrucksvoll. Die Verlierer geben uns unweigerlich zu verstehen, wie ihre innere Unruhe klingt. Ob die Musiker eingängige Töne anschlagen, die sogleich dazu verleiten, ihre Parolen mitzusingen, oder mit geräuschvollen, experimentellen Klängen beeindrucken: Mit der aktuellen Veröffentlichung denken Die Verlierer ihr energisches Debüt aus dem Jahr 2023 weiter. Sie singen von Veränderung, sie sind laut und beweglich. Keine Frage, die fünfköpfige Band aus Berlin versteht sich auf Brachiales. Sie wuchten ihre Worte in die Welt und dem lauscht man nur zu gern! Claudia Helmert

CHBB

CHBB

CHBB

CHBB

Ein klarer Fall von: endlich! Veröffentlicht ursprünglich 1981 in Eigenedition auf vier Kassetten mit je zwei Songs, limitiert auf fünfzig Stück, hatten die elektronischen Post-Punk-Sounds von CHBB geradezu mythischen Status. Bisher kursierten nur teure Bootlegs diverser Formate. Diese Lücke wird nun mehr als gefüllt, denn diverse Zusatzstücke überverdoppeln den Umfang. Den Nachruhm garantieren dabei zwei Faktoren. Einerseits die scharfkantige Grundcharakteristik eines brachialen Dystopie-Dance stark unterkühlter Attitüde, die am tiefen Horizont bereits Electric Body Music und Industrial-Techno aufflammen lässt. Andererseits die Personen: Denn CHBB steht für Chrislo Haas und Beate Bartel, die von DAF beziehungsweise Mania D. sowie den frühen Einstürzenden Neubauten kamen und ihr Material auf dem Weg zu Liaisons Dangereuses entwickelten. Dort, wo kurz darauf das Konzept um spanisch-französischen Gesang erweitert und so extrem erfolgreich wurde. Alexander Pehlemann

Damian Dalla Torre

Damian Dalla Torre

I Can Feel My Dreams

I Can Feel My Dreams

Mit »I Can Feel My Dreams« legt der in Leipzig beheimatete Multiinstrumentalist Damian Dalla Torre sein zweites Album vor. Während sein vor zwei Jahren erschienenes Debüt »Happy Floating« eine instrumentelle, mitunter opulent instrumentierte Avant-Pop-Platte war, schaltet Dalla Torre auf seinem neuen Werk einen Gang zurück. Beats sucht man darauf vergeblich, stattdessen dominieren sphärische, mitunter paralysierende Soundlandschaften den Klang der Platte, die von einer warmen, zumeist hoffnungsvollen Grundatmosphäre geprägt ist. Bei aller Komplexität von Stücken wie »Santi«, »Acryl« oder dem Titelstück zeugt »I Can Feel My Dreams« durch seine unprätentiöse, zugängliche Soundästhetik von großer künstlerischer Reife. Dass seine musikalischen Wurzeln im Jazz liegen, wird harmonisch dabei immer wieder deutlich. Zugleich weist das Album weit darüber hinaus. Den Großteil des Albums hat Dalla Torre – der bis 2018 in Wien und Leipzig studiert hat – während eines Aufenthaltes in Santiago de Chile komponiert. Mehrere der auf der Platte zu hörenden Instrumente spielte er dabei selbst ein – unter anderem Klarinette, Organelle, Tenorsaxofon und Querflöte. Hinzu kommen zahlreiche Gastauftritte anderer Musikerinnen und Musiker: Darunter befinden sich die italienische Bassistin Ruth Goller, der Sänger und Komponist Finn Ronsdorf, die österreichische Harfenistin Miriam Adefris und viele weitere. Nicht zuletzt ihr Zutun trägt dazu bei, dass »I Can Feel My Dreams« bis dato zu den spannendsten Ambient-Veröffentlichungen dieses Jahres gezählt werden kann. Luca Glenzer

Aaron Frazer

Aaron Frazer

Into The Blue

Into The Blue

Frazers Solo-Debüt »Introducing« von 2021 war eines der besten Neo-Soul-Alben der letzten Jahre und setzte einen sehr hohen Standard in dem Genre. Produziert vom umtriebigen Black-Keys-Mastermind und ausgewiesenen Soul-Experten Dan Auerbach war und ist es ein ausgefeiltes, verspieltes und überaus rundes Meisterwerk. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an den Nachfolger »Into The Blue«. Stimmlich kann Frazer Vorbildern wie Curtis Mayfield und Sam Cooke erneut locker das Wasser reichen und weiß am Mikrofon zu überzeugen. Leider übertreibt er es diesmal mit dem Genre-Surfen. Nach dem Hören des Albums steht Ratlosigkeit: War das ein Italo-Western-Soundtrack? Oder ein Hip-Hop-Album? Oder hat der Autor versehentlich einen Mainstream-Radiosender eingeschaltet? Eigentlich wäre all das, außer dem Letztgenannten, überhaupt kein Problem. In diesem Fall wirken die Songs leider häufig richtungslos und lassen die Pointiertheit des Debüts vermissen. Es bleibt das ungute Gefühl, dass Frazer mit dieser Platte etwas zu bedürftig nach dem ganz großen Publikum schielt. Eine Handvoll Lichtblicke wie der Titeltrack und »Easy To Love« entschädigen die Hörerin und den Hörer dennoch. Und lassen auf das nächste Album hoffen. Kay Engelhardt

Big Special

Big Special

Postindustrial Hometown Blues

Postindustrial Hometown Blues

Wir leben in einem Zeitalter der großen Depression – persönlich, sozial und generationsübergreifend. So bezeichnet es Joe Hicklin und er hat allen Grund dazu. Nicht nur, weil er mit seinen eigenen Dämonen ringt, sondern weil er es im Black Country tut. Die Gegend rund um Birmingham ist geprägt von der Kohle- und Stahlindustrie, die ihr den Namen verlieh. Der rußgefärbte Himmel ließ schon vor 200 Jahren kaum Platz zum Träumen. Im Post-Brexit-Britannien und mit dem Niedergang der Industrie ist der Horizont noch ein wenig schwärzer geworden. Sänger Hicklin und Schlagzeuger Callum Moloney fühlen sich der Arbeiterklasse verbunden. Als Big Special rotzen sie den Frust der Menschen in die Welt. Die stilistischen Grenzen sind dabei fließend. »Postindustrial Hometown Blues« bezeichnet die Band treffend ihren Sound. Mal erinnert das an das amerikanische Duo Black Keys, mal grenzt es an den Rap von Mike Skinner aka The Streets, ebenfalls ein Brummie, wie die Einwohner Birminghams traditionell genannt werden. Zur druckvollen Kombination aus Schlagzeug und Sprechgesang gesellen sich Gitarre und Keyboard. Der Sound von Big Special klingt roh und reduziert, aber stets aufregend. Das Debütalbum versammelt etliche Singles und EPs, die im Zeitraum eines Jahres erschienen sind, klingt divers, aber dennoch unverkennbar. Eine fulminante Feel-Bad-Platte einer chronisch schlecht gelaunten Band, von der man sich nur allzu gerne anschnauzen lässt. Lars Tunçay

Christian FP Kram

Christian FP Kram

Verso l’interno – Klavierwerke

Verso l’interno – Klavierwerke

Düster ziehen die ersten Anschläge der »Impressions« – eingespielt von Pianistin und kreuzer-Redakteurin Anja Kleinmichel – in die neue Veröffentlichung »Verso l’interno« aus sieben Klavierwerken von Christian FP Kram. Den ersten Tönen wohnt eine bisweilen unheimliche und stets vereinnahmende Energie inne, die in ruhigen Momenten dazu einlädt, zu sinnieren, zu schwelgen, zu träumen. Die Welthaltigkeit, die Kram in seine Musik verwebt, zeigt sich deutlich in den beiden Stücken »Pace!« und »Adesso« aus dem Jahr 2014. Jene fügen sich nahtlos aneinander und fordern, übersetzt man die Titel, zu sofortigem Frieden auf. Die Melodien der beiden Soloklavierstücke (eingespielt von Max Ernst) erklingen auf einem scheinbar fernen, anfangs am Klavierkorpus geklopften Rhythmus, der eine vereinnahmende Weite suggeriert. Der Rhythmus gleicht Morsezeichen, die die emphatischen Stücktitel einmal mehr vermitteln. In anfänglich fragilen Höhen flirren, säuseln die Töne, die Melodie erstarkt zum Schluss. So hallt die Wucht, das Drängen des titelgebenden Imperativs wider. Das Album versammelt Kompositionen aus den Jahren 1995 bis 2015 und ist damit nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Schaffen des Wahlleipzigers, das neben etlichen Klavierwerken auch szenische und orchestrale Stücke wie Ensemble-, Chor- und Kammermusik umfasst. Ob in zarten, fragilen Momenten, wie etwa in »Deux poèmes – in memoriam Alexander Skrjabin« (2015), eingespielt von Alexander Meinel, oder mit stürmischen Impulsen wie den Akkordkaskaden im letzten Teil der »Three Postludes« (1995): Krams Klavierstücke klingen nach Musik gewordenen Introspektionen. Sie zeichnen eine düstere Stimmung, die selten verloren, weltabgewandt, sondern zumeist erzählerisch, nachdenklich tönt – und dem lauscht man gern und fasziniert. Claudia Helmert

Prince Istari Meets Erik Satie

Prince Istari Meets Erik Satie

Inna Heavy Dub Encounter

Inna Heavy Dub Encounter

Elektronische Klassik-Adaptionen sind nicht neu, erinnert sei an die Recomposed-Serie oder gar Wendy Carlos. Sogar Satie in Dub gab es schon, von Mark Stewart & The Maffia, 1987. Aber Prince Istari – das Dub-Alter Ego von Istari Lasterfahrer – griff wohl ohne Kenntnis jener Version zur gleichen Methode. Nämlich, bedächtig rollenden, extrem skelettierten Dub ohne viel Effekt-Dramatik mit Saties Hits zu koppeln, den Gnossiennes und Gymnopédies, seinem »Best-of der 1880er und 1890er Jahre«. Deren melancholische Einfach- und leichte Durchhörbarkeit markierte den Weg zur Möbelmusik. Ambient-Klänge also, wie aus einem RFT-Soundsystem sinkend, installiert in der rumänischen Pressholz-Schrankwand im sozialistischen Plattenbau. Imaginiert allerdings in Hamburg, wobei die bildungs- wie antibürgerliche Annäherung im Finale konkreter wird, bricht da doch punky Breakcore durch, während die Istari-Mutter am Klavier sitzt, die den kleinen Prinzen früh und nachhallend infizierte. Alexander Pehlemann

Prince Istari

Prince Istari

Meets Erik Satie

Meets Erik Satie

Elektronische Klassik-Adaptionen sind nicht neu, erinnert sei an die Recomposed-Serie oder gar Wendy Carlos. Sogar Satie in Dub gab es schon, von Mark Stewart & The Maffia, 1987. Aber Prince Istari – das Dub-Alter Ego von Istari Lasterfahrer – griff wohl ohne Kenntnis jener Version zur gleichen Methode. Nämlich, bedächtig rollenden, extrem skelettierten Dub ohne viel Effekt-Dramatik mit Saties Hits zu koppeln, den Gnossiennes und Gymnopédies, seinem »Best-of der 1880er und 1890er Jahre«. Deren melancholische Einfach- und leichte Durchhörbarkeit markierte den Weg zur Möbelmusik. Ambient-Klänge also, wie aus einem RFT-Soundsystem sinkend, installiert in der rumänischen Pressholz-Schrankwand im sozialistischen Plattenbau. Imaginiert allerdings in Hamburg, wobei die bildungs- wie antibürgerliche Annäherung im Finale konkreter wird, bricht da doch punky Breakcore durch, während die Istari-Mutter am Klavier sitzt, die den kleinen Prinzen früh und nachhallend infizierte. Alexander Pehlemann

DIIV

DIIV

Frog in boiling Water

Frog in boiling Water

Das Drama gehört zur Geschichte von DIIV. Die New Yorker mussten in der Vergangenheit schon einige Krisen durchstehen. Bassist Ruben Perez flog wegen rassistischer Pöbeleien aus der Band; Sänger Zachary Cole Smith entwickelte eine branchenübliche Heroinsucht; nach ihrem gefeierten 2019er Album »Deceiver« standen sie ohne Label da; die Pandemie machte das Touren unmöglich – Bands haben sich schon aus weniger gravierenden Gründen aufgelöst. Vier Jahre brauchten DIIV für ihr viertes Album, das sie an die Grenzen des Bandgefüges trieb. Sie investierten alles in das nun fertige Werk, setzten ihre Freundschaft und ihre Zukunft aufs Spiel. Es ist bemerkenswert, wie kohärent der Sound ist, trotz der individuellen Probleme, die im Aufnahmeprozess offen zutage traten. Im Proberaum werden sie zum Kollektiv. Bei all den privaten Problemen und gegenwärtigen Krisen in der Welt finden DIIV Rettung darin, auf den Quadratmeter zu ihren Füßen zu starren und den Rest auszublenden. »Frog in boiling Water« ist Shoegaze in Reinform – mächtig und intim, düster und erhaben, psychedelisch und hypnotisch. Die Gitarrenwände laden dazu ein, sich an sie zu lehnen und für einen Moment den Rest der Welt auszublenden. Cole Smith’ Gesang ist gleichermaßen klagend und umarmend, der Titel des Albums ein zynischer Kommentar zur Lage der Welt. Lars Tunçay

TOTL XS. CTRL

TOTL XS. CTRL

Baptist

Baptist

Think About Mutation (TAM) sind Legende. Deren Erbe zu pflegen, nicht totzureiten, daran machten sich TOTL XS. CTRL um Mastermind Adler seit 2015. Als das Wort Crossover noch nicht erfunden war, mischten die Leipziger TAM in den frühen neunziger Jahren Metal mit Techno; was Bands wie Rammstein später abkupferten. Das ist auch das Grundkonzept bei »Baptist« – nur viel feiner und komplexer. Vier musikalisch sehr unterschiedliche Nummern vereint die Platte, während es inhaltlich um menschliche Urängste geht. Gleich im ersten Song gibt es eine Überraschung mit dem Gast-Sprechsänger Rummelsnuff. Fast zum hübschen Krächzen setzt er an, als er sich über den teilweise nach Southern-Stoner klingenden Gitarrenteppich erhebt, um die Stimme dann in väterlichen Bass zu senken. Mit elektronischem Echoausloten geht »Isolation« los, in das schwirrende Saitenanschläge und das Howling von Stewa dringen. Gemütlich schwingt »Liebe« los, das nach 90 Sekunden in treibende Raserei übergeht, die so hübsch nach groovigem Neunziger-Metal-Techno klingt und direkt an TAM erinnert. In jedem Song sind zusätzlich Schnipsel aus Noise, Acid, verzerrte Samples und vieles mehr verbaut und feingeschliffen. Beim Schleifehören lässt sich immer Neues entdecken. Tobias Prüwer

Alan Vega

Alan Vega

Insurrection

Insurrection

»Dream Baby Dream« – bis heute klingen jene Zeilen in den Ohren Tausender frischverliebter Nihilisten. Sie stammen aus dem gleichnamigen Song des US-amerikanischen Duos Suicide aus dem Jahr 1977. Sänger Alan Vega und sein kongenialer Partner Martin Rev dekonstruierten darin schon Punk, als dieser gerade erst im Begriff war, sich herauszubilden. Ab den frühen achtziger Jahren war Vega darüber hinaus als Solomusiker tätig: 15 Alben folgten im Laufe der Jahre. Und selbst sein Tod im Jahr 2017 konnte seinem Schaffensdrang offenbar kein Ende setzen: Denn mit »It« und »Mutator« folgten zwei starke, bis dahin unveröffentlichte Werke aus seinem Nachlass. Mit »Insurrection« ist nun das dritte posthum veröffentlichte Album Vegas erschienen. Aufgenommen hatte er es bereits in den späten Neunzigern. Ähnlich wie auf »Mutator« klingt er auch darauf über weite Strecken so, als hätte der tote Elvis Presley im Jahr 1982 spontan mit der australischen Noise-Rock-Combo The Birthday Party im Proberaum von Kraftwerk gejammt. Will heißen: »Insurrection« vereint Schöngeistigkeit und Destruktionskraft, ganz so, als ob es sich dabei um eine geradezu naheliegende Melange handelte. Man muss es sich leisten können, so starke Songs wie »Crash«, »Invasion« oder »Cyanide Soul« über 20 Jahre in den Archiven verstauben zu lassen. Alan Vega konnte das. Luca Glenzer