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Rezensionen

Lea Ruckpaul

Lea Ruckpaul

Bye Bye Lolita. Berlin und Dresden: Voland & Quist 2024. 312 S., 24 €

Lea Ruckpaul.

Sich an Vladimir Nabokovs weltberühmter »Lolita« abzuarbeiten, aus der Perspektive von ebenjener fälschlicherweise zum Symbol der verführerischen Kindsfrau gewordenen Dolores zu erzählen statt aus der des Täters Humbert Humbert, kann das gelingen? Lea Ruckpaul, Schauspielerin und Autorin von szenischen Texten, wagt dies in ihrem Prosadebüt. Dolores hat bei ihr ihren Tod nur vorgetäuscht und kämpft noch als Erwachsene mit den Geistern der Vergangenheit. Sie erzählt aus der Perspektive der Frau, die sich erinnert, und zeitgleich aus der des Mädchens, das den Missbrauch erlebt hat. Das liest sich teils sehr drastisch, benennt klar, was passiert – der Übergriff eines Erwachsenen an einem Kinderkörper. In metaphernreicher Sprache lässt Ruckpaul, der man den Theater-Hintergrund anmerkt, Dolores wüten, sie verzweifeln, sie schließlich einen Ausweg in ein selbstbestimmtes Leben finden. Nicht immer gelingt dabei die zumindest anfängliche Parallelführung zu Nabokovs Geschichte, hier und da tun sich inhaltliche Lücken auf und man wünscht sich, Ruckpaul hätte sich schon früher selbstbewusst vom Original entfernt – etwa dann, wenn sie den eigentlich unzuverlässigen Erzähler Nabokovs in dessen Perspektive stützt, wenn sie schildert, wie Dolores ihn vor ihrer Abfahrt ins Sommercamp überfallartig küsst – und damit zumindest an dieser Stelle, sicher unbeabsichtigt, den Mythos der verführenden Kindsfrau eher untermauert als untergräbt. Das Untergraben des Mythos gelingt der Autorin jedoch insgesamt. Ihre starke, auch die Lesenden in ihrer Anklage nicht auslassende Sprache trägt den Text auch über die inhaltlichen Unebenheiten hinweg. Eva Burmeister

Serhij Zhadan

Serhij Zhadan

Chronik des eigenen Atems. 50 und 1 Gedicht. Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe. Berlin: Suhrkamp 2024. 124 S., 20 €

Serhij Zhadan.

Es ist nicht so, dass der Tod stumm wäre. Er beherrscht zum Beispiel das Russische in allen Registern, scherzt und poltert, zitiert Klassiker und Ganoven, kennt die ausgesuchteste Höflichkeitsformel, aber auch ein dreckiges Wörtchen, wenn es ihm angebracht scheint. Höchst flexibel und schnell wie eine Künstliche Intelligenz. Und doch hat er keine Sprache. Er äfft sie allenfalls nach. Ihm geht es wie einem jungen, von sich selbst hingerissenen Anfänger der Dichtung: Jede Silbe bedeutungsschwer wie ein Fallbeil, jeder Einfall von einer Weite und Leere wie der interstellare Raum. In Serhij Zhadans neuem, in der Ukraine 2023 erschienenem Gedichtband ist Sprache etwas, das sich zwischen Menschen ereignet, die sich einander »an der Stimme erkennen«, sei es in der Fremde des Exils, sei es im heimischen, bis zur Unkenntlichkeit zerbombten, vom Feind infiltrierten »Grenzland«. Sprache ist hier »die Freude, den Gleichgesinnten an einer winzigen Regung des Gesichts zu erkennen«, ist Selbstbeschwörung und Takt, ist Aufmerksamkeit für die zarten Lebenszeichen und Lettern im Schnee, ist Anteilnahme an der eigenen Stummheit: »Möge ich genug Geduld aufbringen, dein Schweigen anzuhören.« Diese Sprache braucht »den Mut zu benennen / und laut auszusprechen «, den Mut zu erinnern, zu bezeugen, zu widersprechen, aber: »Die Sprache braucht jene, / die leise sprechen / und überzeugend schweigen.« Zhadans Gedichte bewegen sich leise wie Meldegänger an der Grenze eines dröhnenden Schweigens, einer von Panzern überrollten, von Raketen und Drohnen überflogenen Grenze. Als vier Monate dauernde Zäsur klafft diese zwischen den beiden Teilen dieser »Chronik des eigenen Atems«, die in und um Charkiw entstandene Gedichte aus der Zeit vor dem 24. Februar 2022 und von danach versammelt. In ihrem Ringen um Sprache, um Sinn und um Menschlichkeit im Moment größter Gefahr erinnern sie an Davids Psalmen. Max Zschorna

Bruno Loth, Corentin Loth

Bruno Loth, Corentin Loth

Viva L’Anarchie! Aus dem Französischen von Maria Rossi. Wien: Bahoe Books 2024. 80 S., 22 €

Bruno Loth, Corentin Loth.

Ein Treffen im Paris des Jahres 1927 zwischen dem spanischen Anarchisten Buenaventura Durruti und dem ukrainischen Anarchisten und libertären Kommunisten Nestor Machno, bei dem Heldengeschichten und Erfahrungen ausgetauscht und Strategien und Theorien erörtert werden. Dieses Treffen bietet die Gelegenheit, das bisherige Leben beider Männer, ihren Weg in den Anarchismus und den Kampf dafür zu beleuchten, und nimmt den Großteil der Graphic Novel von Bruno und Corentin Loth ein, unterbrochen durch in Sepiatönen angelegte Rückblicke. Der Strich ist recht klar, ohne dabei statisch zu werden, die gedeckten Farben wohl der Epoche angemessen und die Hauptfiguren sind zumeist an einem physischen Merkmal gut zu erkennen und zu unterscheiden. In den turbulenteren Sequenzen hätten die Zeichnungen aber ruhig etwas dynamischer ausfallen können. Dafür sind sie übersichtlich geraten. Gerade die ruhigeren Panelfolgen ohne viele Dialoge entwickeln einen atmosphärischen Sog – das Ruderboot vor einem Leuchtturm ist eine eigene Rezension wert. Den Figuren trockene Lexikontexte in die Sprechblasen legen, ungünstige Farben wählen, die ein Unterscheiden der Figuren verkomplizieren, mehr erzählen als zeigen: Das sind häufige Schwächen von Historien-Graphic-Novels, und diese gibt es leider auch in diesem Band. Dennoch gelingt es »Viva L’Anarchie!«, Geschichte lebendig und detailreich zu vermitteln und die Motivationen der Figuren nachvollziehbar zu machen. Im Oktober soll der zweite Band erscheinen. Martin Burkert

Gabriele Tergit

Gabriele Tergit

Im Schnellzug nach Haifa. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Nicole Henneberg. Frankfurt/Main: Schöffling & Co. 2024. 256 S., 28 €

Gabriele Tergit.

Im November 1933 kam Gabriele Tergit mit ihrem Sohn im britischen Mandatsgebiet Palästina an, wo ihr Mann Heinz Reifenberg bereits als Architekt arbeitete. Zuvor lebte die deutsche Autorin und Journalistin im tschechoslowakischen Exil, nachdem die Nazis sie in der Nacht vor der Reichstagswahl bedroht hatten. Die liberale Jüdin Tergit fühlte sich ihrer Geburtsstadt Berlin eng verbunden – der Schmerz über die verlorene Heimat prägt viele ihrer Texte, die in Palästina zwischen 1933 und 1938 entstanden und nun im Band »Im Schnellzug nach Haifa« versammelt sind. Doch Tergit trat dem Unbekannten offen entgegen. Sie schildert Geografie und Klima des ihr fremden Landes ebenso interessiert wie die Städte, in denen muslimische, jüdische und christliche Bewohner nebeneinander lebten. Einigen Raum nehmen die jüdischen Gemeinschaftssiedlungen als mal idealistische, mal pragmatische Form des Wohnens und Wirtschaftens ein. Porträts bestimmen die zweite Hälfte des Bandes. Überschriften wie »Frommer aus Deutschland« oder »Junger Mann aus Polen« suggerieren Distanz, doch Tergits Stil ist immer anteilnehmend. Deutlich werden die verschiedenen Herkünfte der Einwandernden und welche Hoffnungen sie in die neue Heimat setzten. Während sie alle am Aufbau einer jüdischen Gesellschaft arbeiteten, führte die arabische Bevölkerung ein meist traditionelles, oft entbehrungsreiches Leben. Tergit ahnte, dass aus diesem Nebeneinander kein gemeinsamer friedlicher Staat entstehen würde. 1938 ging sie – auch aus diesem Grund – mit ihrer Familie nach London, wo sie bis zu ihrem Tod 1982 lebte. Angesichts des andauernden Nahostkonflikts öffnen Tergits Texte aus den Jahren vor Israels Staatsgründung ein kleines Zeitfenster und machen Geschichte wie Gegenwart greifbarer. Andrea Kathrin Kraus

Elke Schmitter

Elke Schmitter

Alles, was ich über Liebe weiß, steht in diesem Buch. Einbildungsroman. München: C.H. Beck 2024. 348 S., 26 €

Elke Schmitter.

Sie ist sehr fein und melancholisch, diese Ironie, die im Titel des neuen Romans von Elke Schmitter mitschwingt. Wer will nicht alles über Liebe wissen? Aber wie wenig dieses Wissen nützt, das in Büchern steht, das weiß nur das Ich, das sich selbst einmal rettungslos verloren hat. Helena ist erfolgreiche Künstlerin und alleinerziehende Mutter. Sie lernt Levin kennen und erlebt mit ihm ein paar wenige Tage der Verliebtheit. Eine bizarre Dynamik führt zur Trennung. In den folgenden Monaten durchlebt Helena qualvolle Zustände, sie schreibt und liest, redet mit Freunden und Therapeuten – unermüdlich verstehen wollend, wie das Geschehene und der damit einhergehende Kontrollverlust zu deuten sei. Elke Schmitter verfolgt das Phänomen des Verliebtseins auf vielen Wegen und streut in Fußnoten aktuelle Erkenntnisse über Narzissmus, Ghosting oder das Rätsel der spontanen Anziehung ein. Dieser »Einbildungsroman« ist vermutlich eher ein kunstvoller Aufarbeitungsroman. Helenas Tagebuchnotizen fangen nur knapp die äußeren Geschehnisse ein und konzentrieren sich ernst und integer ganz auf das Unerklärliche, das in ihr selbst stattfindet. Ein trauriger und abgründiger, aber niemals kitschiger oder pathetischer Roman, der allen Liebeskranken, Bindungstraumatisierten und Beziehungsgebeutelten unbedingt zu empfehlen ist. Juliane Zöllner

Anne Tyler

Anne Tyler

Drei Tage im Juni. Roman. Aus dem Amerikanischen von Michaela Grabinger. Zürich: Kein & Aber 2024. 208 S., 23 €

Anne Tyler.

Ein ganzes Eheleben auf nur 200 Seiten zu erzählen, unterhaltsam und im Ton ebenso liebevoll wie nüchtern: Die amerikanische Autorin Anne Tyler kann so was. Ihre Heldin in »Drei Tage im Juni« ist Gail, Anfang sechzig und Mutter von Debbie, die in diesen Tagen heiratet. Anlässlich der Hochzeit reist Max an, Debbies Vater, von dem Gail seit vielen Jahren getrennt lebt. Im Gepäck bringt er außerdem eine Katze aus dem Tierheim mit. Da Gail die Einzige ist, die auf die Schnelle Platz für die beiden hat, ziehen sie für drei Tage bei ihr ein. Die spröde, stets skeptische Gail ist nicht begeistert. Sie mag Max ja, er geht ihr nur auf die Nerven. Weil er das Leben leichtnimmt, während sie vor allem Probleme sieht. Sie mag auch Katzen, aber warum sollte sie deshalb eine bei sich aufnehmen? Die drei Tage, von denen Tyler hier erzählt, umfassen eine Beinahe-Kündigung, einen Schockmoment für die Braut, die Hochzeit selbst und eine längst überfällige Beichte. Die Ereignisse klingen dramatisch, vollziehen sich jedoch fast beiläufig. Die Autorin konzentriert sich vorrangig auf das ganz normale Leben zweier durchschnittlicher Erwachsener und legt so, Schicht für Schicht, das Besondere ebendieser beiden frei: eine stille Zuneigung, die sich Gail und Max über die Jahrzehnte hinweg bewahrt haben, unabhängig von den wechselseitig zugefügten Verletzungen. Diese zurückhaltende, aber spürbare Zuneigung trägt beim Lesen durch das Buch; ein starkes Band der Hoffnung in einer oft hoffnungslosen Welt. Am Ende ist man verliebt in dieses nicht mehr junge Immer-noch-Ehepaar. Und in die Katze. Andrea Kathrin Kraus

Enis Maci und Mazlum Nergiz

Enis Maci und Mazlum Nergiz

Karl May. Berlin: Suhrkamp 2024. 200 S., 18 €

Enis Maci und Mazlum Nergiz.

Karl May ist in Verruf geraten. Seine Helden Winnetou und Old Shatterhand verkörpern alles, wovon sich viele zeitgenössische Schriftstellerinnen und Schriftsteller lieber überdeutlich distanzieren: Rassismus, Schwindelei, kulturelle Aneignung (siehe Federschmuck und Kriegsbemalung). Schlimmer ist höchstens noch der Vater von Pippi Langstrumpf. Die Autoren Enis Maci und Mazlum Nergiz wuchsen nach eigenen Angaben ohne Mays Wildwest-Geschichten auf. Und wagen deshalb – quasi völlig unvoreingenommen – eine Annäherung an den sächsischen Autor und sein kulturelles Erbe: Angefangen habe alles »mit dem Winnetou-Remake von RTL 2016«, sagte Maci in einem Interview. Das Ergebnis ist ein wilder Ritt durch Zeit und Raum, vorbei an Bad Segeberg (wo jährlich die Karl-May-Spiele stattfinden), an dem »verwirrenden Weinbauwohlstand Radebeuls« (Karl Mays langjährigem Wohnsitz bei Dresden, wo es heute ein Museum und ein Fest zu seinen Ehren gibt), an der Karibik (wo er behauptete, eine Kaffeeplantage zu besitzen) – und natürlich an Nazi-Deutschland (obwohl Mays Erzählungen für Hitler nur wenig propagandistischen Wert hatten). Über einige Ecken stellen Maci und Nergiz Bezüge zwischen den Schauplätzen von Mays Erzählungen und den Jahrzehnten her, die seiner schriftstellerischen Tätigkeit folgen sollten – dem »wilden Kurdistan« und dem Völkermord an den Armeniern 1915 etwa, an dem sich auch kurdische Stämme beteiligten, weil ihnen im Gegenzug ein eigener Staat versprochen wurde. Der Text spielt darüber hinaus in Räumen, die außerhalb von Mays üblichem Referenzrahmen liegen, im Internet zum Beispiel. Denn das Phänomen Karl May lebt weiter: in Neuverfilmungen mit Wotan Wilke Möhring und Kindern, die sich zu Karneval als Indigene verkleiden. Die vielen Einzelteile setzt der Essay zu einer fragmentarischen Landkarte zusammen. Dazwischen befinden sich immer wieder QR-Codes, hinter denen sich ein zugehöriges Spotify-Album von Maximilian Weber verbirgt. (...) Lucia Baumann

Anton Weil

Anton Weil

Super einsam. Berlin: Kein & Aber 2024. 240 S., 22 €

Super einsam

Einsamkeit ist ein Problem, das nicht nur alte Menschen betrifft; spätestens seit der Corona-Pandemie ist klar, dass auch junge und vernetzte Menschen einsam sein können. Der Protagonist in »Super einsam« macht sich auf die Suche nach den »Wurzeln seiner Einsamkeit« und »erzählt von den großen Themen seiner Generation«, so der Klappentext. Die Frage ist: Welche Generation soll das sein? Teilweise ist Vito woke wie ein Gen Z (er korrigiert seinen Vater, der nicht korrekt gendert), teilweise verurteilt er Dinge wie ein Boomer (die junge Frau im Zug trage eine Gabel als Armschmuck). Eigentlich ist er ja ein Millennial, das wird daran deutlich, wie doll er seine Mama vermisst. Von dieser Generation scheint aber sonst nicht viel durch, außer vielleicht, dass er weder wirklich jung noch wirklich alt wirkt. Genauso unverständlich ist auch die Erzählstruktur. Es erstrecken sich Gedankengänge über ganze Seiten, bis sie nur noch langweilig sind und anstatt Verwunderung oder Spannung nur noch Frustration auslösen – da kann man sich dann aussuchen, ob Vito jetzt lost ist oder »ein Brett vor dem Kopf« hat. Ein Roman muss ja nicht immer die großen Fragen des Lebens beantworten, ein bisschen Inspiration wäre aber schön. Dazu sollte wenigstens ein Thema ausgemacht werden können. Angeschnitten (und nicht zu Ende erzählt) werden jedenfalls mehr als genug: Trauer, Liebeskummer, Streit mit dem Vater, Zweifel an der sexuellen Orientierung … Einsamkeit ist es in »Super einsam« jedenfalls nicht, die Komplexität des Begriffs geht vollkommen verloren. Die tote Mutter zu vermissen, der Ex-Freundin nachzutrauern und seine spärlichen Schauspiel-Honorare zu versaufen – das sind keine Symptome der Einsamkeit, sondern die einer schwierigen Lebensphase. Und man möchte Vito nicht mal in den Arm nehmen und sagen, dass alles gut wird, weil man sich einfach gar nicht mit der Figur identifizieren kann. Da muss er dann wohl allein durch. Alexander Böhle

Manfred Krug

Manfred Krug

Ich beginne wieder von vorn. Tagebücher 2000–2001. Berlin: Kanon 2024. 272 S., 24 €

Manfred Krug.

Was waren das noch für wunderbare Jahre, als Manfred Krug (1937–2016) in verschiedenen Maskeraden durchs Kino zog. Ich liebte ihn als Bauarbeiter, Mantel-und-Degen-Virtuosen, Klassiker-Interpreten. Später war er der Heiler der gebrochenen Herzen, wenn er reichlich verjazzt, gelegentlich nah am Schlager, von den seelischen Schmerzen der Menschen zu singen wusste. Er schaffte es, in der DDR einer von uns zu sein. Ihm nahmen wir alle Figuren ab, egal ob er als Brigadier oder Husar auf der Leinwand erschien. Selbst seine Ausreise im Zuge der Biermann-Ausweisung 1976 nahmen ihm nur ganz überzeugte Genossinnen krumm, so genial war sein Spiel, so unwiderstehlich sein Lächeln. Der Kanon-Verlag hat sich nun seiner Tagebücher angenommen, ediert und ausgewählt von Krista Maria Schädlich, enge Vertraute und Lektorin Krugs. Im Band 2000–2001, dem Abschluss der Trilogie, ist er auf der Höhe seines Schaffens, hat keinen Bock mehr auf »Tatort« und ähnlichen Fernsehquatsch und beginnt wieder zu musizieren. Obgleich ihm bei der Betrachtung alter »Tatort«-Folgen hin und wieder ein Tränchen der Rührung entfleucht, bleibt er hart und schart die Getreuen für neue Auftritte zusammen. Nebenher schreibt er glücklicherweise Tagebuch und geht mit sich und der schnöden Welt ins Gericht. Seine Einträge sind witzig, bissig, respektlos und politisch. Dümmliche Promis werden lakonisch geteert, verlogene Politiker nackig gemacht. Er kämpft gegen sein Übergewicht und ist lustvoll eitel, wenn er sich in seiner ganzen schöpferischen Pracht übers Essen und die Liebe auslässt. Mal ist er ein Tor, mal patzig, voll Schalk ist er immer, wenn er zum Stift greift. Ein lebensermutigendes Buch für Krug-Liebhaberinnen und -Liebhaber. Frank Willmann

Elaine Feeney

Elaine Feeney

Die seltsamste aller Zahlen. Aus dem irischen Englisch von Ulrike Brauns. Hamburg: Harper Collins 2024. 320 S., 24 €

Elaine Feeney.

Emory, ein kleiner Ort an der Westküste Irlands Anfang des 21. Jahrhunderts: Tess Mahon unterrichtet englische Literatur am Christ’s College, einer weiterführenden Schule. Einer ihrer Schüler ist Jamie O’Neill, Mathematikgenie mit starker »Fluchttendenz«. Mit Religion kommt er nicht zurecht, er braucht klare, eindeutige Fakten. Diese Einstellung ist schlecht in einer von den Dogmen der katholischen Kirche dominierten Schule. Sein großes Ziel ist die Konstruktion eines Perpetuum mobile. Die kinderlose Tess passt auch nicht ins Klischee der irischen Mutter, unter anderem daran scheitert ihre Ehe. Tess und Jamie legen Wert auf ihre eigene individuelle Lebensgestaltung und sind nur bedingt bereit, sich anzupassen. Aber sie wird für Jamie zu einer Art Schutzengel, er vertraut ihr. Sie ist für ihn »Orientierung, Ratgeberin«. Als Dritter im Bunde kommt der Werklehrer Tadhg Foley an das College. Er stammt von den Inseln im Westen vor Irland und ist aus der Enge der dortigen Gesellschaft geflohen. Foleys Projekt, ein traditionelles Currach zu bauen, ist für alle eine gemeinsame Aufgabe, die sie zusammenschweißt gegen den Widerstand von Pater Faulks, dem Direktor des Colleges. Das Boot wird an Jamies 14. Geburtstag zu Wasser gelassen und Jamie rudert allein den Fluss hinunter, bis zur Mündung und immer weiter nach Westen, dem mystischen irischen Paradies Tír na nÓg entgegen. Elaine Feeney schreibt mit wechselnder Erzählperspektive. So werden verschiedene Sichtweisen offenbart, die dem Roman Vielfalt und erzähltechnischen Reiz verleihen. Das Ende bleibt offen: Wo rudert Jamie hin, wie geht es mit ihm und den anderen weiter? Eine ansprechende Lektüre, insbesondere für Leserinnen und Leser mit Sympathie für Irland und seine Charaktere. Joachim Schwend

Antje Damm

Antje Damm

Das Nori sagt Nein! Frankfurt am Main: Moritz 2024. 48 S., 18 €, ab 4 J.

Antje Damm.

Eins vorneweg: Von Antje Damm sollte es in jedem Kinderzimmer mindestens ein Buch geben. Am besten mehrere! Denn Damms umfangreiches Portfolio lockt mit den unterschiedlichsten Arbeitstechniken – so sind die Figuren in ihren Büchern mal aus Holz, mal aus Pappe gebaut, bemalt, schließlich fürs Buch abfotografiert oder auch »einfach nur« illustriert. Darüber hinaus weiß die Buchkünstlerin mit den fantasievollen Bildern wichtige Themen aufzugreifen und spannende Geschichten zu erzählen. Für die Bilderbuchlandschaft ihres neuesten Werks »Das Nori sagt Nein!« nutzt Damm den Scherenschnitt. Hier dehnen sich große Bilder in Schwarz-Weiß auf einer ganzen Doppelseite aus. Nur wenige Tupfer Farbe hier und da setzen Akzente. Worum geht es? Das Nori, ein kleines, etwas struppiges Fantasiewesen mit spitzer Nase, lebt friedlich in seiner Erdhöhle und genießt ein Mahl aus roten Beeren, als plötzlich ein unheimliches Geräusch von riesigen Füßen das Tierchen in Angst und Schrecken versetzt. Daraufhin wird das Nori von einem Kind (eine Riesin!) in sein Zimmer entführt und soll dort in einem Puppenhaus wohnen. Als das Nori dann auch noch mit Erbsen gefüttert werden soll, hat es genug. Es brüllt aus Leibeskräften: »Nein!« Und siehe da: Die Riesin bringt das Nori wieder in seine Höhle zurück und lässt, wie zur Entschuldigung, noch ein paar rote Beeren da, bevor sie sich einträchtig verabschieden. Antje Damm erzählt unverkrampft und witzig zwei Geschichten gleichzeitig: die einer Grenzüberschreitung und die einer Selbstbehauptung. Darüber hinaus zeigt sie buchstäblich, dass die ganze Thematik nicht nur schwarz-weiß ist. So bietet das Buch Gesprächsstoff auf verschiedenen Ebenen und lädt zum Perspektivwechsel ein. Empfehlung! Jennifer Ressel

Sibylle Berg, Julius Thesing

Sibylle Berg, Julius Thesing

Mein ziemlich seltsamer Freund Walter. Frankfurt am Main: Fischer Sauerländer 2024. 144 S., 19,90 €, ab 10 J.

Sibylle Berg, Julius Thesing.

Sibylle Berg hat ein Buch für Kinder geschrieben: »Mein ziemlich seltsamer Freund Walter« erzählt von Lisa, die mit anderen Kindern »nicht so tolle Erfahrungen« macht, sprich: täglich gemobbt wird. Zu Hause sitzen die depressiven Eltern ihr Leben ab und auf dem Schulweg lauern brutale Möchtegern-Macker. So bleibt Lisa nichts anderes übrig, als auf ein Wunder zu hoffen – das zum Glück auch geschieht: Bei einem Ausflug auf die Erde bleibt der freundliche Außerirdische Klakalnamanazdta zurück, den Lisa aber Walter nennen darf und mit dem sie sich anfreundet. Auf Walters Planet stehen »kuscheln, spazieren gehen, mit Tieren spielen« in der Werteskala weit über Arbeit. Lisa soll von ihm Kung Fu lernen, um sich künftig besser wehren zu können. Und auch sonst wird Lisa, die zwar sehr schlau ist, aber nun mal keine Eltern hat, die ihr Biogemüse kochen, nicht mit Samthandschuhen angefasst. Gerade weil Walter nicht alles wie von Zauberhand schön macht, sondern Lisa realistischerweise gefordert bleibt, ist die Entscheidung, auch die Eltern über Nacht zu verwandeln, nicht ganz verständlich. Denn nicht nur Lisa findet den Mut, sich den Mobbern zu stellen und sich in der Schule mit jemandem anzufreunden − auch ihre Eltern erwachen dank einer Unterredung mit Walter aus ihrer Starre und sind fortan bereit, wieder Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Das ist zwar sicherlich das, was ein Kind sich wünscht, erscheint zugleich aber fast unrealistischer als ein Besuch aus dem All. Julius Thesing hat die Geschichte, die auf dem gleichnamigen Theaterstück Bergs beruht, liebevoll illustriert − besonders schön die Bushaltestelle »Zum dämlichen Spielplatz«. Berg-Fans werden hier genauso auf ihre Kosten kommen wie innere und tatsächliche Kinder, die ein wenig extraterrestrischen Zuspruch gebrauchen können. Anna Kow

Christof Meueler

Christof Meueler

Die Welt in Schach halten. Das Leben des Wiglaf Droste. Berlin: Edition Tiamat 2024. 304 S., 30 €

Christof Meueler.

Ganze fünf Jahre ist es mittlerweile her, dass mit Wiglaf Droste einer der großen Satiriker der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit starb. Seine Gegner, von denen es im Laufe der Jahre zahlreiche gab, werden ihn und seine bissigen Schmähschriften nie ganz vergessen. Doch auch seine Freundinnen und Freunde konnten über Nacht zur Zielscheibe seines Spottes werden. Der Journalist und Autor Christof Meueler hat mit »Die Welt in Schach halten. Das Leben des Wiglaf Droste« die erste Droste-Biografie vorgelegt. Meueler selbst ist ein enger Wegbegleiter Drostes gewesen und war als Feuilleton-Redakteur unter anderem 20 Jahre lang Drostes Ansprechpartner bei der Jungen Welt. Dort war Droste Mitte der neunziger Jahre gelandet, nachdem er zuvor aufgrund seiner zahlreichen Querschläge und Provokationsgelüste beim Neuen Deutschland (heute nd) und bei der taz geschasst worden war. Die Junge Welt hingegen hielt ihn aus, so dass er im Laufe der Jahre mit seinen Polemiken zu einem zentralen Aushängeschild der Zeitung wurde. Meueler erzählt das Leben Drostes in Episoden und verzichtet begrüßenswerterweise darauf, eine streng lineare Chronik vorzulegen. Mithilfe zahlreicher Quellen, Zitate und Einordnungen hat er stattdessen eine überaus unterhaltsame Geschichte zusammengetragen, die auch für Droste-Fans noch manche Überraschung bereithalten kann. Für Leipziger besonders interessant ist das Kapitel über seine Zeit in der Messestadt, in die er nach 25 Jahren Berlin geflohen war. »Schönheit, Freundlichkeit, fast italienisches Flair, Leichtigkeit und Anmut prägen das Gesicht Leipzigs überall dort, wo es die hässlichen Züge der ›Heldenstadt‹ ablegte«, schrieb er in der Jungen Welt. So freundlich fielen nicht viele Urteile Drostes aus. Luca Glenzer

Bell Hooks

Bell Hooks

Bone Black. Erinnerungen an eine Kindheit. Aus dem Amerikanischen von Marion Kraft. München: Elisabeth Sandmann 2024. 176 S., 24 €

Bell Hooks.

Durch ihre zahlreichen Bücher ist die 2021 verstorbene Bell Hooks auch in Europa längst zu einer prägenden Stimme des Feminismus geworden. Trotz ihrer Bekanntheit bleibt der Hintergrund von Gloria Jean Watkins alias Bell Hooks – das Schwarze Südstaaten-Amerika mit seiner Religiosität und seiner rassistisch bedingten Armut – für viele Menschen hierzulande fremd. Aber genau dieser Hintergrund formt den unverkennbaren Feminismus der Liebe von Hooks, die gar im eigenen Elternhaus »Zeugin des Todes der Liebe« geworden ist: Der Vater bedroht die Mutter mit der Pistole in der Hand. Das Kind, zerrissen zwischen Furcht und Zuneigung zur Mutter, wird von beiden zurückgewiesen, als es der Mutter zu Hilfe eilt. Das Mädchen prägt sich gerade im Umgang der Geschlechter miteinander eine zwischenmenschliche Brutalität ein, die erst im religiösen Kontext – jenseits von Rassenschranken – Heilung erfährt. Bereits 1996 in den USA veröffentlicht, liegen die Geschichten aus Hooks’ Kindheit nun in deutscher Übersetzung vor. Von kindlicher Magie durchzogen, zeigen sie, was es als Kind zu lernen gibt, ohne dass Erwachsene viele Worte darüber verlieren oder Erklärungen abgeben: Sexualität, Schwarz-Sein, Geschlechterrollen, Körperstrafen. Teils in Ich-Perspektive, teils mit Geschichten in dritter Person berichtet Hooks von sich als Problemkind, das nach Bildung hungert. Von der Familie halb verstoßen, von den Weißen nicht akzeptiert, ringt Bell Hooks um ihren Platz in der Welt. Trotz der erfahrenen Einsamkeit dringt die Wärme des Widerstands dieser Vorkämpferin eines afroamerikanischen Feminismus durch ihre Kindheitsgeschichten. Fabian Schwitter

Joyce Carol Oates

Joyce Carol Oates

Babysitter. Aus dem amerikanischen Englisch von Silvia Morawetz. Hamburg: Ecco 2024. 623 S., 24 €

Joyce Carol Oates.

Norden der USA, weiße Oberschicht, Ende der Siebziger. Rollengemäße Ehe. Unschuldige Kinder. Philippina-Haushälterin. Ahnungslose Ehefrau, geschäftsuntüchtig, Opfer einer Vergewaltigung. Lügen zur Wahrung der Fassade. Erpressung. Suburbia kontaminiert von Sexualverbrechen. Mommys heile Welt zerfällt. Das unwahrscheinliche Happy End trotzdem zu erahnen. Nichts berührt das weiße Upperclass-Amerika. Weil Hannah, die weiße Ehefrau, die Affäre mit ihrem Vergewaltiger verheimlicht, wird ein unbescholtener Schwarzer von der Polizei als vermeintlicher Täter in Downtown Detroit erschossen. Das Stereotyp des afroamerikanischen Vergewaltigers weißer Frauen – bewaffnet, drogenabhängig – tut sein Übriges. Auch der Ehemann denkt so. Dem schwarzen Polizeiopfer gesteht Oates kaum mehr Sätze zu, als in dieser Rezension zu finden sind – eine Gestaltungsform, die in ihrer Realitätsnähe schwer zu ertragen ist. Derweil liefern die Kindsmorde eines rätselhaften Serienkillers, der »Babysitter« genannt wird, eine grausige Kulisse für das Mommy-Drama. Der Roman der aus einer Arbeiterfamilie stammenden Joyce Carol Oates entlarvt die Tragik einer Valium-Mommy aus den Suburbs ebenso wie die etablierten Frauenrollen und die Geschäfte der Oberklasse. Ohne Zweifel: ein Roman mit Präzision, Spannung und Sog. Dabei ist die US-Oberschicht eigentlich der geringste Teil der Welt und bietet wenig Projektionsfläche. Ob Oates eine andere Geschichte hätte erzählen können? Wenn ja, dann wahrscheinlich ebenso gekonnt. Fabian Schwitter

Lisa Weeda

Lisa Weeda

Tanz, tanz, Revolution. Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann. Berlin: Kanon 2024. 176 S., 22 €

Lisa Weeda.

»Ihr braucht nicht zum Kämpfen kommen, (...) Spenden sind nicht nötig, und wir wollen auch keine Waffen. Ihr müsst nur für uns tanzen. Unseren traditionellen Tanz, den Svaboda Samoverzjenja«, sagt Anna in einem der Videos, die sie aus ihrem Dorf mitten im Krieg an ihre digitale Fangemeinde schickt. Die Videos sind ein Hype. Viele tanzten auch tatsächlich diesen rituellen Tanz, der die zu früh Verstorbenen aus dem Dazwischen zurück ins Leben holen kann, den Tanz gegen das Böse. Auch in ihrem zweiten Roman, dessen Titel das Computerspiel »Dance, dance, Revolution« zitiert, vermischt Lisa Weeda Fantastisches mit Realem, wühlt im Mythologischen und erzählt mit Wucht von Grauen und Gleichgültigkeit. Der Krieg in Besulia, einem kleinen, wenig bekannten Land, ist seit zweieinhalb Jahren vorbei, doch immer noch tauchen plötzlich Leichen der Kriegsopfer mitten in der heilen Welt auf, in Badezimmern, Betten, Büros der Start-ups, in Ateliers. Manche Menschen schaffen es, sie durch das Tanzen zum Leben zu erwecken. Doch die meisten werden vom Body-drop-off-Service abgeholt. Hier arbeitet auch Toni, deren Geschichte den Roman rahmt. Sie selbst kam vor vielen Jahren ebenfalls aus einem Kriegsgebiet, aus Upasi, einem Nachbarland von Besulia, und als Immer-noch-Fremde hat sie eben diesen wenig lukrativen Job. In den drei Kapiteln dazwischen reisen wir mit unterschiedlichen Protagonistinnen in der Zeit zurück, bis zum Ausbruch des Krieges. Die Orte sind fiktiv, die Parallelen eindeutig. Der Tanz ist die Bewegung, zu der alle in der Lage sind, die universelle Sprache der Körper. Tanzen heißt hinschauen und aufbegehren, solange wir tanzen, gibt es noch Hoffnung. Weeda ist auch diesmal ein Roman gelungen, der packt, aufrüttelt und lange nicht loslässt. Martina Lisa

Fine Gråbøl

Fine Gråbøl

Welches Königreich. Aus dem Dänischen von Hanna Granz. Hamburg: Ecco 2024. 173 S., 24 €

Fine Gråbøl.

Fine Gråbøl hinterfragt in ihrem Debütroman »Welches Königreich« ein staatliches Gesundheitssystem, das sich eine Schutzmauer aus Regeln, standardisierten Abläufen und Diagnosen errichtet hat. Es sind vor allem die Leerstellen in diesem Buch, die beim Lesen eine dumpfe Vorstellung davon vermitteln, wie es sich anfühlt, von einer psychischen Krankheit und einem dafür vorgesehenen Versorgungsapparat abhängig zu sein. Der Roman erschien 2021 auf Dänisch und liegt jetzt in deutscher Übersetzung von Hanna Granz vor. Im fünften Stock eines ehemaligen Pflegewohnheims leben fünf junge Erwachsene in einer betreuten Wohngemeinschaft wie in einem »Zuhause auf Probe«. Gemeinsam üben sie, Suppe zu kochen und sich auf einen eigenverantwortlichen Alltag vorzubereiten, der immer wieder in weite Ferne rückt, wenn es zu erneuten Krankenhauseinweisungen, Psychosen oder Gewaltausbrüchen kommt. Die intensive Wahrnehmung der Ich-Erzählerin von scheinbar belanglosen Gegenständen und zwischenmenschlichen Begegnungen verleiht dem Ort und den Menschen ihre Konturen: ein Stuhl, ein Bett, ein Spiegel, ein WG-Betreuer am Raucherbalkon, das Whiteboard in der Gemeinschaftsküche, die Wände eines Zimmers als schweigendes Publikum. Das Leben »auf der Fünf« wird von den psychischen Krankheiten und dem staatlichen System geprägt, das die Strauchelnden eigentlich auffangen soll. »Wieso fragt niemand nach dem Zusammenhang zwischen Fürsorge und Übergriffigkeit?«, stellt die Autorin in den Raum. Die Lücken in Gråbøls Erzählung entwickeln sich durch ihre bewusste Positionierung zu tragenden Elementen. Auf starke sprachliche Bilder in kurzen, episodenartigen Kapiteln folgen Pausen, die es den Lesenden erlauben, das Leben »auf der Fünf« nachzuempfinden, anstatt lediglich wie Voyeure am Rand zu stehen. Hanna Schneck

Tauno Vahter

Tauno Vahter

Die 11 Fluchten des Madis Jefferson. Salzburg/Wien: Residenz 2024. 256 S., 25 €

Tauno Vahter.

machtAuch in Estland werden Schelmenromane geschrie-ben. Doch nicht jeder ist ein Cervantes. Diese dünne Weisheit belegt Tauno Vahter in seinem brä-sigen Roman, der laut Klappentext in Estland einen renommierten Preis bekam. Wir folgen der traurigen Lebensgeschichte des estnischen Matrosen Madis Jefferson, der im zarten Alter von acht Jahren erstmals aus seiner Heimat abhaut: weil ihn keiner lieb hat, der Landstrich öde ist und die Menschen gemein sind. Schnell wird er am Hafen geschnappt und wieder nach Hause geschickt. Dort erwartet ihn die sorgengeplagte Mutter. Nun heißt es für Madis, auf die nächste Gelegenheit zur Flucht zu warten. Zwölf Jahre nach der ersten Flucht schafft er es endlich per Schiff nach Afrika und über die Fremdenlegion bis in die USA. Anstatt dort ein halbwegs freies Leben mit seiner Geliebten zu führen, kehrt er aus jugendlichem Leichtsinn und erfüllt von der Botschaft des Kommunismus nach Estland zurück, wo er Partei-funktionär wird. Als die Deutschen die Sowjetunion überfallen, flieht er mit den sowjetischen Besatzern nach Osten. Plötzlich beginnt ihn unterwegs das Gewissen zu plagen, er bricht mit den Kommunisten, erfindet eine amerikanische Identität und versucht die nächsten 45 Jahre, in die USA zu flüchten. Gulag, Psychiatrie, Sibirien, Lubjanka, Arbeitsplatzbindung, dem armen Madis und uns geduldigen Lesern bleibt in der Folge kein Klischee und kein Fettnäpfchen erspart. Verpackt in eine öde Sprache, ist dieser gedrechselte Roman weder schelmisch noch hinreißend. Frank Willmann

Judith Koelemeijer

Judith Koelemeijer

Mit dem ganzen Herzen. Das furchtlose Leben der Etty Hillesum. 1914–1943. Aus dem Niederländischen von Simone Schroth. München: C. H. Beck 2024. 607 S., 34 €

Judith Koelemeijer.

Nach der Publikation von Etty Hillesums Tagebüchern (s. logbuch 03/24) ist auch ihre Biografie erschienen: Hillesum war Zeitzeugin der Nazi-Diktatur in den Niederlanden. Das Buch ist nicht chronologisch, sondern thematisch strukturiert, mit Informationen zu ihren Freunden, Juden und Nicht-Juden, und prägenden Einflüssen. Wenn die Fakten fehlen, schildert die Autorin ihre Recherchen, Vermutungen und Schlussfolgerungen, und so ist die Biografie auch ein Forschungs- und Geschichtsbuch. Hillesums Familie waren keine orthodoxen Juden, aber sie wuchs als »jüdisches Mädchen« auf und fand durch ihre Erfahrungen zu ihrer jüdischen Identität. Sie beschreibt ihre Stimmungen, Ängste und Hoffnungen – »Das wird schon nicht so schlimm« – in ihrem engsten Freundeskreis. Eine innere Ruhe gibt ihr die Verpflichtung, ihren Landsleuten beizustehen auf ihrem Weg in die Lager und letzten Endes in die Gaskammern. Auch sie selbst muss im September 1943 mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder in einen Transport nach Auschwitz. Das Rote Kreuz nennt den 30. November 1943 als ihr Todesdatum. Ihre Freunde versuchten immer wieder, sie zum Untertauchen im Netzwerk des Widerstands zu bewegen – was sie stets ablehnte. Denn sie sah sich selbst als Teil der jüdischen Geschichte und leitete daraus ihre Pflicht zur »Basisarbeit« ab, als das »denkende Herz der Baracke«. Hillesums Traum war, dass die Menschen nach dem Horror des Nationalsozialismus »aus dem Schlamm kämen, als eine bessere, liebevollere Art Menschen«. Sie wollte eine »kleine Stimme« sein, die sich gegen Hass und Pauschalurteile auflehnt. Ihr letztes Lebenszeichen ist eine Karte, die sie aus dem Güterwagen des Transports nach Auschwitz warf und die gefunden und auf die Post gebracht wurde. Joachim Schwend

Thomas Kunst

Thomas Kunst

Thomas Kunst.

Weil er sie so liebt, oder weil unser Planet nur mit Katzenhilfe zu verstehen ist, lässt Thomas Kunst die Katze bereits im Titel aus dem Sack. Dahinter finden sich: Langgedichte, Sonette, Tanka und Kurzgedichte, und am Ende jedes Kapitels steht ein Brief an seine Katze. »WÜ ist mehr als nur eine Katze. WÜ ist Abholdienst von der Garage und abendliches Seelenheil. WÜ ist Bewegungsmelder und das erste Wesen, das mich morgens vor der Schlafzimmertür schon erwartet. WÜ ist eine Russisch-Blau. WÜ ist auch Wüste mit Wünschen.« Lyriker haben es heute nicht leicht, ihre Kunst an die Leserschaft zu bringen. Weil sie kaum noch jemand liest, sind Gedichtbände kleine geheime Feste der Sprache. Auch Thomas Kunst bietet ein Feuerwerk an Ideen, verwunschenen Sätzen und dick aufgetragenen Lebensweisheiten. Oft liefert er gleich einen handlichen Presslufthammer dazu, mit dem er in der nächsten Zeile wütend seine imaginären Lyrik-Bauten wieder einreißt. Leben heißt Fechten, Dichten heißt zuweilen, dem Elend der Welt die Harke zu zeigen, oder eben den Hammer. Mit codierten Aufträgen wie: »Meine Mama machte sich früher nichts aus ihren Haustürschlüsseln.« schickt Kunst uns nach Mecklenburg, um »einen Knoten in eine eng gewickelte Spirale aus Runddraht zu machen«. Wie schön, rufe ich aus und verkünde staunend Kunstens Kunst: »Die Elstern sind nur Elstern auf dem Feld. Ich habe mich an einem Reh verbrannt / Und sieze keinen Pinguin im Nebel.« Ansehnlicher geht’s nicht: Elstern, ein Reh und Pinguine im Nebel. Und das Ganze komplett ohne zu siezen! Wer sich auf WÜ einlässt, bekommt tausendfachen Lohn in guten Worten aus Thomas Kunsts bizarrer Sprachwelt ausgezahlt. Frank Willmann