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Rezensionen

Rüdiger Safranski

Rüdiger Safranski

Kafk a. Um sein Leben schreiben. München: Hanser 2024. 256 S., 26 €

Rüdiger Safranski.

Kürzlich erst sinnierte Alexandra Moe in The Atlantic darüber, dass wir alle falsch lesen würden. Um den Kern eines Werkes zu erkennen, sollten wir laut (vor)lesen. Das meinte auch Sven Regener im österreichischen Standard, als er über Kafka sprach (dessen Werke er eingelesen hat). Erst beim lauten Lesen erschließe sich der mehrdimensionale Kafka und dies bestärke »den Eigensinn« des Lesers. Ganz still und leise rezipiert hingegen der Germanist Rüdiger Safranski den Prager Autor. Eingangs steht hier Kafkas Diktum: »Ich […] bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.« Der Satz wird zum Kanon des Buches, in dem Safranski versucht, dem Autor beim Schreiben zuzuschauen. Kafka erlaubte dies aber nur während seiner Jugend und auf dem Totenbett. Die Zeit dazwischen ist der Deutungshoheit wie Überzeugungsarbeit des Deuters überlassen. Safranski scheint angesteckt zu sein von der Ekstase, die Kafka beim Schreiben empfand, und versucht, dessen Leben poetologisch zu ergründen. Seine Gegner sind die vielen Lesarten, unter denen Kafka »fast zu verschwinden« drohe. Im Ergebnis schaltet Safranski in den ihm vertrauten Modus des Biografen und gräbt bekannte Geschichten aus der Perspektive der literarischen Existenz seines Studiensubjekts aus – eine Perspektive, aus der Kafka eher zu einem von Roland Barthes’ »Papierwesen« wird. Als solches ist er dann Katalysator für wiederholte Auslegungen des literarischen Vermächtnisses. So kann Safranski den Kafka-Biografen Reiner Stach oder Klaus Wagenbach nur in seiner leicht zugänglichen wie stark gerafften Schreibweise etwas entgegensetzen. Die hier erschlossenen Lebenssituationen passen sich am Ende in die von Kafka einmal selbst gezogene Bilanz ein: »Ich habe nicht gelebt, ich habe nur geschrieben.« Marcel Hartwig

Cecilia Rabess

Cecilia Rabess

Alles gut. Aus dem amerikanischen Englisch von Simone Jakob. Köln: Bastei Lübbe 2024. 432 S., 23,99 €

Cecilia Rabess.

Jess – Schwarz, untere Mittelschicht – und ihr Studienkollege Josh – weiß, wohlhabend – zeigen deutlich ihre gegenseitige Abneigung, als sie sich auf dem College in New York zyum ersten Mal treffen. Nach ihrem Abschluss in Mathematik arbeitet Jess bei der Bank Goldman Sachs als Analystin und trifft dort erneut auf Josh. Er wechselt bald zu einer anderen Firma, wird Trader und verdient viel Geld. Er wirbt sie ab für sein Team und obwohl sie sehr gute Arbeit leistet, wird sie entlassen – sie passe nicht in die Firmenkultur, sei zu sehr »auf Krawall gebürstet«. Auf Joshs Wunsch zieht sie bei ihm ein, aus Freundschaft wird Liebe. Dann findet Jess ihren Traumjob bei einem sozialkritischen Non-Profit-Nachrichtenmagazin. Ihre Artikel stoßen in Joshs konservativen und turbokapitalistischen Kreisen zunehmend auf Widerstand und der schwelende Konflikt zwischen ihnen eskaliert; sie verlässt Josh. Neben der romantischen Liebesgeschichte im Stil einer Telenovela hat der Roman auch eine politische Ebene. Die Handlung beginnt 2008 mit der Wahl von Barack Obama und endet 2016 mit der Wahl von Donald Trump – und führt in die tief gespaltenen Vereinigten Staaten mit erzkonservativen Republikanern, liberalen Demokraten, Rassismus und »Black Lives Matter«. Rabess, die als Data Scientist bei Google gearbeitet hat und Associate bei Goldman Sachs war, verbindet in ihrem Debüt Gesellschaftskritik mit einer manchmal ins Sentimentale abgleitenden Liebesgeschichte – und das in teilweise deftiger Sprache. Ihre nuancierten Beobachtungen zweier Menschen, die ihre Beziehung zwischen kontrastierenden Überzeugungen, Alltagsrassismus und politischen Spannungen zu erhalten versuchen, führen allerdings zu lohnenswerten Fragen über unsere Gegenwart. Joachim Schwend

Tobias Elsässer

Tobias Elsässer

Mute. Wer bist du ohne Erinnerung? München: Hanser 2024. 304 S., 17 €, ab 14 Jahren

Tobias Elsässer.

Tobias Elsässer erzählt von einer starken Familie, die für ihr Recht auf ein Leben in Freiheit kämpft. Aus Sicht der ältesten Tochter Espe werden Themen wie Adoption, Traumaerfahrung und Jugendpsychologie behandelt. Espe ist sechzehn Jahre alt und lebt mit ihren Adoptiveltern und drei Geschwistern in Deutschland. Wobei – so genau weiß man ihr Alter gar nicht, denn Espe kam als Flüchtlingskind stark unterernährt und ohne Papiere aus Mexiko in ein Waisenhaus in den USA. Die traumatischen Dinge, die sie und ihre Geschwister erlebt haben, werden nur in Bruchstücken geschildert. Doch das Lückenhafte ihrer Geschichte wirkt authentisch, schließlich geht es unter anderem um das Vergessen von schweren Schicksalsschlägen und um das Weiterleben danach. Die Lektüre ist herausfordernd, mit der Altersempfehlung ab 14 Jahren sollte vorsichtig umgegangen werden. Die Erzählung setzt sich aus Tagebucheinträgen zusammen, die Espe während ihrer psychotherapeutischen Behandlung aufschreibt. Darauf beziehen sich auch die fünf Teile, in die das Buch gegliedert ist: »Intuition«, »Sehen«, »Hören«, »Riechen« und »Fühlen« beschreiben psychologische Prozesse des Erinnerns. Jedem dieser Elemente fügt der Autor einleitend eine Definition bei, die auf unbewusste Wahrnehmungen, synästhetische Eindrücke und taktile Illusionen hinweist. Die Geschichte zeigt, wie stark die frühkindliche Prägung die psychische Entwicklung beeinflusst. Hormonelle Veränderungen in der Pubertät wirken dann als Verstärker und manchmal hilft nur noch ein Haustier. Und erst am Ende wird klar, wie das Buch zu seinem Titel kommt. Elena Schneck

Thomas Lehr

Thomas Lehr

Kafkas Schere. Zehn Etüden. Göttingen: Wallstein 2024. 79 S., 18 €

Thomas Lehr.

Franz Kafka ist ein gefährlicher Einfluss, und ein verlockender. Gerade seine kurzen Texte laden ein zum Imitat. Sie bewegen sich zwischen Parabel, Bericht, Albtraum und Groteske und sind meist ziemlich komisch. Oft kommen sie einfach daher, graben sich dann aber plötzlich – manchmal in einem einzigen Halbsatz – in ungeahnte Tiefen. Und eben da liegt das Problem: Sound und Setting lassen sich nachahmen, bei der Tiefe wird’s schwierig. Thomas Lehr, Jahrgang 1957, hat sich einen Namen gemacht mit anspruchsvollen, dickbauchigen Romanen. Nun erprobt er in »Kafkas Schere« die kleine Form. Gedacht ist das (im Kafka-Jahr) als Variation und Hommage, als Ergänzung des großen Vorbilds. Da Lehr sich in Kafkas Werk auskennt und gekonnt mit dessen Motiven spielt, ist das Resultat solide. Gleichzeitig erschöpfen sich die Miniaturen leicht in ihren Anspielungen. Das beginnt schon im ersten Text des Bandes. Darin sprechen Kopflose, sie werden von Hunden durch eine Art Hölle gejagt. Einmal heißt es: »Wer schickte die Hunde? Die Frage bohrte in uns wie ein Messer in den Rippen.« Die Hinrichtungsszene aus Kafkas »Der Process« klingt an, und doch: Isoliert betrachtet ist das Bild von der bohrenden Frage abgedroschen. Kafka wäre das nicht passiert. Das Wiedererkennen beim Lesen macht Spaß: Ach stimmt, bei Kafka gibt es auch so eine Stelle. Lehrs Stil ist anders als das nüchterne, beinahe verarmte Pragerdeutsch Kafkas. Trotzdem findet er auch eindrückliche Bilder. In einem besonders gelungenen Text kriechen Künstler eidechsengleich eine gewaltige Wand hinauf und stürzen vor den Augen ihrer Zuschauer in die Tiefe und ins Vergessen. Könnte das von Kafka sein? Vielleicht. Maurus Jacobs

Michel Houellebecq/Louis Paillard

Michel Houellebecq/Louis Paillard

Karte und Gebiet. Graphic Novel. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Köln: Dumont 2023. 160 S., 32 €

Michel Houellebecq/Louis Paillard.

Mit »Karte und Gebiet« landete der große französische Provokateur Michel Houellebecq 2010 einen Bestseller, gewann die Herzen vieler mitteleuropäischer Leser und Leserinnen – und heimste den wichtigsten französischen Buchpreis ein, den Prix Goncourt. Nun ist eine geniale Graphic Novel von Louis Paillard erschienen, die kühnste Comicträume wahr werden lässt. Mit feinem Schwung erschuf der Pariser Architekt ein aufregendes Buch voll detailreicher Illustrationen über zwei französische Künstlersubjekte beim fröhlichen Tanz am Abgrund. Als der fast vergessene Maler Jed dem Schriftsteller Michel Houellebecq begegnet, wendet sich Jeds halblausiges Schicksal: Es wird aufregend, wild – und nicht unblutig. Einer der beiden bleibt auf der Strecke in Houellebecqs mit Abstand lustigstem Buch, das die Kunst, die Liebe, Väter und das Geld verhandelt und solche Perlen enthält wie: »Du hast ja Popper und seine Theorie der Falsifizierbarkeit nicht gelesen. Macht nichts, Schatz, wir essen jetzt den Kabeljau.« Viele hielten Houellebecq schon immer für einen großen Witzbold. In »Karte und Gebiet« zeigt er, wie sehr er über sich selbst lachen kann. Und wer wusste bis dato, dass des Meisters Liebe allen Tieren der Welt galt, besonders dem superschlauen Schwein? Fazit: Die Graphic Novel schafft es in zarter Radikalität, den Aberwitz des Romans noch zu steigern. Frank Willmann

Tara C. Meister

Tara C. Meister

Proben. Salzburg/Wien: Residenz 2024. 256 S., 24 €

Tara C. Meister.

Caro und Johanna sind enge Freundinnen. Während die Naturwissenschaftlerin Caro im Labor versucht, den Fehler in ihrer Versuchsanordnung zu finden, inszeniert Johanna ein Theaterstück über eine Frau, die unbemerkt verschwindet. Das Stück und der Probenprozess bilden eine Art Metaerzählung, denn auch Johanna hat große Verluste erlitten und fürchtet nun, selbst zu verschwinden. Vom Bewerbungswochenende für ein Regiestudium kehrt sie ohne Studienplatz, dafür aber schwanger zurück. Sie will das Kind behalten, sich selbst aber auch, ein Dilemma. Und da auch Caro Johanna behalten will, in einem ziemlich wörtlichen Sinne, entscheiden sich die beiden Freundinnen, gemeinsam Eltern zu werden, jenseits der gängigen Formen. Ganz klar wird nicht, was die Freundinnen zueinander hinzieht, wobei vielleicht gerade darin, dass man den »Grund« der Zuneigung nicht erfassen kann, das Wesen von Freundschaft liegt. Die beiden haben sich in einer recht klassischen Rollenverteilung eingefunden, in der Caro kümmert und rettet und Johanna ihre teils übergriffige Fürsorge eher passiv über sich ergehen lässt. Hin und wieder will man sie schütteln, alle beide, und ihnen raten, die Dinge doch einfach mal auszusprechen. Dann wäre allerdings das Buch schnell zu Ende, das nicht zuletzt davon lebt, dass hier zwei ambivalente Figuren mit- und gegeneinander um Nähe und Autonomie, Differenz und Verbindlichkeit ringen − und zwar mal nicht auf Grundlage erotischer Liebe, wo solcherlei sonst oft verhandelt wird. Die Kraft dieses Romans liegt nicht nur in klugen Dialogen und genauen Beschreibungen, sondern vor allem darin, dass die beiden Figuren in ihrer ganzen Schwierigkeit und Schwäche gezeigt und dennoch getragen werden, voneinander und von der Erzählung, trotz aller Fragilität. Anna Kow

Darja Serenko

Darja Serenko

Mädchen & Institutionen – Geschichten aus dem Totalitarismus. Aus dem Russischen von Christiane Körner. Berlin: Suhrkamp 2023. 192 S., 23 €

Darja Serenko.

Viele ärgern sich dieser Tage über das Verhalten eines gewissen Machthabers in der östlichsten Gegend Europas – oder beschäftigen sich aus Resignation absichtlich nicht damit. Insofern können Bücher wie »Mädchen & Institutionen« zur literarischen Völkerverständigung beitragen. Der Text ist ungewöhnlicherweise in Wir-Form geschrieben. Doch das Pronomen hat in der russischen Literatur längst eine totalitarismuskritische Tradition. In Serenkos Ausgestaltung trägt es den Namen »Mädchen«. Ebenjenes Kollektiv hat eine liebevoll-ironische Haltung gegenüber seiner Arbeit in den staatlichen Institutionen: Es veranstaltet Festivals, die es gar nicht gibt, es zaubert Summen aus dem Nichts hervor und lässt sie bei Bedarf wieder verschwinden, es denunziert und lässt sich denunzieren, es tröstet und es trinkt. Schon auf Seite 71 endet dieser ebenso entlarvende wie poetische Text. Die Erzählerin erläutert ihre Textrehaftecherche und erzählt, dass ihr eigenes Angestelltenverhältnis bei den Institutionen ihres Landes endete, als sie wegen »Extremismus« inhaftiert wurde. Es folgt ein Zyklus namens »Ich wünsche Asche meinem Haus«: Diese Textstücke – manchmal Verse – sind primär aus der Ich-Perspektive geschrieben. Das zentrale Narrativ bildet der 15-tägige Gefängnisaufenthalt des Ichs, doch die Komposition unterschiedlicher Zeitformen und Orte wirkt impulsiv und brüchig. Gewalt, auch passive, so verstehen wir, ist tägliche Praxis innerhalb der totalitären Gesellschaft. Immerhin meldet sich aus diesen Aufzeichnungen, gerade weil sie so persönlich wirken, eine Stimme der Humanität. Juliane Zöllner

Haruki Murakami

Haruki Murakami

Die Stadt und ihre ungewisse Mauer. Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Köln: Dumont 2024. 640 S., 34 €

Haruki Murakami.

Der wohl bekannteste lebende japanische Autor hat die Isolation, Ungewissheit und Ängste der Corona-Pandemie genutzt, um eine frühe Erzählung neu zu bearbeiten und deren Handlung zu erweitern. »Die Stadt und ihre ungewisse Mauer« nimmt dabei zahlreiche Motive des 1985 erschienenen Romans »Hard-Boiled Wonderland und das Ende der Welt« auf, um sie in anderen Zusammenhängen neu zu erzählen. Angelegt als Triptychon einer unschuldigen Teenager-Liebe, bei der die Geliebte eines Tages spurlos verschwindet, der übersinnlichen Begegnungen desselben Erzählers als Bibliothekar mittleren Alters in einer abgelegenen Provinzstadt und seiner finalen Rückblende in die geheimnisvolle Stadt, führt Murakamis magischer Realismus an einsame Orte, in rätselhafte Parallelwelten und zu lebensfernen Charakteren. Das anhaltende Gefühl der Leere nach dem abrupten Verlust der Geliebten zieht sich dabei ebenso durch den Roman wie die Suche nach dem Ort der inneren Ruhe auf einer anderen Seite, zu der man vielleicht durch Bibliotheken gelangen kann. Ob die künstlerische Bearbeitung dieser nicht gerade neuen Themen gelungen ist? Nun, die Handlung läuft sicher an der einen oder anderen Stelle Gefahr, ins Kitschige abzudriften, und beim flott wegzulesenden Stil stellt sich durch zu viele, teilweise sperrige und erzähltechnisch eher unlogische Einschübe eine gewisse Ambivalenz im Narrativen ein. Thorsten Bürgermann

Melanie Katz (Hg.)

Melanie Katz (Hg.)

Die einsamen Begräbnisse. Poetische Nachrufe auf vergessene Leben. Zürich: Limmat 2023. 216 S., 28 €

Melanie Katz (Hg.).

Einsame Begräbnisse sind nicht die Regel, doch kommen sie immer wieder vor, und durch gesellschaftliche Prozesse wie Individualisierung und Anonymisierung wird ihre Zahl wahrscheinlich auch in Zukunft noch weiter ansteigen«, heißt es im Vorwort zu diesem Buchprojekt. Das Dichterinnen-Projekt »Das Einsame Begräbnis«, 2001 in den Niederlanden gestartet, gibt es mittlerweile auch in Belgien und in der Schweiz. Dort hat es die deutsch-schweizerische Dichterin Melanie Katz ins Leben gerufen, eine angesichts des Themas seltsame und dennoch treffliche Formulierung, geht es dabei doch um Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen niemanden haben, der oder die sie verabschieden könnte. Das Gedicht als letztes Geleit also. Das Gedicht als die letzte, festgehaltene Spur eines verflossenen Lebens. Eine poetische Auflehnung gegen das Vergessen, ein Gestus gegen die Einsamkeit – nicht nur im Tod, auch im Leben. Einmal im Jahr findet in Zürich ein Gemeinschaftsbegräbnis aller einsam Verstorbenen statt, dank dieses Projekts in Begleitung von Dichterinnen und Dichtern. Zuvor bekommt jede »Dichterin vom Dienst« die Daten der Verstorbenen zugeteilt, meist den Namen und den letzten Wohnsitz – dann beginnt die Recherche. Manchmal treffen sie dabei auf jemanden aus der Nachbarschaft, bekommen Hinweise oder gar Fotos zu sehen, manchmal stehen sie vor einem leeren Haus. 37 so entstandene Gedichte, meist begleitet von einem Recherchebericht, hat der Limmat-Verlag nun in Buchform veröffentlicht. Ergänzt um ein Vorwort von Melanie Katz und Terry Eagleton sowie vier Dichterinnen-Essays versammelt der Band Texte von elf Dichterinnen und Dichtern. Texte, die berühren, nachdenklich machen, aber auch ein leises Lächeln auf die Lippen zaubern. Ein kleines Geschenk ist dieses Buch, eine poetische Huldigung des Lebens. Martina Lisa

Geovani Martins

Geovani Martins

Via Ápia. Aus dem brasilianischen Portugiesisch von Nicolai von Schweder-Schreiner. Berlin: Suhrkamp 2023. 333 S., 25 €

Geovani Martins.

Die Via Appia ist jener Weg, der seit Tausenden von Jahren nach Rom führt. Die Via Ápia aber liegt in Rio de Janeiro in der Favela Rocinha, wo auch Geovani Martins herkommt. Wer hier lebt, befindet sich eher in einer Sackgasse als auf dem Weg nach Europa – so wie die fünf Männer Anfang 20, um die Martins’ Romanhandlung kreist. Sie leben von Mahlzeit zu Mahlzeit, Job zu Job, Joint zu Joint. Es lohnt sich, vor der Lektüre einen virtuellen Spaziergang durch die Straßen Rocinhas zu machen, um zu verstehen: Es ist eine Stadt in der Stadt, nur eben illegal errichtet und organisiert von Drogenbossen. Hier wurde ein Stück zeitgenössische brasilianische Geschichte geschrieben, als die Polizei im Jahr 2011 versuchte, die Favela gewaltsam aufzulösen – in Vorbereitung auf die Fußball-WM. Dieses Ereignis steht im Mittelpunkt des Romans: Einer der jungen Männer – Murilo – ist Soldat. Er hat Angst davor, die eigene Nachbarschaft stürmen zu müssen. Ein anderer – Wesley – hatte auf ein Motorrad gespart, um Taxifahrer zu werden. Doch jetzt bräuchte er ein teureres, mit richtigen Papieren. Das Leben in Illegalität war der Normalzustand – und wenn es so abrupt endet, steht man plötzlich noch verlorener da. Und doch: Die jungen Männer fühlen sich verbunden mit dem Stück Land in den Hügeln, das schon von Tupi, Puri, Botocudo und Maxakalí bevölkert wurde: »Ich kann so lange wegbleiben, wie ich will, ich gehöre immer noch hierher.« Pauline Reinhardt

Afonso Reis Cabral

Afonso Reis Cabral

Aber wir lieben dich. Roman. Aus dem Portugiesischen von Michael Kegler. München: Hanser 2021. 304 S., 24 €

Afonso Reis Cabral.

Gisberta ist schon fast am Ende, als der Junge Rafa sie in einer Bauruine entdeckt. Die brasilianische trans Frau war als Zwanzigjährige nach Porto gekommen, wurde drogenabhängig, arbeitete in Shows und als Prostituierte. Mit HIV infiziert, wartet sie nun, mit 45, an diesem unwirtlichen Ort zwischen Pfützen, Müll und alten Spritzen auf den Tod. Rafa lebt im Heim, seine Mutter ging anschaffen, der Vater war gewalttätig; eine normale Biografie in der Jugendhilfeeinrichtung. Die älteren unter den Zöglingen schikanieren die jüngeren, das pädagogische Personal agiert im besten Fall hilflos, und Zusammenhalt ist ein rares Gut. Rafa und Gisberta freunden sich an – wenn man es so nennen kann. Denn Rafas Gefühle der älteren Frau gegenüber sind komplex: Er will ihr helfen und wertet sich zugleich über ihr Leid auf. Aggressiv reagiert er auf jede eigenständige Handlung von ihr. Lieber würde er Gisberta vernichten, als zu erleben, dass ihr selbst etwas gelingt. Wütend und eifersüchtig verfolgt er, wie sein Freund Samuel unabhängig von ihm eine Beziehung zu ihr aufbaut. »Aber wir lieben dich« von Afonso Reis Cabral erzählt von Lebensbedingungen, in denen es immer jemanden gibt, der noch tiefer in der Scheiße steckt und auf den man spucken kann. Gewalt gebiert Gewalt – eine abgedroschene Erkenntnis, doch der junge portugiesische Autor schildert sie noch einmal neu, in einer rohen, unmittelbaren Sprache. Zusätzlich beklommen macht die Lektüre, weil es Gisberta Salce Júnior wirklich gab. Reis Cabral spürt in seinem Roman ihrem Schicksal am äußersten Rand der Gesellschaft nach, ohne viel zu erklären. Das Nachdenken darüber überlässt er dankenswerterweise dem Leser. Andrea Kathrin Kraus

Lorenza Foschini

Lorenza Foschini

Und der Wind weht durch unsere Seelen. Marcel Proust und Reynaldo Hahn. Eine Geschichte von Liebe und Freundschaft. Aus dem Italienischen von Peter Klöss. München: Nagel und Kimche 2021. 237 S., 22 €

Lorenza Foschini.

Das Leben des Schriftstellers, schrieb Marcel Proust, sei in seinem Werk. Und doch gibt es, wenn große Werke vorliegen, ein Interesse an jenem ›anderen‹ Leben eines Schriftstellers, das Proust zufolge nur eine zu beschreibende Illusion darstellt. Nur eine Illusion? Dieses Leben kann auch eine Liebe sein – etwa die Liebe Marcel Prousts zum Komponisten Reynaldo Hahn. Über die Lektüre von Prousts Romanteil »Eine Liebe von Swann« und durch den Ankauf eines Briefes von Reynaldo Hahn an Marcel Proust kam die Autorin der vorliegenden Publikation zu ihrem Thema. Die Beschreibung des Verhältnisses zwischen Reynaldo Hahn und Marcel Proust gelingt ihr mit so viel Sachkenntnis (bis hin zur Einbeziehung unveröffentlichter Quellen) wie Einfühlungsvermögen. Durch die knappen Kapitel des Buches gestaltet sich die Lektüre kurzweilig, und die schöne Ausstattung des Bandes erhöht die Lesefreude. Die Stadien dieser Liebe, aber auch die anderen Personen, die von ihr Kenntnis hatten zu einer Zeit, als homosexuelle Beziehungen keinesfalls allgemein akzeptiert waren, werden dem Leser vor Augen gestellt, fast möchte man sagen: ans Herz gelegt. Im Mai 1894 kommt es zur ersten Begegnung zwischen Reynaldo Hahn, dem trotz seiner jungen Jahre schon berühmten Komponisten, Pianisten und Sänger, und dem noch völlig unbekannten, drei Jahre älteren Marcel Proust, den als Schriftsteller zu bezeichnen seine wenigen literarischen Versuche noch lange nicht hinreichen. Es entsteht eine leidenschaftliche Liebesbeziehung – für beide die erste. Doch schon zwei Jahre später, im Herbst 1896, kommt sie, hauptsächlich bedingt durch Prousts Eifersucht und seine inquisitorische Überwachung des Geliebten, an ihr Ende. Was bleibt, ist eine bis zum Tode Prousts dauernde Freundschaft. Angelika Corbineau-Hoffmann

Eimar O’Duffy

Eimar O’Duffy

Esel im Klee. Für die Kinder der Erde. Aus dem Englischen von Gabriele Haefs. Mit Anmerkungen. Stuttgart: Alfred Kröner Verlag 2020. 349 S., 22 €

Eimar O’Duffy.

In der pikaresken Fortsetzung von »King Goshawk und die Vögel« (vgl. kreuzer 04/21) ist Cuanduine, der Held aus der irischen Mythologie, wieder im Einsatz für die einfachen Menschen und für die Herrschaft der Vernunft: Frustriert durch die Kriege und angesichts des traurigen Zustands der Welt zieht sich Cuanduine nach seinen Reisen zurück »in die Berge, wo keine Menschen mehr hausten«; er gründet eine Familie und genießt das einfache Leben – bis ihn die Kriegsgöttin Badb ruft und er wieder in den Kampf ziehen muss, unter anderem, um die Ehre Irlands zu verteidigen. Es kommt zum Krieg (was eine irische Amsel damit zu tun hat, soll an dieser Stelle nicht verraten werden) und in einer Luftschlacht über dem Atlantik besiegt Cuanduine ganz allein König Goshawks Luftwaffe. Unterdessen geht der kapitalistische Wahnsinn auf der Welt munter weiter und Cuanduine hat endlich genug von den Menschen. Er beschließt frustriert, mit seiner Frau – die Kinder sind erwachsen und gehen ihren eigenen Weg – die Welt zu verlassen. Doch weil auf der verarmten Erde nichts mehr zu holen ist, beginnt mit der Kolonialisierung auch die Ausbeutung des Monds und seiner Bewohner. Anfangs wächst der Wohlstand, bis auch diese Welt erneut im Krieg versinkt. O’Duffy schreibt seine Satire vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs mit großer sprachlicher Vielfalt – verschiedene Textsorten wie Zeitungsberichte, Gedichte, Vorträge, sprachliche Variationen wie Slang oder wirtschaftswissenschaftliche Fachsprache, intertextuelle Anspielungen und ein Erzähler, der den Leser direkt anspricht und sein eigenes Unverständnis eingesteht – und das alles mit einem Augenzwinkern, um die Absurdität der Situation zu offenbaren. Die hilfreichen Anmerkungen von Gabriele Haefs erklären so manche Feinheiten, die sonst nicht immer klar geworden wären. Was den Menschen eindeutig fehlt, ist der gesunde Menschenverstand, doch trotz der düsteren Stimmung ist das Ende versöhnlich (...). Joachim Schwend

Bernd Weinkauf

Bernd Weinkauf

Leipziger Merkwürdigkeiten. Markkleeberg: Sax Verlag 2021. 152 S. 19,90 €

Bernd Weinkauf.

Getreu dem bekannten Ausspruch Goethes versammelt der Leipziger Autor Bernd Weinkauf in seinem neuen Buch zwölf zuweilen amüsante Anekdötchen über heute fast unsichtbare Merkwürdigkeiten der Stadtgeschichte. Warum zum Beispiel erblickte Ende der vierziger Jahre ein Polizist in der Thomaskirche Bachs Leiche in einem bis heute verschollenen weißen Sarg? Und wieso musste Bachs Leiche überhaupt vier Mal umziehen, bevor sie da zu liegen kam, wo sie heute liegt? Auch der umtriebige Napoleon war ja – kein Geheimnis – in und um Leipzig zugegen. Was aber ein paar Liter Gosebier mit seiner Niederlage hier zu tun hatten, ist vielleicht nicht allen bekannt. So liest sich das mit Heiterkeit und Ironie gewürzte Büchlein an einem heißen Nachmittag im Schatten einiger unserer übrig gebliebenen Stadtbäume munter weg. Bäume, die schon Ende des 19. Jahrhunderts für fragwürdige Bauvorhaben hatten weichen müssen – die Geschichte einer unbeliebten Wettersäule belegts! Doch nicht nur Weinkaufs Erzählstimme in »Leipziger Merkwürdigkeiten« amüsiert die interessierte Leserin: Es ist auch der Blick für die historisch entscheidenden Situationen. Beispielsweise gibt es keinen Heinrich-Heine-Park in Leipzig, weil, nach einigem Hin und Her, das Amt für Geoinformation und Bodenordnung feststellt: »Zu viel Schrift würde die Karte verwirrend machen.« Ist klar. Wer wissen will, was es mit dem »Dreitürmeblick« auf sich hat, wer oder was ein »Ruppertsheimer Reiterpfad« ist oder warum ein japanischer Musiker auch heute noch in Rückmarsdorf nach im 2. Weltkrieg verloren gegangenen Partituren sucht, der möge es hier nachlesen. Und es gibt eine Situation, in der Sie auf der nackten Haut nichts weiter als einen »Gürtel aus ungegerbter Wolfshaut« tragen sollten, glauben Sie mir! Linn Penelope Micklitz

Dinaw Mengestu

Dinaw Mengestu

Zum Wiedersehen der Sterne. Aus dem Amerikanischen von Volker Oldenburg. Berlin: claassen 2009. 251 S., 19,90 €

Dinaw Mengestu.

Wenn sich Sepha Stephanos, Alltagsheld des Romans »Zum Wiedersehen der Sterne« von Dinaw Mengestu, an Addis Abeba erinnert, dann steigen Bilder voller Wehmut auf. Fernab seiner Familie lebt Stephanos das klassische Schicksal eines Heimatlosen – gefangen im ewigen Ankommen in Washington D.C., seinen Erinnerungen und der Einsicht, nie mehr zurück nach Äthiopien zu können. Mengestus Debütroman legt die Stimmung all seiner Werke fest, sie grundiert die Lebensgeschichten seiner Protagonisten mit sehnsüchtiger Note. Wohl deshalb wird in Besprechungen stets erwähnt, dass Mengestu selbst Kind der Diaspora ist, über die er schreibt: Noch in Addis geboren, mit der Familie vor dem roten Terror des Diktators Mengistu Haile Mariam in die USA geflohen, dort – wie Maaza Mengiste – in der englischen Sprache zu Hause. Ähnlich wie Mengiste wird auch er zum wichtigen Vertreter einer post-migrantischen äthiopischen Literatur erkoren und ähnlich mit Preisen bedacht. Dabei gelingt Mengestu (wie Mengiste) weit mehr als vermeintlich autobiografisch zu Entschlüsselndes. Das Debüt schwankt zwischen Hommage an Washington D.C. samt Gentrifizierungskritik und pan-afrikanischen Anekdoten, Letztere leider oft stereotyp und recht männlich. »Die Melodie der Luft« erzählt voll Zärtlichkeit von den Eltern, die auch nur Menschen sind. »Unsere Namen« besteht aus mehreren, zunächst verwirrenden Geschichtssträngen und Zeitebenen, die vorführen, wie fragmentiert Identitätsbildung bleiben muss. Stilistisch wirken die Romane hin und wieder eine Spur zu konstruiert und damit in Tradition US-amerikanischer Schreibschulen, wie sie Mengestu (und Mengiste) in der Tat absolvierten, gleichwohl finden sich genauso die Stärken dieser Tradition: geistreicher Witz, üppige Verweise auf Weltliteratur und elegante, manchmal etwas spröde Liebesplots. Wie ein kleiner Treppenwitz liest sich auf Seite 225 von Mengestus Debüt »auf schwarzem Grund in eleganten Goldbuchstaben ›Corona‹«. Wahrsagen kann er also auch. Alexandra Ivanova

Michael Schweßinger/Marcel Schreiter

Michael Schweßinger/Marcel Schreiter

Bukarest. The City of good life. Edition Outbird 2021. 164 S., 25 €

Michael Schweßinger/Marcel Schreiter.

Alles in Schwarz-Weiß, alles grau, alles eintönig. In dem Fotobuch »Bukarest. The City of good life« bieten selbst die Texte des Autors Michael Schweßinger nur wenig Trost. Der Leipziger Fotograf und Filmemacher Marcel Schreiter hatte 2016 seine Aufnahmen in der Hauptstadt im Rahmen eines Stipendiums des rumänischen Kulturinstituts gemacht. Und der Klappentext ist Programm: »Bukarest romantisch zu sehen, bedarf gewiss einiger Anstrengung.« Das Romantischste an Bukarest sind, wenn man nur dieses Buch befragt, »einige mit Tesa-Film fixierte Titten auf dem Armaturenbrett« eines Taxifahrers, »über denen ein Bild der Jungfrau Maria mit Heiligenschein thronte«. Schweßinger lebte selbst in Bukarest und erzählte davon bereits in »Vom östlichen Rande des Imperiums« (RUP 2015). Zehn Miniaturen untermauern nun die Stimmung der eindrücklich angeordneten Fotografien: Immer wieder Menschen, vor allem Männer, die mürrisch, abgezehrt oder resigniert auf den Straßen der Stadt unterwegs sind. Wenn einer lächelt, fällt es auf. Frauen zieren vor allem die illuminierten Werbeplakate, die den Kontrast zwischen den heruntergekommenen Vierteln und den uneingelösten Versprechen des Kapitalismus beleuchten. Das Bukarest, das sich hier zeigt, ist nicht das zuckrige des ehemaligen Diktators Nicolae Ceaușescu oder das der Touristen. Es ist das Bukarest der Wütenden und Armen, das Bukarest der Hunde und Katzen. Und Schweßinger findet Worte für die Faszination, die immer auch in einem Davorstehen liegt, in Bewunderung von der anderen Straßenseite: »Wie leuchtend die Farben der Stadt, / bevor wir ihr zu nahe traten«, »Ich lauschte dieser melodischen Sprache, ohne sie zu entschlüsseln«, »und ich frag mich immer, wann diese Stadt mal austickt. Tut sie nicht, tut sie nie, alles geht seinen gewohnheitsmäßigen, leicht resignierten Gang.« Linn Penelope Micklitz

Violette Leduc

Violette Leduc

Thérèse und Isabelle. Aus dem Französischen von Sina de Malafosse. Berlin: Aufbau 2021. 169 S., 20 €

Thérèse und Isabelle

Jeder Tag könnte der letzte sein im Internat irgendwo in Frankreich, wo Thérèse von ihrer Mutter »geparkt« wurde. Gemeinsam mit den anderen Mädchen putzt die Jugendliche Schuhe, isst in der Aula zu Abend und besucht den Unterricht, bis eines Nachts Isabelle an ihr Bett tritt. Innerhalb kürzester Zeit wird aus den beiden ein geheimes Liebespaar. »Thérèse und Isabelle« war eigentlich Teil eines größeren Romanprojektes, an dem Violette Leduc ab 1948 schrieb. Weil ihr Verleger bei Gallimard jedoch die Zensur fürchtete, ob der expliziten Liebesgeschichte zwischen zwei Frauen, musste Leduc das Manuskript mehrfach überarbeiten; in seiner ursprünglichen Fassung konnte ihr Buch erst Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung erscheinen. Dabei war Leduc bereits zu Lebzeiten eine von ihren Kolleginnen bewunderte Autorin. Existenzialisten wie Camus schätzten sie für ihre Sprachgewalt, mit Simone de Beauvoir hatte sie nicht nur eine Affäre, sondern in ihr auch eine wichtige Fürsprecherin. Heute, viele Jahre nach den Skandalen, besticht »Thérèse und Isabelle« vor allem durch die seitenlangen Beschreibungen einer jungen Liebe. Als Autorin scheute sich Leduc nicht vor konkreten Beschreibungen von Sexualität, vom gegenseitigen, unerfahrenen Erkunden der Körper. Gleichzeitig liegt die Stärke ihres Textes in den Metaphern, die in langen Aneinanderreihungen für Liebe und Lust gefunden werden. Sie bilden die Bandbreite des Begehrens ab, die Freude genauso wie die Angst, die geliebte Person wieder zu verlieren, die Zärtlichkeit ebenso wie die Gewalt, die in der Leidenschaft steckt. Hin und wieder sitzt ein Bild nicht ganz richtig, spürt man den Überschwang einer noch jungen Schriftstellerin. Insgesamt überzeugt Leducs Geschichte jedoch als ein Text, in den die Lesenden eintauchen können und dessen dichte Sprache dazu einlädt, sich zu verlieren. Josef Braun

Melissa Broder

Melissa Broder

Muttermilch. Aus dem Englischen von Karen Gerwig. Berlin: Claasen 2021. 327 S., 24 €

Melissa Broder.

Es ist eine schlichte, zweckmäßige Sprache, in der die junge, zynische Amerikanerin Rachel von sich erzählt. In einem seelenlosen Los Angeles arbeitet sie in einer Agentur für Talente, die sie verachtet – so wie sich selbst. Es steckt viel Zeitgeist in Melissa Broders Roman, von der Upcycling-Glühbirne bis hin zum klassischen Problem des Großstädters: Zwänge, Süßstoff und Nikotinkaugummis. Eine Liste, die zeigt, woran auch Rachel scheitert: sich reflektieren, aber nichts ändern können. Rachel ist magersüchtig. Schon der Klappentext offenbart, wohin die Reise geht: Rachels Therapeutin empfiehlt ihr ein Mutter-»Detox«. Während die Tochter den Kontakt zur Mutter abbricht (die sich schon damals gewünscht hat, dass die früher kinderspeckige Rachel dünn wäre), lernt sie Miriam kennen, die »unwiderlegbar fett« ist. Den Rest kann man sich denken. Doch hinter Sex und Fressorgien bleibt es mager: Die entzauberte Welt einer Essgestörten, die an den gigantischen Brüsten einer dicken spirituellen Jüdin saugen will, weil die Mutter sie nicht gestillt hat. Die zweckmäßige Figurenkonstellation begründet teilweise die stereotype Sicht in Rachels Perspektive: Je mehr sie loslässt, desto mehr sieht sie in Miriam, die, Überraschung!, weit mehr ist als nur dick. Auch sind so manche Aussagen von bezwingender Ehrlichkeit: »Ich entschied: Liebe ist, wenn du Essen im Mund hast, von dem du weißt, dass es dich nicht fett machen wird. Lust ist, wenn du Essen im Mund hast, das dich fett machen wird. Angst ist der Tag, nachdem du Essen im Mund hattest, das dich fett machen wird.« Broder bemüht sich nicht um Vermittlung dieses schwierigen Themas, sie sagt, wie es ist. Das kommt manchmal derb, lustig, ekelhaft oder übertrieben beim Leser an, doch ankommen tut es. Linn Penelope Micklitz

D. H. Lawrence

D. H. Lawrence

Der Mann, der Inseln liebte. Aus dem Englischen von Manfred Allié. Mit einem Nachwort von Thierry Gillyboeuf. Zürich: Kampa 2021. 93 S., 12 €

D. H. Lawrence.

Auf der ersten Insel baut er sein eigenes Reich auf, er ist »der Herr«, der aufgeklärte Kolonisator, der sich kümmert, nur das Beste für seine Mitmenschen möchte und sein überlegenes Wissen weiterreicht. Doch er muss nach einem Jahr erkennen, dass sein Idyll einer aufgeklärten Gemeinschaft nicht funktioniert, zudem ruiniert ihn die Besiedlung der Insel finanziell und er verkauft sie wieder. Eine neue Insel folgt, kleiner, überschaubarer mit nur wenigen Menschen. Für kurze Zeit scheint er sein Glück und seine innere Ruhe gefunden zu haben. Doch bald stören ihn erneut seine Mitbewohner, die ihn vereinnahmen wollen. Es kommt zu einer Liebesbeziehung, aber er ergreift die Flucht vor der Verantwortung und flieht auf eine noch kleinere Insel. Auf der menschenleeren, dritten Insel kann er seine Misanthropie ausleben, sogar die Schafe müssen seine Insel verlassen, er bricht jeden Kontakt zur Außenwelt ab. Der Winter kommt und verhüllt die Insel und Cathcarts Sehnsuchtsort unter einer dicken Schneedecke. Hier findet er seinen Frieden. Die symbolträchtige Erzählung in bilderreicher Sprache spiegelt auch das unstete Leben von D. H. Lawrence, immer auf der Suche nach einer Heimat. Der Protagonist beginnt als eine Art Robinson Crusoe, aber im Gegensatz zu Crusoe findet Cathcart keinen Frieden, denn er ist nicht der Imperialist, wie er Daniel Defoe vorschwebte. Lawrence, und sein Alter Ego Cathcart, ist vielmehr der geplagte Mensch, auf der Suche nach einer Utopie – eine Geschichte von berückender Aktualität. Joachim Schwend

Audre Lorde

Audre Lorde

Sister Outsider. Essays. Aus dem Englischen von Eva Bonné und Marion Kraft. München: Hanser 2021. 256 S., 20 €

Audre Lorde.

Audre Lordes Texte kreisen um die vielen Gesichter der Unterdrückung, denn auch sie musste die Erfahrung machen, dass es den Rassismus nach dem Civil Rights Act noch gab. Ebenso wenig war der Sexismus verschwunden. Die mannigfaltigen Proteste in den USA ebbten ab, Lorde aber sollte dem Kampf für die Freiheit aller ihr schriftstellerisches Leben widmen. In Briefen, Vorträgen und Texten adressierte sie schwarze Männer oder weiße Feministinnen, um diese auf ihr Mitwirken an der Unterdrückung hinzuweisen. Denn es gibt – so Lorde – verschiedene Muster der Unterdrückung und sie wirken sogar zusammen. Erst, wenn man die Verschränkung der Macht begreift, könne man sich wirklich von ihr befreien. Lorde appellierte dabei stets mit der Aufrichtigkeit der Mitkämpferin, die an grundlegendem Wandel interessiert ist. Als schwarze Lesbe, Dichterin, radikale Feministin, Mutter und Sozialistin schreibt und denkt Lorde multiperspektivisch. Zugleich sucht sie nach Vereinigung dieser Perspektiven. Die Ehrlichkeit ihrer Texte vermittelt, dass ihr das selbst nicht immer gelang. Gerade das macht aber die Herausforderung aus, die sie nie gescheut hat: das eigene Leben zu befragen und es gegebenenfalls zu ändern. Eine Einladung zum Denken darüber, wie die eigene Identität oder das eigene Verhalten auf der Unterdrückung anderer beruht. Wie nur wenige andere macht Audre Lorde die Erfahrung der Mehrfachidentität in ihren Texten greifbar, und zwar schon vor 1989, als Kimberlé Crenshaw das Konzept der Intersektionalität einführte. Lorde denkt das Persönliche politisch, doch sie verzichtet beim Schreiben nicht auf Poesie, sondern nutzt diese explizit als Raum und Ausdrucksmittel. Wer sich mit dem Intersektionalismus beschäftigen will, wird Audre Lorde mit großem Gewinn lesen. Thore Freitag