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Rezensionen

Anton Weil

Anton Weil

Super einsam. Berlin: Kein & Aber 2024. 240 S., 22 €

Super einsam

Einsamkeit ist ein Problem, das nicht nur alte Menschen betrifft; spätestens seit der Corona-Pandemie ist klar, dass auch junge und vernetzte Menschen einsam sein können. Der Protagonist in »Super einsam« macht sich auf die Suche nach den »Wurzeln seiner Einsamkeit« und »erzählt von den großen Themen seiner Generation«, so der Klappentext. Die Frage ist: Welche Generation soll das sein? Teilweise ist Vito woke wie ein Gen Z (er korrigiert seinen Vater, der nicht korrekt gendert), teilweise verurteilt er Dinge wie ein Boomer (die junge Frau im Zug trage eine Gabel als Armschmuck). Eigentlich ist er ja ein Millennial, das wird daran deutlich, wie doll er seine Mama vermisst. Von dieser Generation scheint aber sonst nicht viel durch, außer vielleicht, dass er weder wirklich jung noch wirklich alt wirkt. Genauso unverständlich ist auch die Erzählstruktur. Es erstrecken sich Gedankengänge über ganze Seiten, bis sie nur noch langweilig sind und anstatt Verwunderung oder Spannung nur noch Frustration auslösen – da kann man sich dann aussuchen, ob Vito jetzt lost ist oder »ein Brett vor dem Kopf« hat. Ein Roman muss ja nicht immer die großen Fragen des Lebens beantworten, ein bisschen Inspiration wäre aber schön. Dazu sollte wenigstens ein Thema ausgemacht werden können. Angeschnitten (und nicht zu Ende erzählt) werden jedenfalls mehr als genug: Trauer, Liebeskummer, Streit mit dem Vater, Zweifel an der sexuellen Orientierung … Einsamkeit ist es in »Super einsam« jedenfalls nicht, die Komplexität des Begriffs geht vollkommen verloren. Die tote Mutter zu vermissen, der Ex-Freundin nachzutrauern und seine spärlichen Schauspiel-Honorare zu versaufen – das sind keine Symptome der Einsamkeit, sondern die einer schwierigen Lebensphase. Und man möchte Vito nicht mal in den Arm nehmen und sagen, dass alles gut wird, weil man sich einfach gar nicht mit der Figur identifizieren kann. Da muss er dann wohl allein durch. Alexander Böhle

Manfred Krug

Manfred Krug

Ich beginne wieder von vorn. Tagebücher 2000–2001. Berlin: Kanon 2024. 272 S., 24 €

Manfred Krug.

Was waren das noch für wunderbare Jahre, als Manfred Krug (1937–2016) in verschiedenen Maskeraden durchs Kino zog. Ich liebte ihn als Bauarbeiter, Mantel-und-Degen-Virtuosen, Klassiker-Interpreten. Später war er der Heiler der gebrochenen Herzen, wenn er reichlich verjazzt, gelegentlich nah am Schlager, von den seelischen Schmerzen der Menschen zu singen wusste. Er schaffte es, in der DDR einer von uns zu sein. Ihm nahmen wir alle Figuren ab, egal ob er als Brigadier oder Husar auf der Leinwand erschien. Selbst seine Ausreise im Zuge der Biermann-Ausweisung 1976 nahmen ihm nur ganz überzeugte Genossinnen krumm, so genial war sein Spiel, so unwiderstehlich sein Lächeln. Der Kanon-Verlag hat sich nun seiner Tagebücher angenommen, ediert und ausgewählt von Krista Maria Schädlich, enge Vertraute und Lektorin Krugs. Im Band 2000–2001, dem Abschluss der Trilogie, ist er auf der Höhe seines Schaffens, hat keinen Bock mehr auf »Tatort« und ähnlichen Fernsehquatsch und beginnt wieder zu musizieren. Obgleich ihm bei der Betrachtung alter »Tatort«-Folgen hin und wieder ein Tränchen der Rührung entfleucht, bleibt er hart und schart die Getreuen für neue Auftritte zusammen. Nebenher schreibt er glücklicherweise Tagebuch und geht mit sich und der schnöden Welt ins Gericht. Seine Einträge sind witzig, bissig, respektlos und politisch. Dümmliche Promis werden lakonisch geteert, verlogene Politiker nackig gemacht. Er kämpft gegen sein Übergewicht und ist lustvoll eitel, wenn er sich in seiner ganzen schöpferischen Pracht übers Essen und die Liebe auslässt. Mal ist er ein Tor, mal patzig, voll Schalk ist er immer, wenn er zum Stift greift. Ein lebensermutigendes Buch für Krug-Liebhaberinnen und -Liebhaber. Frank Willmann

Elaine Feeney

Elaine Feeney

Die seltsamste aller Zahlen. Aus dem irischen Englisch von Ulrike Brauns. Hamburg: Harper Collins 2024. 320 S., 24 €

Elaine Feeney.

Emory, ein kleiner Ort an der Westküste Irlands Anfang des 21. Jahrhunderts: Tess Mahon unterrichtet englische Literatur am Christ’s College, einer weiterführenden Schule. Einer ihrer Schüler ist Jamie O’Neill, Mathematikgenie mit starker »Fluchttendenz«. Mit Religion kommt er nicht zurecht, er braucht klare, eindeutige Fakten. Diese Einstellung ist schlecht in einer von den Dogmen der katholischen Kirche dominierten Schule. Sein großes Ziel ist die Konstruktion eines Perpetuum mobile. Die kinderlose Tess passt auch nicht ins Klischee der irischen Mutter, unter anderem daran scheitert ihre Ehe. Tess und Jamie legen Wert auf ihre eigene individuelle Lebensgestaltung und sind nur bedingt bereit, sich anzupassen. Aber sie wird für Jamie zu einer Art Schutzengel, er vertraut ihr. Sie ist für ihn »Orientierung, Ratgeberin«. Als Dritter im Bunde kommt der Werklehrer Tadhg Foley an das College. Er stammt von den Inseln im Westen vor Irland und ist aus der Enge der dortigen Gesellschaft geflohen. Foleys Projekt, ein traditionelles Currach zu bauen, ist für alle eine gemeinsame Aufgabe, die sie zusammenschweißt gegen den Widerstand von Pater Faulks, dem Direktor des Colleges. Das Boot wird an Jamies 14. Geburtstag zu Wasser gelassen und Jamie rudert allein den Fluss hinunter, bis zur Mündung und immer weiter nach Westen, dem mystischen irischen Paradies Tír na nÓg entgegen. Elaine Feeney schreibt mit wechselnder Erzählperspektive. So werden verschiedene Sichtweisen offenbart, die dem Roman Vielfalt und erzähltechnischen Reiz verleihen. Das Ende bleibt offen: Wo rudert Jamie hin, wie geht es mit ihm und den anderen weiter? Eine ansprechende Lektüre, insbesondere für Leserinnen und Leser mit Sympathie für Irland und seine Charaktere. Joachim Schwend

Antje Damm

Antje Damm

Das Nori sagt Nein! Frankfurt am Main: Moritz 2024. 48 S., 18 €, ab 4 J.

Antje Damm.

Eins vorneweg: Von Antje Damm sollte es in jedem Kinderzimmer mindestens ein Buch geben. Am besten mehrere! Denn Damms umfangreiches Portfolio lockt mit den unterschiedlichsten Arbeitstechniken – so sind die Figuren in ihren Büchern mal aus Holz, mal aus Pappe gebaut, bemalt, schließlich fürs Buch abfotografiert oder auch »einfach nur« illustriert. Darüber hinaus weiß die Buchkünstlerin mit den fantasievollen Bildern wichtige Themen aufzugreifen und spannende Geschichten zu erzählen. Für die Bilderbuchlandschaft ihres neuesten Werks »Das Nori sagt Nein!« nutzt Damm den Scherenschnitt. Hier dehnen sich große Bilder in Schwarz-Weiß auf einer ganzen Doppelseite aus. Nur wenige Tupfer Farbe hier und da setzen Akzente. Worum geht es? Das Nori, ein kleines, etwas struppiges Fantasiewesen mit spitzer Nase, lebt friedlich in seiner Erdhöhle und genießt ein Mahl aus roten Beeren, als plötzlich ein unheimliches Geräusch von riesigen Füßen das Tierchen in Angst und Schrecken versetzt. Daraufhin wird das Nori von einem Kind (eine Riesin!) in sein Zimmer entführt und soll dort in einem Puppenhaus wohnen. Als das Nori dann auch noch mit Erbsen gefüttert werden soll, hat es genug. Es brüllt aus Leibeskräften: »Nein!« Und siehe da: Die Riesin bringt das Nori wieder in seine Höhle zurück und lässt, wie zur Entschuldigung, noch ein paar rote Beeren da, bevor sie sich einträchtig verabschieden. Antje Damm erzählt unverkrampft und witzig zwei Geschichten gleichzeitig: die einer Grenzüberschreitung und die einer Selbstbehauptung. Darüber hinaus zeigt sie buchstäblich, dass die ganze Thematik nicht nur schwarz-weiß ist. So bietet das Buch Gesprächsstoff auf verschiedenen Ebenen und lädt zum Perspektivwechsel ein. Empfehlung! Jennifer Ressel

Sibylle Berg, Julius Thesing

Sibylle Berg, Julius Thesing

Mein ziemlich seltsamer Freund Walter. Frankfurt am Main: Fischer Sauerländer 2024. 144 S., 19,90 €, ab 10 J.

Sibylle Berg, Julius Thesing.

Sibylle Berg hat ein Buch für Kinder geschrieben: »Mein ziemlich seltsamer Freund Walter« erzählt von Lisa, die mit anderen Kindern »nicht so tolle Erfahrungen« macht, sprich: täglich gemobbt wird. Zu Hause sitzen die depressiven Eltern ihr Leben ab und auf dem Schulweg lauern brutale Möchtegern-Macker. So bleibt Lisa nichts anderes übrig, als auf ein Wunder zu hoffen – das zum Glück auch geschieht: Bei einem Ausflug auf die Erde bleibt der freundliche Außerirdische Klakalnamanazdta zurück, den Lisa aber Walter nennen darf und mit dem sie sich anfreundet. Auf Walters Planet stehen »kuscheln, spazieren gehen, mit Tieren spielen« in der Werteskala weit über Arbeit. Lisa soll von ihm Kung Fu lernen, um sich künftig besser wehren zu können. Und auch sonst wird Lisa, die zwar sehr schlau ist, aber nun mal keine Eltern hat, die ihr Biogemüse kochen, nicht mit Samthandschuhen angefasst. Gerade weil Walter nicht alles wie von Zauberhand schön macht, sondern Lisa realistischerweise gefordert bleibt, ist die Entscheidung, auch die Eltern über Nacht zu verwandeln, nicht ganz verständlich. Denn nicht nur Lisa findet den Mut, sich den Mobbern zu stellen und sich in der Schule mit jemandem anzufreunden − auch ihre Eltern erwachen dank einer Unterredung mit Walter aus ihrer Starre und sind fortan bereit, wieder Verantwortung für ihr Leben zu übernehmen. Das ist zwar sicherlich das, was ein Kind sich wünscht, erscheint zugleich aber fast unrealistischer als ein Besuch aus dem All. Julius Thesing hat die Geschichte, die auf dem gleichnamigen Theaterstück Bergs beruht, liebevoll illustriert − besonders schön die Bushaltestelle »Zum dämlichen Spielplatz«. Berg-Fans werden hier genauso auf ihre Kosten kommen wie innere und tatsächliche Kinder, die ein wenig extraterrestrischen Zuspruch gebrauchen können. Anna Kow

Christof Meueler

Christof Meueler

Die Welt in Schach halten. Das Leben des Wiglaf Droste. Berlin: Edition Tiamat 2024. 304 S., 30 €

Christof Meueler.

Ganze fünf Jahre ist es mittlerweile her, dass mit Wiglaf Droste einer der großen Satiriker der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit starb. Seine Gegner, von denen es im Laufe der Jahre zahlreiche gab, werden ihn und seine bissigen Schmähschriften nie ganz vergessen. Doch auch seine Freundinnen und Freunde konnten über Nacht zur Zielscheibe seines Spottes werden. Der Journalist und Autor Christof Meueler hat mit »Die Welt in Schach halten. Das Leben des Wiglaf Droste« die erste Droste-Biografie vorgelegt. Meueler selbst ist ein enger Wegbegleiter Drostes gewesen und war als Feuilleton-Redakteur unter anderem 20 Jahre lang Drostes Ansprechpartner bei der Jungen Welt. Dort war Droste Mitte der neunziger Jahre gelandet, nachdem er zuvor aufgrund seiner zahlreichen Querschläge und Provokationsgelüste beim Neuen Deutschland (heute nd) und bei der taz geschasst worden war. Die Junge Welt hingegen hielt ihn aus, so dass er im Laufe der Jahre mit seinen Polemiken zu einem zentralen Aushängeschild der Zeitung wurde. Meueler erzählt das Leben Drostes in Episoden und verzichtet begrüßenswerterweise darauf, eine streng lineare Chronik vorzulegen. Mithilfe zahlreicher Quellen, Zitate und Einordnungen hat er stattdessen eine überaus unterhaltsame Geschichte zusammengetragen, die auch für Droste-Fans noch manche Überraschung bereithalten kann. Für Leipziger besonders interessant ist das Kapitel über seine Zeit in der Messestadt, in die er nach 25 Jahren Berlin geflohen war. »Schönheit, Freundlichkeit, fast italienisches Flair, Leichtigkeit und Anmut prägen das Gesicht Leipzigs überall dort, wo es die hässlichen Züge der ›Heldenstadt‹ ablegte«, schrieb er in der Jungen Welt. So freundlich fielen nicht viele Urteile Drostes aus. Luca Glenzer

Bell Hooks

Bell Hooks

Bone Black. Erinnerungen an eine Kindheit. Aus dem Amerikanischen von Marion Kraft. München: Elisabeth Sandmann 2024. 176 S., 24 €

Bell Hooks.

Durch ihre zahlreichen Bücher ist die 2021 verstorbene Bell Hooks auch in Europa längst zu einer prägenden Stimme des Feminismus geworden. Trotz ihrer Bekanntheit bleibt der Hintergrund von Gloria Jean Watkins alias Bell Hooks – das Schwarze Südstaaten-Amerika mit seiner Religiosität und seiner rassistisch bedingten Armut – für viele Menschen hierzulande fremd. Aber genau dieser Hintergrund formt den unverkennbaren Feminismus der Liebe von Hooks, die gar im eigenen Elternhaus »Zeugin des Todes der Liebe« geworden ist: Der Vater bedroht die Mutter mit der Pistole in der Hand. Das Kind, zerrissen zwischen Furcht und Zuneigung zur Mutter, wird von beiden zurückgewiesen, als es der Mutter zu Hilfe eilt. Das Mädchen prägt sich gerade im Umgang der Geschlechter miteinander eine zwischenmenschliche Brutalität ein, die erst im religiösen Kontext – jenseits von Rassenschranken – Heilung erfährt. Bereits 1996 in den USA veröffentlicht, liegen die Geschichten aus Hooks’ Kindheit nun in deutscher Übersetzung vor. Von kindlicher Magie durchzogen, zeigen sie, was es als Kind zu lernen gibt, ohne dass Erwachsene viele Worte darüber verlieren oder Erklärungen abgeben: Sexualität, Schwarz-Sein, Geschlechterrollen, Körperstrafen. Teils in Ich-Perspektive, teils mit Geschichten in dritter Person berichtet Hooks von sich als Problemkind, das nach Bildung hungert. Von der Familie halb verstoßen, von den Weißen nicht akzeptiert, ringt Bell Hooks um ihren Platz in der Welt. Trotz der erfahrenen Einsamkeit dringt die Wärme des Widerstands dieser Vorkämpferin eines afroamerikanischen Feminismus durch ihre Kindheitsgeschichten. Fabian Schwitter

Joyce Carol Oates

Joyce Carol Oates

Babysitter. Aus dem amerikanischen Englisch von Silvia Morawetz. Hamburg: Ecco 2024. 623 S., 24 €

Joyce Carol Oates.

Norden der USA, weiße Oberschicht, Ende der Siebziger. Rollengemäße Ehe. Unschuldige Kinder. Philippina-Haushälterin. Ahnungslose Ehefrau, geschäftsuntüchtig, Opfer einer Vergewaltigung. Lügen zur Wahrung der Fassade. Erpressung. Suburbia kontaminiert von Sexualverbrechen. Mommys heile Welt zerfällt. Das unwahrscheinliche Happy End trotzdem zu erahnen. Nichts berührt das weiße Upperclass-Amerika. Weil Hannah, die weiße Ehefrau, die Affäre mit ihrem Vergewaltiger verheimlicht, wird ein unbescholtener Schwarzer von der Polizei als vermeintlicher Täter in Downtown Detroit erschossen. Das Stereotyp des afroamerikanischen Vergewaltigers weißer Frauen – bewaffnet, drogenabhängig – tut sein Übriges. Auch der Ehemann denkt so. Dem schwarzen Polizeiopfer gesteht Oates kaum mehr Sätze zu, als in dieser Rezension zu finden sind – eine Gestaltungsform, die in ihrer Realitätsnähe schwer zu ertragen ist. Derweil liefern die Kindsmorde eines rätselhaften Serienkillers, der »Babysitter« genannt wird, eine grausige Kulisse für das Mommy-Drama. Der Roman der aus einer Arbeiterfamilie stammenden Joyce Carol Oates entlarvt die Tragik einer Valium-Mommy aus den Suburbs ebenso wie die etablierten Frauenrollen und die Geschäfte der Oberklasse. Ohne Zweifel: ein Roman mit Präzision, Spannung und Sog. Dabei ist die US-Oberschicht eigentlich der geringste Teil der Welt und bietet wenig Projektionsfläche. Ob Oates eine andere Geschichte hätte erzählen können? Wenn ja, dann wahrscheinlich ebenso gekonnt. Fabian Schwitter

Lisa Weeda

Lisa Weeda

Tanz, tanz, Revolution. Aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann. Berlin: Kanon 2024. 176 S., 22 €

Lisa Weeda.

»Ihr braucht nicht zum Kämpfen kommen, (...) Spenden sind nicht nötig, und wir wollen auch keine Waffen. Ihr müsst nur für uns tanzen. Unseren traditionellen Tanz, den Svaboda Samoverzjenja«, sagt Anna in einem der Videos, die sie aus ihrem Dorf mitten im Krieg an ihre digitale Fangemeinde schickt. Die Videos sind ein Hype. Viele tanzten auch tatsächlich diesen rituellen Tanz, der die zu früh Verstorbenen aus dem Dazwischen zurück ins Leben holen kann, den Tanz gegen das Böse. Auch in ihrem zweiten Roman, dessen Titel das Computerspiel »Dance, dance, Revolution« zitiert, vermischt Lisa Weeda Fantastisches mit Realem, wühlt im Mythologischen und erzählt mit Wucht von Grauen und Gleichgültigkeit. Der Krieg in Besulia, einem kleinen, wenig bekannten Land, ist seit zweieinhalb Jahren vorbei, doch immer noch tauchen plötzlich Leichen der Kriegsopfer mitten in der heilen Welt auf, in Badezimmern, Betten, Büros der Start-ups, in Ateliers. Manche Menschen schaffen es, sie durch das Tanzen zum Leben zu erwecken. Doch die meisten werden vom Body-drop-off-Service abgeholt. Hier arbeitet auch Toni, deren Geschichte den Roman rahmt. Sie selbst kam vor vielen Jahren ebenfalls aus einem Kriegsgebiet, aus Upasi, einem Nachbarland von Besulia, und als Immer-noch-Fremde hat sie eben diesen wenig lukrativen Job. In den drei Kapiteln dazwischen reisen wir mit unterschiedlichen Protagonistinnen in der Zeit zurück, bis zum Ausbruch des Krieges. Die Orte sind fiktiv, die Parallelen eindeutig. Der Tanz ist die Bewegung, zu der alle in der Lage sind, die universelle Sprache der Körper. Tanzen heißt hinschauen und aufbegehren, solange wir tanzen, gibt es noch Hoffnung. Weeda ist auch diesmal ein Roman gelungen, der packt, aufrüttelt und lange nicht loslässt. Martina Lisa

Fine Gråbøl

Fine Gråbøl

Welches Königreich. Aus dem Dänischen von Hanna Granz. Hamburg: Ecco 2024. 173 S., 24 €

Fine Gråbøl.

Fine Gråbøl hinterfragt in ihrem Debütroman »Welches Königreich« ein staatliches Gesundheitssystem, das sich eine Schutzmauer aus Regeln, standardisierten Abläufen und Diagnosen errichtet hat. Es sind vor allem die Leerstellen in diesem Buch, die beim Lesen eine dumpfe Vorstellung davon vermitteln, wie es sich anfühlt, von einer psychischen Krankheit und einem dafür vorgesehenen Versorgungsapparat abhängig zu sein. Der Roman erschien 2021 auf Dänisch und liegt jetzt in deutscher Übersetzung von Hanna Granz vor. Im fünften Stock eines ehemaligen Pflegewohnheims leben fünf junge Erwachsene in einer betreuten Wohngemeinschaft wie in einem »Zuhause auf Probe«. Gemeinsam üben sie, Suppe zu kochen und sich auf einen eigenverantwortlichen Alltag vorzubereiten, der immer wieder in weite Ferne rückt, wenn es zu erneuten Krankenhauseinweisungen, Psychosen oder Gewaltausbrüchen kommt. Die intensive Wahrnehmung der Ich-Erzählerin von scheinbar belanglosen Gegenständen und zwischenmenschlichen Begegnungen verleiht dem Ort und den Menschen ihre Konturen: ein Stuhl, ein Bett, ein Spiegel, ein WG-Betreuer am Raucherbalkon, das Whiteboard in der Gemeinschaftsküche, die Wände eines Zimmers als schweigendes Publikum. Das Leben »auf der Fünf« wird von den psychischen Krankheiten und dem staatlichen System geprägt, das die Strauchelnden eigentlich auffangen soll. »Wieso fragt niemand nach dem Zusammenhang zwischen Fürsorge und Übergriffigkeit?«, stellt die Autorin in den Raum. Die Lücken in Gråbøls Erzählung entwickeln sich durch ihre bewusste Positionierung zu tragenden Elementen. Auf starke sprachliche Bilder in kurzen, episodenartigen Kapiteln folgen Pausen, die es den Lesenden erlauben, das Leben »auf der Fünf« nachzuempfinden, anstatt lediglich wie Voyeure am Rand zu stehen. Hanna Schneck

Tauno Vahter

Tauno Vahter

Die 11 Fluchten des Madis Jefferson. Salzburg/Wien: Residenz 2024. 256 S., 25 €

Tauno Vahter.

machtAuch in Estland werden Schelmenromane geschrie-ben. Doch nicht jeder ist ein Cervantes. Diese dünne Weisheit belegt Tauno Vahter in seinem brä-sigen Roman, der laut Klappentext in Estland einen renommierten Preis bekam. Wir folgen der traurigen Lebensgeschichte des estnischen Matrosen Madis Jefferson, der im zarten Alter von acht Jahren erstmals aus seiner Heimat abhaut: weil ihn keiner lieb hat, der Landstrich öde ist und die Menschen gemein sind. Schnell wird er am Hafen geschnappt und wieder nach Hause geschickt. Dort erwartet ihn die sorgengeplagte Mutter. Nun heißt es für Madis, auf die nächste Gelegenheit zur Flucht zu warten. Zwölf Jahre nach der ersten Flucht schafft er es endlich per Schiff nach Afrika und über die Fremdenlegion bis in die USA. Anstatt dort ein halbwegs freies Leben mit seiner Geliebten zu führen, kehrt er aus jugendlichem Leichtsinn und erfüllt von der Botschaft des Kommunismus nach Estland zurück, wo er Partei-funktionär wird. Als die Deutschen die Sowjetunion überfallen, flieht er mit den sowjetischen Besatzern nach Osten. Plötzlich beginnt ihn unterwegs das Gewissen zu plagen, er bricht mit den Kommunisten, erfindet eine amerikanische Identität und versucht die nächsten 45 Jahre, in die USA zu flüchten. Gulag, Psychiatrie, Sibirien, Lubjanka, Arbeitsplatzbindung, dem armen Madis und uns geduldigen Lesern bleibt in der Folge kein Klischee und kein Fettnäpfchen erspart. Verpackt in eine öde Sprache, ist dieser gedrechselte Roman weder schelmisch noch hinreißend. Frank Willmann

Judith Koelemeijer

Judith Koelemeijer

Mit dem ganzen Herzen. Das furchtlose Leben der Etty Hillesum. 1914–1943. Aus dem Niederländischen von Simone Schroth. München: C. H. Beck 2024. 607 S., 34 €

Judith Koelemeijer.

Nach der Publikation von Etty Hillesums Tagebüchern (s. logbuch 03/24) ist auch ihre Biografie erschienen: Hillesum war Zeitzeugin der Nazi-Diktatur in den Niederlanden. Das Buch ist nicht chronologisch, sondern thematisch strukturiert, mit Informationen zu ihren Freunden, Juden und Nicht-Juden, und prägenden Einflüssen. Wenn die Fakten fehlen, schildert die Autorin ihre Recherchen, Vermutungen und Schlussfolgerungen, und so ist die Biografie auch ein Forschungs- und Geschichtsbuch. Hillesums Familie waren keine orthodoxen Juden, aber sie wuchs als »jüdisches Mädchen« auf und fand durch ihre Erfahrungen zu ihrer jüdischen Identität. Sie beschreibt ihre Stimmungen, Ängste und Hoffnungen – »Das wird schon nicht so schlimm« – in ihrem engsten Freundeskreis. Eine innere Ruhe gibt ihr die Verpflichtung, ihren Landsleuten beizustehen auf ihrem Weg in die Lager und letzten Endes in die Gaskammern. Auch sie selbst muss im September 1943 mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder in einen Transport nach Auschwitz. Das Rote Kreuz nennt den 30. November 1943 als ihr Todesdatum. Ihre Freunde versuchten immer wieder, sie zum Untertauchen im Netzwerk des Widerstands zu bewegen – was sie stets ablehnte. Denn sie sah sich selbst als Teil der jüdischen Geschichte und leitete daraus ihre Pflicht zur »Basisarbeit« ab, als das »denkende Herz der Baracke«. Hillesums Traum war, dass die Menschen nach dem Horror des Nationalsozialismus »aus dem Schlamm kämen, als eine bessere, liebevollere Art Menschen«. Sie wollte eine »kleine Stimme« sein, die sich gegen Hass und Pauschalurteile auflehnt. Ihr letztes Lebenszeichen ist eine Karte, die sie aus dem Güterwagen des Transports nach Auschwitz warf und die gefunden und auf die Post gebracht wurde. Joachim Schwend

Thomas Kunst

Thomas Kunst

Thomas Kunst.

Weil er sie so liebt, oder weil unser Planet nur mit Katzenhilfe zu verstehen ist, lässt Thomas Kunst die Katze bereits im Titel aus dem Sack. Dahinter finden sich: Langgedichte, Sonette, Tanka und Kurzgedichte, und am Ende jedes Kapitels steht ein Brief an seine Katze. »WÜ ist mehr als nur eine Katze. WÜ ist Abholdienst von der Garage und abendliches Seelenheil. WÜ ist Bewegungsmelder und das erste Wesen, das mich morgens vor der Schlafzimmertür schon erwartet. WÜ ist eine Russisch-Blau. WÜ ist auch Wüste mit Wünschen.« Lyriker haben es heute nicht leicht, ihre Kunst an die Leserschaft zu bringen. Weil sie kaum noch jemand liest, sind Gedichtbände kleine geheime Feste der Sprache. Auch Thomas Kunst bietet ein Feuerwerk an Ideen, verwunschenen Sätzen und dick aufgetragenen Lebensweisheiten. Oft liefert er gleich einen handlichen Presslufthammer dazu, mit dem er in der nächsten Zeile wütend seine imaginären Lyrik-Bauten wieder einreißt. Leben heißt Fechten, Dichten heißt zuweilen, dem Elend der Welt die Harke zu zeigen, oder eben den Hammer. Mit codierten Aufträgen wie: »Meine Mama machte sich früher nichts aus ihren Haustürschlüsseln.« schickt Kunst uns nach Mecklenburg, um »einen Knoten in eine eng gewickelte Spirale aus Runddraht zu machen«. Wie schön, rufe ich aus und verkünde staunend Kunstens Kunst: »Die Elstern sind nur Elstern auf dem Feld. Ich habe mich an einem Reh verbrannt / Und sieze keinen Pinguin im Nebel.« Ansehnlicher geht’s nicht: Elstern, ein Reh und Pinguine im Nebel. Und das Ganze komplett ohne zu siezen! Wer sich auf WÜ einlässt, bekommt tausendfachen Lohn in guten Worten aus Thomas Kunsts bizarrer Sprachwelt ausgezahlt. Frank Willmann

Saša Stanišić

Saša Stanišić

Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. München: Luchterhand 2024. 256 S., 24 €

Saša Stanišić.

Zwölf Kurzgeschichten sind es diesmal geworden und teilweise kann »Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne« als Fortsetzung von Stanišić’ erstem Erzählband »Fallensteller« von 2016 gelesen werden. Georg Horvath taucht zum Beispiel wieder auf, vor acht Jahren noch verstimmt auf Geschäftsreise unterwegs, jetzt verstimmt in seine Familienangelegenheiten verwickelt. Der Grund ist so banal wie nachvollziehbar: Er kann nie gegen seinen achtjährigen Sohn im Memory gewinnen. Daraus ergibt sich eine Reflexion über seine Ehe, seinen Job und schließlich darüber, wie man im Leben glücklich wird. Wie immer gelingt Stanišić durch seine Alltagssprache, seinen Witz und seine Fähigkeit, die Gedanken seiner Figuren immer wieder springen zu lassen und dabei verständlich zu bleiben, ein großes Lesevergnügen. Ebenfalls wieder dabei ist Mo, ebenfalls acht Jahre älter, aber kein Stück erwachsener. In seinen Geschichten werden Stanišić’ Themen deutlich: Freundschaft, Solidarität und die Frage, wie eigentlich eine gute Geschichte erzählt wird. Mos Freunde wollen gar nicht wissen, ob er heute wirklich mit dem Panzer zum Doppelkopfspielen gekommen ist, ihr Vertrauen in seine Geschichten sind ihr Freundschaftsbeweis. Zusammen mit der titelgebenden Witwe Gisel, hin- und hergerissen zwischen Einsamkeit und sozialen Ängsten und der Figur des Autors selbst – der seinen eigenen Schreibprozess in den Texten reflektiert, dass Literaturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler ihre Freude daran haben dürften –, wird ein Staniversum geschaffen, das in jeder Geschichte neue Perspektiven auf das Leben aufzeigt. Und dabei glänzend unterhält. Alexander Böhle

Rüdiger Safranski

Rüdiger Safranski

Kafk a. Um sein Leben schreiben. München: Hanser 2024. 256 S., 26 €

Rüdiger Safranski.

Kürzlich erst sinnierte Alexandra Moe in The Atlantic darüber, dass wir alle falsch lesen würden. Um den Kern eines Werkes zu erkennen, sollten wir laut (vor)lesen. Das meinte auch Sven Regener im österreichischen Standard, als er über Kafka sprach (dessen Werke er eingelesen hat). Erst beim lauten Lesen erschließe sich der mehrdimensionale Kafka und dies bestärke »den Eigensinn« des Lesers. Ganz still und leise rezipiert hingegen der Germanist Rüdiger Safranski den Prager Autor. Eingangs steht hier Kafkas Diktum: »Ich […] bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein.« Der Satz wird zum Kanon des Buches, in dem Safranski versucht, dem Autor beim Schreiben zuzuschauen. Kafka erlaubte dies aber nur während seiner Jugend und auf dem Totenbett. Die Zeit dazwischen ist der Deutungshoheit wie Überzeugungsarbeit des Deuters überlassen. Safranski scheint angesteckt zu sein von der Ekstase, die Kafka beim Schreiben empfand, und versucht, dessen Leben poetologisch zu ergründen. Seine Gegner sind die vielen Lesarten, unter denen Kafka »fast zu verschwinden« drohe. Im Ergebnis schaltet Safranski in den ihm vertrauten Modus des Biografen und gräbt bekannte Geschichten aus der Perspektive der literarischen Existenz seines Studiensubjekts aus – eine Perspektive, aus der Kafka eher zu einem von Roland Barthes’ »Papierwesen« wird. Als solches ist er dann Katalysator für wiederholte Auslegungen des literarischen Vermächtnisses. So kann Safranski den Kafka-Biografen Reiner Stach oder Klaus Wagenbach nur in seiner leicht zugänglichen wie stark gerafften Schreibweise etwas entgegensetzen. Die hier erschlossenen Lebenssituationen passen sich am Ende in die von Kafka einmal selbst gezogene Bilanz ein: »Ich habe nicht gelebt, ich habe nur geschrieben.« Marcel Hartwig

Cecilia Rabess

Cecilia Rabess

Alles gut. Aus dem amerikanischen Englisch von Simone Jakob. Köln: Bastei Lübbe 2024. 432 S., 23,99 €

Cecilia Rabess.

Jess – Schwarz, untere Mittelschicht – und ihr Studienkollege Josh – weiß, wohlhabend – zeigen deutlich ihre gegenseitige Abneigung, als sie sich auf dem College in New York zyum ersten Mal treffen. Nach ihrem Abschluss in Mathematik arbeitet Jess bei der Bank Goldman Sachs als Analystin und trifft dort erneut auf Josh. Er wechselt bald zu einer anderen Firma, wird Trader und verdient viel Geld. Er wirbt sie ab für sein Team und obwohl sie sehr gute Arbeit leistet, wird sie entlassen – sie passe nicht in die Firmenkultur, sei zu sehr »auf Krawall gebürstet«. Auf Joshs Wunsch zieht sie bei ihm ein, aus Freundschaft wird Liebe. Dann findet Jess ihren Traumjob bei einem sozialkritischen Non-Profit-Nachrichtenmagazin. Ihre Artikel stoßen in Joshs konservativen und turbokapitalistischen Kreisen zunehmend auf Widerstand und der schwelende Konflikt zwischen ihnen eskaliert; sie verlässt Josh. Neben der romantischen Liebesgeschichte im Stil einer Telenovela hat der Roman auch eine politische Ebene. Die Handlung beginnt 2008 mit der Wahl von Barack Obama und endet 2016 mit der Wahl von Donald Trump – und führt in die tief gespaltenen Vereinigten Staaten mit erzkonservativen Republikanern, liberalen Demokraten, Rassismus und »Black Lives Matter«. Rabess, die als Data Scientist bei Google gearbeitet hat und Associate bei Goldman Sachs war, verbindet in ihrem Debüt Gesellschaftskritik mit einer manchmal ins Sentimentale abgleitenden Liebesgeschichte – und das in teilweise deftiger Sprache. Ihre nuancierten Beobachtungen zweier Menschen, die ihre Beziehung zwischen kontrastierenden Überzeugungen, Alltagsrassismus und politischen Spannungen zu erhalten versuchen, führen allerdings zu lohnenswerten Fragen über unsere Gegenwart. Joachim Schwend

Tobias Elsässer

Tobias Elsässer

Mute. Wer bist du ohne Erinnerung? München: Hanser 2024. 304 S., 17 €, ab 14 Jahren

Tobias Elsässer.

Tobias Elsässer erzählt von einer starken Familie, die für ihr Recht auf ein Leben in Freiheit kämpft. Aus Sicht der ältesten Tochter Espe werden Themen wie Adoption, Traumaerfahrung und Jugendpsychologie behandelt. Espe ist sechzehn Jahre alt und lebt mit ihren Adoptiveltern und drei Geschwistern in Deutschland. Wobei – so genau weiß man ihr Alter gar nicht, denn Espe kam als Flüchtlingskind stark unterernährt und ohne Papiere aus Mexiko in ein Waisenhaus in den USA. Die traumatischen Dinge, die sie und ihre Geschwister erlebt haben, werden nur in Bruchstücken geschildert. Doch das Lückenhafte ihrer Geschichte wirkt authentisch, schließlich geht es unter anderem um das Vergessen von schweren Schicksalsschlägen und um das Weiterleben danach. Die Lektüre ist herausfordernd, mit der Altersempfehlung ab 14 Jahren sollte vorsichtig umgegangen werden. Die Erzählung setzt sich aus Tagebucheinträgen zusammen, die Espe während ihrer psychotherapeutischen Behandlung aufschreibt. Darauf beziehen sich auch die fünf Teile, in die das Buch gegliedert ist: »Intuition«, »Sehen«, »Hören«, »Riechen« und »Fühlen« beschreiben psychologische Prozesse des Erinnerns. Jedem dieser Elemente fügt der Autor einleitend eine Definition bei, die auf unbewusste Wahrnehmungen, synästhetische Eindrücke und taktile Illusionen hinweist. Die Geschichte zeigt, wie stark die frühkindliche Prägung die psychische Entwicklung beeinflusst. Hormonelle Veränderungen in der Pubertät wirken dann als Verstärker und manchmal hilft nur noch ein Haustier. Und erst am Ende wird klar, wie das Buch zu seinem Titel kommt. Elena Schneck

Thomas Lehr

Thomas Lehr

Kafkas Schere. Zehn Etüden. Göttingen: Wallstein 2024. 79 S., 18 €

Thomas Lehr.

Franz Kafka ist ein gefährlicher Einfluss, und ein verlockender. Gerade seine kurzen Texte laden ein zum Imitat. Sie bewegen sich zwischen Parabel, Bericht, Albtraum und Groteske und sind meist ziemlich komisch. Oft kommen sie einfach daher, graben sich dann aber plötzlich – manchmal in einem einzigen Halbsatz – in ungeahnte Tiefen. Und eben da liegt das Problem: Sound und Setting lassen sich nachahmen, bei der Tiefe wird’s schwierig. Thomas Lehr, Jahrgang 1957, hat sich einen Namen gemacht mit anspruchsvollen, dickbauchigen Romanen. Nun erprobt er in »Kafkas Schere« die kleine Form. Gedacht ist das (im Kafka-Jahr) als Variation und Hommage, als Ergänzung des großen Vorbilds. Da Lehr sich in Kafkas Werk auskennt und gekonnt mit dessen Motiven spielt, ist das Resultat solide. Gleichzeitig erschöpfen sich die Miniaturen leicht in ihren Anspielungen. Das beginnt schon im ersten Text des Bandes. Darin sprechen Kopflose, sie werden von Hunden durch eine Art Hölle gejagt. Einmal heißt es: »Wer schickte die Hunde? Die Frage bohrte in uns wie ein Messer in den Rippen.« Die Hinrichtungsszene aus Kafkas »Der Process« klingt an, und doch: Isoliert betrachtet ist das Bild von der bohrenden Frage abgedroschen. Kafka wäre das nicht passiert. Das Wiedererkennen beim Lesen macht Spaß: Ach stimmt, bei Kafka gibt es auch so eine Stelle. Lehrs Stil ist anders als das nüchterne, beinahe verarmte Pragerdeutsch Kafkas. Trotzdem findet er auch eindrückliche Bilder. In einem besonders gelungenen Text kriechen Künstler eidechsengleich eine gewaltige Wand hinauf und stürzen vor den Augen ihrer Zuschauer in die Tiefe und ins Vergessen. Könnte das von Kafka sein? Vielleicht. Maurus Jacobs

Michel Houellebecq/Louis Paillard

Michel Houellebecq/Louis Paillard

Karte und Gebiet. Graphic Novel. Aus dem Französischen von Uli Wittmann. Köln: Dumont 2023. 160 S., 32 €

Michel Houellebecq/Louis Paillard.

Mit »Karte und Gebiet« landete der große französische Provokateur Michel Houellebecq 2010 einen Bestseller, gewann die Herzen vieler mitteleuropäischer Leser und Leserinnen – und heimste den wichtigsten französischen Buchpreis ein, den Prix Goncourt. Nun ist eine geniale Graphic Novel von Louis Paillard erschienen, die kühnste Comicträume wahr werden lässt. Mit feinem Schwung erschuf der Pariser Architekt ein aufregendes Buch voll detailreicher Illustrationen über zwei französische Künstlersubjekte beim fröhlichen Tanz am Abgrund. Als der fast vergessene Maler Jed dem Schriftsteller Michel Houellebecq begegnet, wendet sich Jeds halblausiges Schicksal: Es wird aufregend, wild – und nicht unblutig. Einer der beiden bleibt auf der Strecke in Houellebecqs mit Abstand lustigstem Buch, das die Kunst, die Liebe, Väter und das Geld verhandelt und solche Perlen enthält wie: »Du hast ja Popper und seine Theorie der Falsifizierbarkeit nicht gelesen. Macht nichts, Schatz, wir essen jetzt den Kabeljau.« Viele hielten Houellebecq schon immer für einen großen Witzbold. In »Karte und Gebiet« zeigt er, wie sehr er über sich selbst lachen kann. Und wer wusste bis dato, dass des Meisters Liebe allen Tieren der Welt galt, besonders dem superschlauen Schwein? Fazit: Die Graphic Novel schafft es in zarter Radikalität, den Aberwitz des Romans noch zu steigern. Frank Willmann

Tara C. Meister

Tara C. Meister

Proben. Salzburg/Wien: Residenz 2024. 256 S., 24 €

Tara C. Meister.

Caro und Johanna sind enge Freundinnen. Während die Naturwissenschaftlerin Caro im Labor versucht, den Fehler in ihrer Versuchsanordnung zu finden, inszeniert Johanna ein Theaterstück über eine Frau, die unbemerkt verschwindet. Das Stück und der Probenprozess bilden eine Art Metaerzählung, denn auch Johanna hat große Verluste erlitten und fürchtet nun, selbst zu verschwinden. Vom Bewerbungswochenende für ein Regiestudium kehrt sie ohne Studienplatz, dafür aber schwanger zurück. Sie will das Kind behalten, sich selbst aber auch, ein Dilemma. Und da auch Caro Johanna behalten will, in einem ziemlich wörtlichen Sinne, entscheiden sich die beiden Freundinnen, gemeinsam Eltern zu werden, jenseits der gängigen Formen. Ganz klar wird nicht, was die Freundinnen zueinander hinzieht, wobei vielleicht gerade darin, dass man den »Grund« der Zuneigung nicht erfassen kann, das Wesen von Freundschaft liegt. Die beiden haben sich in einer recht klassischen Rollenverteilung eingefunden, in der Caro kümmert und rettet und Johanna ihre teils übergriffige Fürsorge eher passiv über sich ergehen lässt. Hin und wieder will man sie schütteln, alle beide, und ihnen raten, die Dinge doch einfach mal auszusprechen. Dann wäre allerdings das Buch schnell zu Ende, das nicht zuletzt davon lebt, dass hier zwei ambivalente Figuren mit- und gegeneinander um Nähe und Autonomie, Differenz und Verbindlichkeit ringen − und zwar mal nicht auf Grundlage erotischer Liebe, wo solcherlei sonst oft verhandelt wird. Die Kraft dieses Romans liegt nicht nur in klugen Dialogen und genauen Beschreibungen, sondern vor allem darin, dass die beiden Figuren in ihrer ganzen Schwierigkeit und Schwäche gezeigt und dennoch getragen werden, voneinander und von der Erzählung, trotz aller Fragilität. Anna Kow