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Zürichblog – Die zweite Woche

Immer donnerstags – der »Zürichblog« von Felix Stephan. Teil 2: Die Sache mit der Zukunft

  Zürichblog – Die zweite Woche | Immer donnerstags – der »Zürichblog« von Felix Stephan. Teil 2: Die Sache mit der Zukunft

Eigentlich studiert Felix Stephan Journalistik und Germanistik in Leipzig. Er ist aber auch literarisch gut unterwegs, sein erster Roman schlummert noch in den Schubladen diverser Verlage. Seit Mitte Februar verbringt Felix ein Erasmus-Semester in Zürich. Von dort berichtet er von nun an jeden Donnerstag im »Zürichblog« auf kreuzerONLINE aus seinem neuen Leben.

Eigentlich studiert Felix Stephan Journalistik und Germanistik in Leipzig. Er ist aber auch literarisch gut unterwegs, sein erster Roman schlummert noch in den Schubladen diverser Verlage. Seit Mitte Februar verbringt Felix ein Erasmus-Semester in Zürich. Von dort berichtet er von nun an jeden Donnerstag im »Zürichblog« auf kreuzerONLINE aus seinem neuen Leben.

Teil 2: Die Sache mit der Zukunft

Lou Reed sagt in dem Film »Blue in the Face« von Paul Auster und Wayne Wang, er habe keine Angst in New York. Der Film kam raus, lange bevor Giuliani Bürgermeister war, es gab also noch durchaus Anlass, in New York Angst zu haben. New York war wirklich gefährlich damals, das glaubt man heute gar nicht mehr. Lou Reed sagte jedenfalls, er habe keine Angst in New York, er glaube aber, dass er in Schweden Angst haben würde: »Wenn Sie in Schweden an einer roten Ampel stehen und Sie machen den Motor nicht aus, kommen die Leute zu Ihnen und wollen darüber sprechen. Davor habe ich Angst. Aber New York? Nein.« Ich bin ziemlich sicher, dass sich Lou Reed in Zürich zu Tode fürchten würde. Zürich ist die Stadt, in der man aus dem Supermarkt kommt, den zusammengeknüllten Kassenbon in Richtung Mülleimer wirft und sich umdreht, ihn aufhebt und nochmal gewissenhaft wegwirft, wenn man nicht getroffen hat. In Zürich gibt es Leute, deren Job es ist, mit kleinen Spachteln den Dreck aus den Rolltreppenzwischenräumen zu kratzen. Und wenn man im Lichthof der Uni sitzt, sollte man nicht zuviel Dinge vor sich auf den Tisch legen. Man muss sie nämlich etwa alle 15 Minuten hochheben, weil jemand den Tisch abwischen möchte und fragt, ob er irgendwas wegschmeißen darf. Permanent macht jemand hinter einem sauber, eigentlich die ganze Zeit. Es ist ziemlich beklemmend.

Die Zürcher behandeln aber nicht nur ihre Stadt auf so eine strenge, genaue Art, sondern auch sich selbst. In dem Spanisch-Kurs, den ich hier mache, weil ich meine Französisch-Ambitionen kürzlich ehrlich beschämt aufgegeben habe, hat der Dozent in der ersten Stunde eine Art komödiantische Einleitung in die Welt des Spanischen gegeben. Er hat von Sex am Strand geschwärmt und übertriebene Spanier übertrieben imitiert und es gab viel Gekicher in den Reihen, ganz besonders, als er »Sex am Strand« gesagt hat. Aber mitten in dieser unverbindlichen Heiterkeit, bei der alle denken, dass unser Spanisch-Dozent so ein total Okayer ist, sprach er plötzlich von der Zukunft. Ich hätte es fast gar nicht gemerkt, aber es war von unserer Zukunft die Rede, meiner also auch, und die interessierte mich in der Tat. Der Spanisch-Kurs helfe uns vor allem beruflich, hat er erklärt, denn uns müsse klar sein, dass das hier an der Uni alles noch ganz unterhaltsam sei, aber wenn dann im letzten Semester die Firmen kämen und sich Leute rekrutierten, dann, ja dann seien wir nur noch billige Arbeitsware, das müsse uns klar sein, und wenn wir nicht ständig am Zahn der Zeit blieben, gäbe es für uns in der Welt da draußen keine Verwendung. Deutsch, Englisch und Französisch könne heute jeder, das sei keine Auszeichnung, sondern Voraussetzung. Außerdem sei es wichtig, in Vorstellungsgesprächen weder der Wegducker noch das Alphatier zu sein, da müsse man die Mitte finden und das würde alles aufgezeichnet und von Psychologen analysiert, keine Chance. Überhaupt falle man sehr leicht und dann gleich knallhart durchs Raster und gerade für Frauen sei das alles ohnehin nicht zu bewältigen, wegen dieser Kinderkriegen-Sache. Aus irgendeinem Grund hat der Dozent ein fürchterlich deprimierendes Bild unserer Zukunft gezeichnet, das ich seitdem zu verdrängen versuche, weil ich ehrlich gesagt nichts mit seinen entrückten Fahrenheit-451-Fantasien zu tun haben möchte.

Lichthof der Uni: Permanent macht jemand sauber
Die Schweizer, die etwa in meinem Alter sind, scheinen an so etwas aber gewöhnt zu sein und mitunter tatsächlich daran zu glauben. Im TGV nach Paris saß neben mir ein Mädchen in grauem Tweed und einer billig aussehenden Versace-Brille und lernte ein Vorstellungsgespräch auswendig. Auf ihren Notizen stand immer ein Stichwort und darunter ihre behaupteten Ansichten dazu, also etwa SPORT und „finde es wichtig, körperlich und geistig fit am Arbeitsplatz zu erscheinen“ oder so etwas. Ihre größte SCHWÄCHE sei demnach eine gewisse »Übertreibung beim Lösen beruflicher und privater Probleme«. Das Mädchen, das ich mir nicht mit offenen Haaren vorstellen konnte, hatte sich vorgenommen, ihrer zukünftigen Firma schon beim ersten Gespräch vollkommen gelogenen Unsinn aufzutischen. Vielleicht hatte sie auch den Spanisch-Kurs gemacht, dachte ich. Vielleicht versucht die Schweizer Jugend ja aber tatsächlich so verzweifelt in den Konzernen der Eltern auf- und unterzugehen, dass sie ihnen wirklich alles erzählen würde. Ich musste an den Film »Burning down the house« von Holger Ernst und Wim Wenders denken. Darin sagt ein verzweifeltes und sehr hübsches Mädchen beim Vorstellungsgespräch: »I can give a lot. I can give head.« und das lässt sich der Personalchef natürlich nicht entgehen, wäre ja noch schöner. Das reale Mädchen ist dann in Basel ausgestiegen und während ich ihr dabei zugesehen habe, habe ich gehofft, dass sie heute noch so ein pathetisches Erweckungserlebnis hat, bei dem sie merkt, was wirklich wichtig ist, die Haare so in Zeitlupe aufschüttelt und ihrem Vater mal die brandneue Meinung geigt.

Als ich mir gestern im Kreis 6 eine WG angesehen habe, weil mein Zimmer in Zürich ja keine Heizung hat, ging es mir ganz ähnlich, also dass mir Gleichaltrige vollkommen fremd und abseitig vorgekommen sind. Die WG hatte im Treppenhaus anspielungsreich den Nerd-Insidergag „Follow the white rabbit“ mit buntem Bastelpapier an die Wand geklebt und eine blinkende Lichterkette um den Türrahmen gelegt, so dass ich den Jungen, der die Tür geöffnet hat, immer nur eine Sekunde erkennen konnte. Für das Zimmer hatten sich bis dahin 43 Personen gemeldet und die standen alle mit einem Wasserbecher in der Hand im Flur und führten Gespräche über ihren Cocktailgeschmack und verglichen Auslandserfahrungen, die alle genau klangen wie das, was hier gerade stattfand. Ein Mädchen, das ein Piercing in der Unterlippe und – da machte ihr Feinrippunterhemd keinen Hehl draus – eines in der linken Brustwarze hatte, kam auf mich zu und fragte vielversprechend, ob ich schon bedient worden sei. Ich verneinte und sagte, dass ich gerade eben erst gekommen sei und die Wohnung hier wirklich toll fände, also – wirklich – toll. Sie fragte, was ich denn so in meiner Freizeit mache und ich überlegte kurz und sagte dann »Ich gucke gern unter meinem Bett nach, das hat sowas Euphorisierendes«, aber sie lächelte darüber nicht einmal. Stattdessen fotografierte sie mich und sagte, ich solle mich da hinten auf eine Liste eintragen. Vorher wollte sie nur noch kurz wissen, ob ich denn gern ausgehen würde. Das mache die WG nämlich schon ganz gern und zwar am liebsten gemeinsam. Nicht sooo häufig, aber dann doch ganz gern und gemeinsam sei wichtig. Ich sagte, dass ich mir gerade in Paris eine Angel gekauft hätte, das komme von diesem ständigen Hemingway-Lesen, das man ja doch immer wieder macht, und ob sie wisse, wie man so ein Gerät bediene, ich hätte nämlich keine Ahnung davon. Das Mädchen sah mich an wie einen Yeti und so fühlte ich mich auch.


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