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Stadtleben

Neuer Erinnerungsort mit einigen Leerstellen

Erinnerungsort für die ermordeten Kinder der nationalsozialistischen Euthanasie-Verbrechen eröffnet

  Neuer Erinnerungsort mit einigen Leerstellen | Erinnerungsort für die ermordeten Kinder der nationalsozialistischen Euthanasie-Verbrechen eröffnet  Foto: Britt Schlehahn

An der Marschnerstraße, an der Rückseite des Campus Jahnallee wurde am Dienstagmittag nach langer Zeit und einigen Debatten ein Erinnerungsort an die getöteten Kinder der nationalsozialistischen Euthanasie-Verbrechen in Leipzig eingeweiht.

Der Erinnerungsort

Der Erinnerungsort besteht aus zwei künstlerischen Positionen. Einzelne Betonpflanzkübel und eine kleine Betonbank mit der Inschrift »Kleiner Garten für die Kinder« sowie eine schmale Wiese samt Kirschbaum entwarf der Direktor des Instituts für Kunstpädagogik und Lehrstuhlinhaber für Design und Neue Medien, Andreas Wendt. Gepflegt werden soll der Garten von Studierenden der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät. Dazu gibt es einen Text, in dem unter anderem zu lesen ist:

»Der Garten wird mit Sorgfalt gehegt und gepflegt. Er erinnert uns auf offensichtliche und auch subtile Weise daran, wie wichtig es ist, niemals zu vergessen, welches Leid die Opfer in der Zeit des Nationalsozialismus erleiden mussten – sei es durch die Täter oder durch die Mitläufer, die an der Universität Leipzig geduldet wurden. In dieser dunklen Periode wurden Menschen zwangssterilisiert und Kinder sowie Jugendliche mit auffälligem Verhalten, geistiger oder körperlicher Behinderung getötet.«

Dem Garten gegenüber steht ein Schreibtisch aus Beton, mit einem kleinen Stuhl davor und einem großen dahinter, die wie auch das Telefon, ein Stempelkarussell und ein Buch aus Gußeisen bestehen. Diese Idee stammt von Tobias Rost, der als Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Kunstpädagogik arbeitet.

Hierbei fällt vor allem auf, dass die Stühle zumindest ein gewisses Verhältnis von Gegenüber suggerieren, was ganz sicher nicht der seit 1940 stattgefundenen systematischen Ermordung entspricht. Für Rost bedeutet diese Konstellation der leeren Stühle: »Jede Person kann die Position der Opfer und der Täter einnehmen«, wie im Begleitband nachzulesen ist. Besonders die zuletzt genannte Option verwundert doch sehr an einer Erinnerungsstätte.

In dem aufgeschlagenen Buch auf dem Schreibtisch finden sich Textfragmente »Universität Leipzig/ Tötungsprogramm an behinderten Kindern/ Beteiligt/ Tausende Kinder wurden aufgrund ihrer Behinderung ermordet.« Auffällig daran ist, dass wie bereits im Text von Wendt die Namen der Täter fehlen. Das ist so gewollt, denn so Rost, »der Text muss gelesen und im Kopf ergänzt werden«.

Konkrete Namen finden sich auch nicht an der danebenstehenden Stele. Sie informiert unter der Überschrift »Wider das Vergessen in Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft« über die getöteten Kinder im Rahmen der Euthanasie in den seit 1940 existierenden sogenannten Kinderfachabteilungen. »Dieser Ort soll dazu anregen, sich mit der heute noch bestehenden Ausgrenzung und Herabwürdigung von Menschen und insbesondere von Kindern mit Behinderung auseinanderzusetzen.«

Zur Vermittlung gibt es zudem eine vom Institut für Kunstpädagogik erarbeitete Broschüre. Der Erinnerungsort wurde von der Universitätsstiftung finanziert.

 

Die Debatte um die Erinnerungen und den Ort

Als der kreuzer im Dezember 2021 über das Denkmal berichtete, untersagte Tobias Rost die Abbildung seines Entwurfes. Möglicherweise stand dies im Zusammenhang mit der publizierten Skizze in der Jungle World und der dort formulierten Kritik, dass bei der Erarbeitung des Erinnerungsortes behinderte Menschen nicht beteiligt waren.

Daneben war zudem verwunderlich, warum kein öffentlicher Wettbewerb ausgeschrieben war.

Weit davor hatte sich Gunter Jähnig, der Vorsitzende und Geschäftsführer des Behindertenverbandes Leipzig, bereits für ein Denkmal stark gemacht – am liebsten im Uni-Innenhof oder an der Außenwand der Uni-Mehrzweckhalle am Augustusplatz, also in der Mitte der Universität und nicht an der Rückseite eines Hochschulgebäudes.

Die Unirektorin Eva Inés Obergfell wie auch die nach ihr folgenden Rednerinnen erklärten am Dienstag die besondere Bedeutung von Leipzig im Zusammenhang mit den Euthanasie-Verbrechen – in zweifacher Hinsicht. Zum einen erschien 1920 die Schrift »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« vom ehemaligen Leipziger Unirektor Karl Binding (bis 2010 Ehrenbürger der Stadt Leipzig) und dem Psychiater Alfred Hoch. Sie gilt als eine Grundlage der seit 1940 in Deutschland großflächig durchgeführten Morde mittels Übermedikamentisierung, unterlassener Ernährung von Menschen in sogenannten Fachabteilungen unter dem Deckmantel des Begriffs Euthanasie – aus dem altgriechischen für guter Tod – oder durch Vergasung in den Tötungsanstalten. Das erste Opfer deutschlandweit – Kind Knauer – wurde im Sommer 1939 in der Kinderklinik in der Oststraße vom dortigen Direktor Werner Catel (1894-1981) verantwortet. Er richtete die sogenannte Kinderfachabteilungen, in denen die Euthanasiemorde stattfanden, in Dösen und in der Uniklinik ein. Catel tötete auch Gertrud Oltmanns, die in der 2018 auf dem Erziehungswissenschaftlichen Campus eröffneten Ausstellung »Ausgegrenzt, entwürdigt, vernichtet« zu sehen ist. Die Namen machen die Verbindung zwischen Leipzig und den Euthanasie-Verbrechen deutlich, umso mehr fehlen diese Täternamen an dem fertigen Erinnerungsort.

Warum sich aber das Gedenken an die Kindereuthanasie auf die Erziehungswissenschaftliche Fakultät konzentriert, bleibt auch nach der Eröffnung nicht nachvollziehbar. Denn wie Thomas Seyde, Psychiatriekoordinator der Stadt, völlig zurecht in seiner sehr bewegten Rede zur Eröffnung betonte, handelte es sich bei den Euthanasieverbrechen nicht um Verbrechen von einzelnen Personen. Vielmehr gehörte dazu ein engmaschiges Netz bestehend aus Verwaltungen – von den Fürsorgeämtern über die Krankenkasse bis zur Universitäts- und Friedhofsverwaltungen. Das Ausmaß reichte daher von der Universität bis zur Kommune.

Die Stadt hat es vorgemacht: Der Stadtrat beschloss am 13. Dezember 2006 das Gedenken und die Erforschung von Euthanasieverbrechen in Leipzig. Seit 2011 gibt es im Friedenspark – dem ehemaligen Neuen Johannisfriedhof – die Gedenkstätte Wiese Zittergras samt Homepage mit umfangreichem Material zu Opfern und Tätern.

Dem Erinnerungsort an die Kinderopfer hätte etwas mehr Weitblick in der Universität geholfen, um nach Jahrzehnten der Debatten einen zeitgenössischen Ort zu schaffen. Einerseits einer, der nicht abgeschirmt hinter dem Zaun auf dem Campus liegt, sondern wie im Friedenspark die Stadtgesellschaft mit dem Schrecken der Vergangenheit im Alltag konfrontiert. Andererseits hätte es das erste Denkmal in Deutschland unter Mitarbeit von behinderten Menschen werden können.

 

www.uni-leipzig.de/mahnmal

https://www.die-wiese-zittergras.de/

 


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1 Kommentar(e)

sven bärmig 20.04.2024 | um 08:52 Uhr

Hallo, Zwei kleine Ergänzungen zum Artikel sind noch interessant: Die „Wiese Zittergras“ ist leider nicht so bekannt, wie es im Text klingt. Selbst Menschen, die den Friedenspark regelmäßig besuchen oder nutzen kannten sie nicht, wie Studierende der Förderpädagogik in einem Seminar zum Thema herausfanden. Weiterhin unerwähnt bleibt immer die „Stolperschwelle“, die in der Chemnitzer Str. an einer Bushaltestelle (!) verlegt werden musste, da am eigentlichen Ort der ehemaligen Psychiatrie in Dölitz kein Platz gefunden werden konnte. Die Aktion selbst wurde mit Menschen mit Behinderung der Diakonie initiiert und durchgeführt, zusammen mit dem Verein „Erich Zeigner Haus e.V.“