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Zürichblog – Die vierte Woche

Immer donnerstags – der »Zürichblog« von Felix Stephan. Teil 4: Piccolo-Flöten und Trommeln

  Zürichblog – Die vierte Woche | Immer donnerstags – der »Zürichblog« von Felix Stephan. Teil 4: Piccolo-Flöten und Trommeln

Eigentlich studiert Felix Stephan Journalistik und Germanistik in Leipzig. Er ist aber auch literarisch gut unterwegs, sein erster Roman schlummert noch in den Schubladen diverser Verlage. Seit Mitte Februar verbringt Felix ein Erasmus-Semester in Zürich. Von dort berichtet er von nun an jeden Donnerstag im »Zürichblog« auf kreuzerONLINE aus seinem neuen Leben.

Eigentlich studiert Felix Stephan Journalistik und Germanistik in Leipzig. Er ist aber auch literarisch gut unter- wegs, sein erster Roman schlummert noch in den Schubladen diverser Verlage. Seit Mitte Februar verbringt Felix ein Erasmus-Semester in Zürich. Von dort berichtet er von nun an jeden Donnerstag im »Zürichblog« auf kreuzerONLINE aus seinem neuen Leben.

Teil 4: Piccolo-Flöten und Trommeln

Mein Freund Daniel machte einen sehr gesunden Eindruck, was wahrscheinlich daran lag, dass er jetzt Geld verdiente und sich richtig gutes Essen machen konnte. Ich kenne ihn noch aus Leipzig und schon dort war er dafür bekannt, die badische und elsässische Küche bis in die Nuancen zu beherrschen. Man saß gern in seiner sonnigen Küche, ließ sich bewirten und analysierte aufgebracht die Nachrichtenlage. Oft war es so, dass man gerade in der Gegend war und nicht grußlos an seiner Wohnung vorbei gehen wollte, also klingelte man und traf auf ein oder zwei Freunde, die schon in der Küche saßen und sich gegenseitig auf den neuesten Stand ihrer jeweiligen Angelegenheiten brachten. Dann gab es in dieser Reihenfolge baden-württembergischen Weißwein, Leber-Gulasch mit Klößen, Crepes mit kandierten Äpfeln, Espresso und wieder Weißwein. Daniel reichte diese Dinge immer einfach nacheinander auf den Tisch und sprach dabei kaum. Auch in Basel redete er nicht viel, aber sein Schweigen war kein bedrücktes, sondern ein sehr entspanntes, wenn man das so unterscheiden kann.

Aufgepasst beim Grenzübertritt: »Sonst passiert was«
Wir fuhren in das Dreiländereck, wo die Fondation Beyeler steht, und bewunderten zehn Sekunden die Architektur und die gelassene Arriviertheit dieses Museums. Dann bemerkten wir, dass wir gar keine Lust mehr hatten, uns die malträtierten Leinwände anzusehen, vor allem, weil das Museum viel zu gut besucht war, und wir beschlossen, auf einen Berg zu gehen, der dort auf der Wiese stand, und uns die drei Länder von oben anzugucken. Auf dem Weg erzählte mir Daniel, dass er vorhatte, in jedem Ressort seiner Zeitung einen großen Artikel unterzubringen, der in irgendeinem Sinne von Fleisch oder Wurst handelt. Im Lokalteil und in der Wirtschaft sei er bereits erfolgreich gewesen, in der Kultur falle ihm auch schon noch was ein, aber Sport bereite ihm Kopfzerbrechen. Ich sagte, dass ich das für eine bemerkenswert subversive Medienkunst-Aktion halte, aber so meinte er das gar nicht, glaube ich. Jedenfalls sah er mich irritiert an, als ich es subversiv nannte, und sprach danach einfach nicht mehr davon. Auf dem Berg waren ein paar weinrote Schilder aufgestellt, die über die Geschichte des Rebbaus hier Auskunft gaben. Also nicht über die Geschichte des Rebbaus in der Region, sondern wirklich nur auf diesem Berg. Früher habe es hier 70 Hektaren Anbaufläche gegeben, wie es schweizerisch heißt, heute seien nur noch sechs. Rote und weiße Weine hielten sich die Waage. Rechts und links der schmalen und steilen Wege klammerten sich lauter Miniatur-Anbauflächen an den Hang, die bisweilen aus weniger als 50 Quadratmeter bestanden und sorgfältig umzäunt waren. Sie wurden offenbar von Schreber-Winzern betrieben und die ersten Ehepaare machten sich schon in ihrem Garten zu schaffen und beschnitten die Reben. Mitten in dieser Siedlung gab es ein Schild, das die Schweizerisch-Deutsche Landesgrenze markierte und Anweisungen erteilte, die man beim Überschreiten der Grenze zu beachten hatte. Demnach durfte man keine Waren mitnehmen und nachts überhaupt nicht über die Grenze. Das Schild nahm sich sehr wichtig, dabei stand es ganz schön auf verlorenem Posten. Es las sich, als hätte jemand ein »sonst passiert was« am Ende weggestrichen.

Auf dem Rückweg gerieten wir in eine Gruppe mittelalter, gut gekleideter Männer, von denen einige Schärpen trugen. Sie sammelten sich vor dem Restaurant »Am Wiesengrund« und liefen dann in Dreier-Reihen zur Straßenbahn. Währenddessen spielten sie mit Piccolo-Flöten und Trommeln eine Melodie, die nur aus drei oder vier Takten bestand und sich ständig wiederholte. Ein hagerer Mann mit blondem Seitenscheitel lief vorneweg und schwang einen Stab und drehte ihn und warf ihn manchmal in die Luft. Wir hielten die Männer für eine Burschenschaft, die ihr jährliches Ehemaligen-Treffen abhielt, und sie wirkten ziemlich nationalistisch, so marschierend im Abendlicht und vor dem Alpenpanorama, allerdings waren wir furchtbar im Irrtum. Wir hatten kaum die Innenstadt erreicht, als die Straßenbahn plötzlich zwischen zwei Stationen abbremste und kaum mehr Schrittgeschwindigkeit fuhr, wobei sich niemand beschwerte oder auch nur aus dem Fenster sah. Aus verschiedenen Richtungen kam diese Melodie, die die Männer vorhin gespielt hatten, und Daniel und ich pressten unsere Gesichter gegen die Scheiben. Wir stiegen aus, sobald es ging, und sahen, dass vor der Straßenbahn drei weitere Kapellen waren, an deren Spitze jemand einen Stab schwenkte. Sie trafen sich gerade an einer Kreuzung und versuchten, mit Blicken die Vorfahrt zu regeln, und sie alle spielten diese Melodie, die wie ein fröhlicher Marsch klang, wie ein Wandererlied. Die Kapellen stimmten sich allerdings nicht aufeinander ab, sondern spielten jeweils für sich, was zu schmerzhaften Interferenzen führte, wenn man ungünstig stand. Die Burschenschaft, die offenbar doch gar keine war, war jetzt auch ausgestiegen, hatte sich neu formiert und setzte ein. Am Ende der Straße, hinter der Straßenbahn, näherte sich eine weitere Kapelle. Wir liefen über eine der Rheinbrücken und auf der anderen Seite sah es ganz genauso aus, nur um ein Vielfaches multipliziert. Um wirklich jede Hausecke marschierte irgendeine Gruppe und spielte dieses Lied mit Piccolo-Flöten und Trommeln, als würde jeder Basler eines dieser Instrumente beherrschen. Manche Kapellen bestanden aus etwa 25 Leuten, manche aus zehn oder fünf. Einmal haben wir eine Mutter gesehen, die engagiert die Flöte spielte und ihr Sohn trommelte etwas missmutig hinter ihr her. Das war die kleinste Gruppe, die uns begegnet ist.

Schweizer Nationalstolz Nr. 2
Hin und wieder liefen uns auch ambitioniertere Vereine über den Weg, die ganze Schlagzeuge mit Becken und Bassdrum auf einer selbst gebauten Stahl-Konstruktion vor sich her rollten und Samba-Rhythmen spielten oder Green-Day-Klassiker mit verschiedenen Bläsern. Diese Leute hatten aber auch die opulentesten Schnurrbärte, auf ihren schwarzen Wappen stand »Die Hunnen« und eigentlich störten sie. Daniel und ich sind ein wenig durch die steilen Gassen gelaufen, um wieder unser eigenes Wort zu verstehen, aber hinter jeder Ecke wartete eine Kapelle. Sie kamen aus Höfen, aus Restaurants und aus Geschäften auf die Straße, als gäbe es ein Hochwasser. Die ganze Stadt schien auf den Beinen zu sein und es war das beseelteste Volksfest, an das ich mich erinnern kann. Die Leute wirkten auch alle sehr nüchtern und ehrlich gesagt auch etwas unausgelassen. Sie liefen durch die Straßen und spielten, als gehöre es sich. Keiner sah auf, nur selten grüßte man sich und wenn man an einer Kreuzung warten musste, so wartete man und spielte weiter. Nicht, dass sie sich nicht amüsiert hätten, das haben sie, aber die Musik wirkte wie eine gern gesehene, regelmäßige Aufgabe, von der irgendetwas abhing. Alles ging sehr geregelt vonstatten, obwohl ich nicht einen Polizisten oder Lautsprecher gesehen habe. Die Basler organisierten das alles selbst und trotzdem war nicht mit Verletzten zu rechnen. Daniel und ich saßen auf der Straßenterrasse eines golden beleuchteten Restaurants und sahen den Schweizern staunend dabei zu, wie sie sich sehr schweizerisch verhielten. Ich musste daran denken, dass die Menschen in diesem Land selbst und auf kantonaler Ebene darüber abstimmen, wie viel Steuern sie bezahlen möchten und konnte mir erstmals vorstellen, warum das funktioniert.


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