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Kultur

»Wir bringen Steine ins Rollen, und der Leipziger muss sich entscheiden«

Der designierte Schauspiel-Intendant Sebastian Hartmann über biografische Umwege, die Volksbühne als Vorbild und seine Erwartungen ans Publikum

  »Wir bringen Steine ins Rollen, und der Leipziger muss sich entscheiden« | Der designierte Schauspiel-Intendant Sebastian Hartmann über biografische Umwege, die Volksbühne als Vorbild und seine Erwartungen ans Publikum

Mit der Straßenbahn sind es 14 Minuten vom Hauptbahnhof bis nach Mockau. Hier draußen steht die Probebühne des Schauspiels Leipzig. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, und Sebastian Hartmann genießt einen kurzen Moment der Ruhe. Der 40-Jährige lehnt in der Eingangstür. Gerade hat er die Konzeptionsprobe zu »Matthäuspassion« beendet, jenem Stück-Triptychon, mit dem der neue Intendant und sein Ensemble zum Spielzeit-Auftakt am 18. September ihre Position bestimmen wollen. Am Vortag ist er erstmals vor die Presse getreten – nun gibt er im Interview detailliert Auskunft über seine Pläne.

Mit der Straßenbahn sind es 14 Minuten vom Hauptbahnhof bis nach Mockau. Hier draußen steht die Probebühne des Schauspiels Leipzig. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen, und Sebastian Hartmann genießt einen kurzen Moment der Ruhe. Der 40-Jährige lehnt in der Eingangstür. Gerade hat er die Konzeptionsprobe zu »Matthäuspassion« beendet, jenem Stück-Triptychon, mit dem der neue Intendant und sein Ensemble zum Spielzeit-Auftakt am 18. September ihre Position bestimmen wollen. Am Vortag ist er erstmals vor die Presse getreten – nun gibt er im Interview detailliert Auskunft über seine Pläne.

kreuzer online: Sie haben gerade Ihren ersten Spielplan vorgestellt und damit den öffentlichen Raum in Besitz genommen, in dem Sie von nun an agieren werden. Wie hat es sich angefühlt?

SEBASTIAN HARTMANN: Es war eine ungewohnte Situation. Ich habe die Fühler aber nicht so sehr nach außen gestreckt, sondern versucht, sehr bei mir zu bleiben und tatsächlich das, was ich im Moment empfinde und was im letzten Jahr entstanden ist, wiederzugeben.

kreuzer online: Die Situation, als Sie erstmals mit den 30 Schauspielern des neuen Ensembles zusammentrafen, haben Sie als weitaus aufregender beschrieben.

HARTMANN: Absolut. Es war etwas ganz Besonderes, das erste Mal nicht nur eine eigene Besetzung, sondern ein komplett eigenes Ensemble zu kreieren. Und die dann alle auch untereinander zu erleben, wie die sich angucken ... Da war viel Energie im Raum.

kreuzer online: Wie ist momentan Ihr Zeitempfinden? Läuft Ihnen die Zeit davon, oder können Sie es kaum erwarten loszulegen?

HARTMANN: Ich konnte es kaum erwarten, ich habe ja nun losgelegt. Sie treffen mich gerade nach der Konzeptionsprobe. Jetzt bin ich ruhiger.

kreuzer online: Sie hatten ungewöhnlich wenig Zeit, um die erste Spielzeit vorzubereiten. Einige Ihrer Mitbewerber wollten sich darauf nicht einlassen. Warum haben Sie es dennoch getan?

HARTMANN: Vor über zehn Jahren stand ich am Scheideweg, ob ich Theater- oder Filmregie machen wollte. Meine erste Regiearbeit war ein Kurzfilm. Aber bald wusste ich: Für einen Spielfilm reicht meine Geduld nicht aus. Im Theater ist das anders: Du kannst aus dem Nichts heraus unglaublich schnell was auf die Beine bringen. Ich wusste ja, wie das funktioniert, und so hab ich mich auf das Theater bezogen. Als es jetzt darum ging, nur ein Jahr oder doch zwei Jahre Vorbereitungszeit zu haben, ging es mir ähnlich. Ich konnte mir nicht vorstellen, zwei Jahre durch die Gegend zu rennen und zu sagen: Ich werd Intendant! Ich bin ja ein produzierender Intendant und kein Manager-Intendant.

kreuzer online: Sie beginnen Ihre Intendanz mit einem Abend, der mit »Matthäuspassion« überschrieben ist – Liebeserklärung oder Kampfansage an die Bachstadt?

HARTMANN: Je älter ich werde, desto mehr entferne ich mich von Entweder-oder-Zuständen. Gerade Glauben ist für mich nicht in Plus oder Minus gepolt, sondern ein Sowohl-als-auch-Zustand. So sehr ich etwas liebe, so sehr kann ich es auch hassen. Momentan fühle ich mich unendlich wohl in der Stadt, aber noch bin ich ja in Deckung. Das ändert sich vielleicht, wenn die ersten Arbeiten über die Bühnen gehen.

kreuzer online: Sie wurden in Leipzig geboren, haben hier studiert und erstmals inszeniert – Ihr Amtsantritt als Intendant ist, so gesehen, auch eine Rückkehr zu den Wurzeln. Dennoch markiert Leipzig für Sie sicher eher einen Aufbruch als eine Heimkehr. Wie sehen Sie es selbst?

HARTMANN: Vor zwei Monaten bin ich mit meinem Sohn über ein frisch abgemähtes Feld gelaufen. Ich schlug den direktesten Weg ein. Diagonal drüber. Unser Weg war gekreuzt von Tierpfaden, und mir fiel auf: Die verlaufen ja gar nicht gerade! Ich dachte: Mensch, wie blöd sind denn die Tiere? Dann sah ich mir das Gelände genau an, und mir fielen unterschiedliche Windrichtungen, Anhöhen und Sonnenstellungen auf. Da wurde mir mal wieder klar, dass der gerade Weg nicht unbedingt der schnellste ist. Um auf die Frage zu kommen: Es hat eine verblüffende Logik, 1968 in Leipzig geboren zu sein, zum Studium wiederzukommen und Schauspieler zu werden, fünf Jahre später hier die erste Regie zu machen und zehn Jahre später hier Intendant zu werden. Das schockiert mich schon beinahe ein bisschen.

kreuzer online: Warum?

HARTMANN: Als ich hier vor weit über zehn Jahren Dozent am Schauspielstudio war, sagten einige Schauspieler vom Theater zu mir: Mensch, was du da mit den Studenten machst, kannst du das nicht auch mal mit uns machen? Da habe ich mich mit breiter Brust bei Herrn Engel beworben, um mehr oder weniger sanft abgeschmettert zu werden. Jetzt plötzlich mit Wolfgang Engel im Büro zu sitzen und die Namensübergabe zu besprechen, ist total merkwürdig. Ich finde das nicht unlogisch, aber die Zeit dazwischen hat so viel Bewegung in mein Leben gebracht, dass es eben doch nicht so logisch und linear ist, wie es scheint.

kreuzer online: Sie sind zwar hier »theatermäßig« groß geworden, haben aber Leipzig, dem Osten insgesamt, zuletzt eher den Rücken gekehrt ...

HARTMANN: ... ich hab dem Osten nie den Rücken gekehrt!

kreuzer online: Okay, wir haben »Macbeth« in Magdeburg unterschlagen.

HARTMANN: Warten Sie mal! Ich hab 1997 in der Schaubühne Lindenfels begonnen, aber danach kein Angebot bekommen, noch mal dort zu inszenieren. Dann hab ich mich in Berlin durchgeschlagen, im Theater unterm Dach und im Tacheles. Dann kam ich nach Jena, ans Junge Theater Göttingen, schließlich an die Volksbühne. Ab dem Augenblick ging es steil nach oben. Und ich sage Ihnen: Ich habe von keinem Ost-Theater ein Angebot bekommen! Als die Angebote aus Köln und Basel kamen, sagte ich mir: Das kann nicht sein – ich möchte doch dort inszenieren, wo ich herkomme! Ich habe sogar in den Theatern angerufen und gesagt: »Hallo, hier ist Sebastian Hartmann ...« – »Wer ist da? Na, dann bewerben Sie sich doch mal.« Es hat viele Jahre gedauert, bis mir Tobias Wellemeyer einen Brief schrieb und wir innerhalb kürzester Zeit die »Macbeth«-Inszenierung in Magdeburg auf die Beine stellten.

kreuzer online: Sie gelten als bildmächtiger, fantasievoller Theatermacher, der auf Konventionen pfeift und dessen Arbeit stark polarisiert. Warum war es Ihnen als ungebundener freier Geist so wichtig, ein festes Haus, das ja zunächst mal auch ein träger Tanker ist, zu übernehmen?

HARTMANN: Ich bin davon überzeugt, dass Theater gar nicht träge ist. Ich glaube auch, dass eine Mannschaft von 190 Leuten unglaublich flexibel und schnell arbeiten kann, wenn genau das der Geist des Hauses ist. Und es hängt natürlich auch davon ab, wie schnell wir den Kontakt zum Publikum aufnehmen, den das Theater momentan etwas verloren hat.

kreuzer online: Ihre Theaterarbeit ist stark durch die Erfahrungen an der Volksbühne geprägt. Was haben Sie von dort mitgenommen? Wie viel Castorf steckt in Ihren aktuellen Inszenierungen?

HARTMANN: Ich bin irritiert, dass die meisten Journalisten in meinem Theater permanent Castorf sehen. Wir beide haben einen ähnlichen Ansatz, nämlich den buchstäblichen Gebrauch des Stoffes zugunsten der eigenen Geschichte. Ich erzähle mit dem Stoff etwas von mir. Ich mache mich nicht zum Stellvertreter des Stoffes und bringe ihn auf die Bühne. Als ich 19, 20 war, habe ich die erste Castorf-Inszenierung in Karl-Marx-Stadt gesehen, den »Volksfeind«. Ich hab nichts verstanden, aber seitdem wollte ich ein anderes Theater gar nicht mehr sehen. Und dann gab es einen unglaublichen Zufall: Unsere Kinder, eine Tochter von Frank und mein erster Sohn, gingen in Berlin zusammen in den Kindergarten. Die haben sich dort auch noch verliebt und wurden richtige Freunde. So war es unumgänglich, dass wir uns kennenlernten. Und irgendwann hingen wir beide auf einer Kindergeburtstagsfeier, saßen hinterm Puppentheater – und haben gespielt. Da begann eine sehr besondere Form von Freundschaft. Die gibt es eigentlich nicht zwischen Regisseuren. Regisseure sind, egal wie extrovertiert sie sind, letztlich introvertierte Menschen und Einzelgänger. Das bringt der Beruf so mit sich.

kreuzer online: Wie ging die Geschichte weiter?

HARTMANN: Er hat sich genau angeguckt, was ich in der Off-Szene gemacht habe. Ich hab nie daran gedacht, dass er mich an die Volksbühne holen könnte. Als ich dann da war, war ich in der Presse plötzlich der »Kronprinz«. An der Volksbühne nie! Ich wurde da nicht gehätschelt. Die Liebesbeziehung zwischen uns hat sich erst viel später ergeben, als ich es geschafft hatte, mich von der Volksbühne zu entfernen. Da liegen natürlich Wurzeln. Anfang der neunziger Jahre hat die Volksbühne ein bestimmtes Gefühl im Prenzlauer Berg getroffen und es von null auf hundert geschafft, dieses Theater zu füllen und auch dieses Bedürfnis zu befriedigen, an einen Ort zu kommen, der mit dir kommuniziert, der nicht nur Theater anbietet. Man ist damals einfach hingegangen, weil man sich mit der Sache an sich identifiziert hat.

kreuzer online: Inwieweit ist dieses »Prinzip Volksbühne« auf eine Stadt wie Leipzig übertragbar?

HARTMANN: Ich höre das oft: »Natürlich kann sich die große Stadt Berlin ein solches Theater leisten, weil die anderen Theater sind ja so ...« – Ich glaub das nicht. Wenn ein Theater eine bestimmte Klientel anspricht und der Bedarf da ist, dann soll man das machen. Diese scheinbare, verwässerte Breite führt doch nur zu einer großen Unschärfe und Konturlosigkeit. Die meisten Stadttheater leiden genau darunter.

kreuzer online: Leipzig ist nicht wirklich erfahren in Bezug auf provokantes Theater à la Volksbühne. Trauen Sie dem Publikum denn die dafür nötige Offenheit zu?

HARTMANN: Ja, aber das war ja damals in Berlin auch so. Am Anfang sind viele erst mal wegen dem Spektakel hingegangen. Die Volksbühne hat sich ihre Zuschauer auch erzogen. Es war ja nicht so, dass es da ein Heer von Intellektuellen gab, die genau diese Theatersprache von Anfang an verstanden, sondern es war ein Pingpong. Leipzig hat 500.000 Einwohner, inklusive Umland sind es anderthalb Millionen. Ich bitte Sie, da muss es doch Leute geben, die so viel Grips in der Birne haben, dass sie es sich leisten können, sich gegenseitig zu befruchten. Darüber mache ich mir auch überhaupt keine Sorgen. Ich suche nach dem sinnlichen Aspekt, nach dem Erlebnis Theater. Danach habe ich die Regisseure und die Schauspieler, die hier arbeiten werden, ausgesucht. Ich hoffe, dass sich mein Instinkt bestätigen wird.

kreuzer online: Künstlerische Weggefährten attestieren Ihnen eine »neue Form eines Theaters der Empfindsamkeit«. Welche Rolle spielen Empfindungen auf dem Theater für den Regisseur Sebastian Hartmann?

HARTMANN: Ich würde es eher mit »Erlebnis« umschreiben. Ich versuche, mit meinem Theater Erlebnisse zu schaffen – leise oder laute, poetische oder unpoetische. Das bringe ich in unterschiedliche Rhythmen, um eine andere Rezeption zu ermöglichen. Das Theater leidet ja nach wie vor unter diesem Ich-muss-das-verstehen-Druck. Bei Kunst oder Musik ist das anders. Der normale Mensch hört eine Musik, ob nun Klassik oder Pop, und er entscheidet sich sofort: Das gefällt mir, oder es gefällt mir nicht. Es erinnert ihn an seinen letzten Geschlechtsverkehr oder an den Tod seiner Mutter, an seine erste Liebe oder an einen Wintertag. Das geht ruck-zuck. Aber derselbe Mensch versagt im Theater: Er sitzt drin und sagt: Wieso erklärt ihr mir da oben nicht, was ich zu sehen habe? Deswegen schaffe ich Bilder, deswegen arbeite ich mit Musik. Ich versuche, mit Romantik und Empfindung zu arbeiten, die Theater erlebbar machen und nicht nur rezipierbar.

kreuzer online: Im Programmheft zu Ihrer Wiener Inszenierung von »Romeo und Julia« beschreiben Sie das Bilder-Erfinden im Probenprozess als »lustvollen Vorgang«, Sie fühlen sich dann »oft selbst als Zuschauer«. Ist Theatermachen für Sie vor allem eine Lust, eine sinnliche Erfahrung, aus der sich erst der Gedanke, die Idee einer Inszenierung ableitet?

HARTMANN: Die Herangehensweise ist sehr Stoff-immanent. Meine Methode würde ich so bezeichnen: Ich mache mich zwar nicht zum Knecht eines Stoffes, aber trotzdem verlangt jeder Stoff eine eigene Geschichte. Das ist nicht immer die gleiche, deswegen ist jeder Zugang ein ganz anderer. Es gibt Stoffe, die bereite ich äußerst präzise vor, im Sinne von schon erarbeiteten Bildern oder einem Storyboard. Andere bereite ich gar nicht vor.

kreuzer online: Die Kritik reagiert oft ablehnend, manchmal hämisch auf Ihre Arbeiten, »Romeo und Julia« beispielsweise hat einen wahren Exzess von Verrissen und eine aberwitzige Forumsdiskussion auf nachtkritik.de ausgelöst. Wie gehen Sie damit um?

HARTMANN: Nach der Premiere von »Romeo und Julia« wölbte sich der Vorhang nach innen, als die Buh-Welle einsetzte. Der Hauptdarsteller hat danach einen Nervenzusammenbruch bekommen – kein Wunder, wenn 1.200 Leute so eine Energie erzeugen! Ich habe danach die Kritiken gelesen – und ich muss ehrlich sagen: Das ist wirklich nicht leicht. Ich bin eben derjenige, auf den man draufhauen kann, der Castorf-Schüler. Im Ausland werde ich ganz anders angenommen. In Norwegen werde ich mit Preisen überhäuft.

kreuzer online: Es gibt Menschen, die würden Ihnen am liebsten einen roten Teppich ausrollen, es gibt aber auch diffuse Ängste, Sie könnten Stadt und Publikum mit einer Radikalkur ohne Rücksicht auf Verluste überfordern. Wie nehmen Sie selbst diese zwiespältige Erwartungshaltung wahr?

HARTMANN: Ich bin das gewohnt. Überall eilt mir eine gewisse Presse voraus, die da heißt Skandal, Radikalisierung, Berserker und Stückezertrümmerer. Ich weiß aber, dass ich eine komplett andere Persönlichkeit besitze als die, die mir da angedichtet wird. Insofern habe ich Geduld und werde mich und mein Tun wahrnehmen lassen. Dann wirds interessant für mich. Alles andere ist Spekulation.

kreuzer online: Aber letztlich gibt es schon die Erwartung an den neuen Intendanten, das Haus wieder vollzukriegen.

HARTMANN: Das ist ja normal. Aber diese Erwartung müssen wir uns teilen. Ich allein kann sie nicht erfüllen, auch der Zuschauer muss sie erfüllen. Das heißt, er muss erstmal kommen.

kreuzer online: Wie wollen Sie als Theatermacher in die Stadt hineinwirken?

HARTMANN: Indem ich mich um das Publikum kümmere. Wir müssen vermitteln, dass wir das, was wir tun, hier machen und nicht anderswo. Dafür muss ich kein großes Leipzig-Schild auf die Bühne stellen und sagen: So, wir sind jetzt hier! Man muss hier leben, man muss den Dialekt verstehen lernen und in den Humor reinkommen, man muss hier einen sozialen Kreis aufbauen. Darüber entstehen Diskussionen auf der Probe. Und dann ist es natürlich eine konzeptionelle Frage: Welche Stoffe können hier aus der Stadt kommen? Da ist die »Matthäuspassion« alles andere als unsinnig. Vielleicht machen wir auch ein kleines Autostück, wo zwei Schauspieler und drei Zuschauer hinten auf der Rückbank durch Leipzig fahren und dabei etwas erleben.

kreuzer online: Und Sie benennen das Schauspielhaus in Centraltheater um.

HARTMANN: Wir erklären es so zu einer Zentrale, auch einer Gedankenfabrik, wo kommuniziert wird. Wo man nicht nur konsumieren, sondern sich gegenseitig Formulierungen abtrotzen kann. Die können mit Leipzig, mit Alltag zu tun haben. Oder mit Weltpolitik.

kreuzer online: Die Skala – bisher die Neue Szene – soll ein Ort werden, an dem es keine Premieren, kein Repertoire im eigentlichen Sinne mehr gibt. Wie soll das funktionieren?

HARTMANN: In der Skala gibt es keine datierten Premieren. Jeder, der selbst schon mal Theater gemacht hat, weiß, dass manchmal Sachen völlig unterschiedliche Zeitfenster brauchen. Manchmal ist es viel besser, etwas Ungeprobtes, Halbgares oder Halbnacktes vorzustellen, das eine ganz eigenwillige Kraft hat, als zu sagen: Okay, noch mal sechs Wochen, wir haben ja Zeit. Und in dieser Zeit wird dann nur noch glattgebügelt. Bei anderen Sachen brauchst du tatsächlich viel mehr Zeit. Wieder andere gelingen dir einfach nicht, und dann stellst du eben den Fehler vor. Wir machen das zum Vorgang und sagen: Ihr könnt auch an Proben teilnehmen, an der Szene beißen wir uns die Zähne aus! Die Skala ist das Projekt, um gegen diese Starre anzugehen: »Bis zum 24.5. geben Sie bitte Ihre Steuererklärung ab!«

kreuzer online: Wie wollen Sie das kommunizieren? Was steht dann zum Beispiel im Veranstaltungskalender abends um 19 Uhr? »Offene Probe«?

HARTMANN: Das werden wir Ihnen nicht sagen können. Sie können schreiben: Centraltheater, 19 Uhr, Matthäuspassion. Und Sie können schreiben: Skala, sehen Sie heute ab 13 Uhr auf die Skala-Website!

kreuzer online: Sie setzen auf das Internet ...

HARTMANN: ... nein, wir setzen auf eine Form, in der sich der Zuschauer das Haus mit uns erarbeitet. Er soll nichts hinterhergeschmissen kriegen. Es soll eine gemeinsame Souveränität einkehren. Bestenfalls schafft auch das eine andere Art von Identifikation. Es ist ein anderer Vorgang, sich wirklich dafür zu interessieren. Oder eben nicht.

kreuzer online: Sie fordern Aktivität vom Zuschauer ein.

HARTMANN: Wie ich schon sagte: Wir teilen uns die Erwartung. Natürlich sehen wir uns in einer gewissen Bringpflicht. Die erfüllen wir auch: Wir bringen Steine ins Rollen, und der Leipziger wird sich entscheiden müssen, ob er ein hoch subventioniertes Stadttheater dieser Größe in seiner Stadt halten möchte.

kreuzer online: Im Moment definiert sich Leipzig ja eher als Musik- und Kunststadt. Wollen Sie das Theater wieder ins kulturelle Bewusstsein der Stadt zurückholen? Ist das überhaupt ein Ziel?

HARTMANN: Leipzig wird immer eine Musikstadt bleiben. Ich begreife Theater längst nicht mehr als zentrales Massenmedium, sondern als eine Independent-Plattform, auf der sich Leute treffen.

kreuzer online: Dafür, dass es kein Massenmedium mehr sein soll, ist das Haus aber ganz schön groß ...

HARTMANN: Es geht ja nicht darum, jeden Abend ausverkauft zu sein. Das ist illusorisch. Aber wenn wir es schaffen, in über der Hälfte der Produktionen eine kontinuierlich hohe Parkettauslastung zu erreichen, dann wären das Quantensprünge.

kreuzer online: Geben Sie mal eine Prognose ab: Wie lange dauert das Experiment Hartmann in Leipzig?

HARTMANN: Momentan habe ich für fünf Jahre unterschrieben. Mir hat schon die Hand gezittert beim Unterschreiben eines solchen Vertrages – ich bin ja seit 15 Jahren freischaffend. Ich hätte mir auch vorstellen können, einen viel kürzeren Vertrag zu unterschreiben, aber das wäre sozial unseriös gegenüber den Leuten, die mit mir hierherziehen und anderswo Wohnungen aufgeben. Da kann man nicht sagen, man hört nach einem Jahr wieder auf. Ich denke auch, man muss manchmal zäh sein. Die Leute, die ich engagiert habe, wissen, dass es ein ziemlich harter Weg werden kann.


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