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Kultur

»Die Figuren sind das Wichtigste«

Der Leipziger Autor und Anna-Seghers-Preisträger Johannes Herwig im Interview

  »Die Figuren sind das Wichtigste« | Der Leipziger Autor und Anna-Seghers-Preisträger Johannes Herwig im Interview  Foto: Johannes Herwig/Foto: Opere in Chiaroscuro

 

Johannes Herwig ist in Connewitz geboren und aufgewachsen – und lebt auch heute dort. Aktuell halten ihn aber nicht bengalische Feuer und Demos vom Schreiben ab, sondern Baulärm – gleich drei Baustellen gibt es rund um sein Haus: Da sitzt man schon mal mit Lärmschutz-Kopfhörern am Schreibtisch. Nach »Bis die Sterne zittern« (ab 2026 Schullektüre in Sachsen) und »Scherbenhelden« ist 2023 sein dritter Roman »Halber Löwe« erschienen. Als erster Autor von Kinder- und Jugendliteratur wurde er nun mit dem Anna-Seghers-Preis ausgezeichnet, der mit 12.500 Euro dotiert ist.

Wie haben Sie reagiert, als Sie erfahren haben, dass Sie Preisträger sind?

Vor elf Jahren, als ich mein Debüt schrieb, hatte ich natürlich die Hoffnung, dass das Öffentlichkeit bekommt und von Leuten gelesen wird. Aber dass ich einen extrem renommierten Preis bekomme, der für meine »Sparte« gar nicht gedacht ist: Das ist wirklich Wahnsinn, so was hätte ich nie im Leben gedacht. Deshalb habe ich ein paar Tage gebraucht, um das zu realisieren. Ich habe die E-Mail erst für einen Scherz gehalten und sie mehrmals lesen müssen, um das ansatzweise zu verstehen.

 

In der Jurybegründung wird Ihre »authentische Sprachwahl« hervorgehoben. Wie fühlen Sie sich in Ihre Figuren hinein, sowohl sprachlich als auch emotional?

Ich finde, die Figuren sind das Wichtigste. Die Geschichte – das, was passiert – entwickelt sich für mich immer aus den Figuren heraus: Was haben sie für einen Hintergrund, wie verhalten sie sich anderen gegenüber? Was haben sie für Ziele, wenn überhaupt? Viele junge Menschen haben ja sehr diffuse Ziele, das kenne ich auch von mir selbst. Ich denke mich einfach in meine eigene Jugend zurück, wenn ich an diese Figuren denke, und versuche, ihre Perspektive aus meinen Erinnerungen einzunehmen. Wie fand ich das denn, dass mir die Erwachsenen immer vermitteln wollten, dass sie es besser wissen? Ich war ja voll in der Anti-Haltung und konnte gleichzeitig nicht wirklich sagen: Was will ich denn?

 

Seit 2022 leiten Sie eine Schreibwerkstatt im Theatrium. Wie empfinden Sie diese Aufgabe und was ist dabei Ihr Anspruch?

Ich finde es toll! Wer dort hinkommt, hat natürlich oft schon ein Grundinteresse am Schreiben, ich fange also meist nicht bei null an. Über die Monate zeigen sich dort immer große Verbesserungen und zum Teil erarbeiten wir uns auch selbst neue Kniffe und Techniken. Ich lerne definitiv auch von den Teilnehmenden, es ist ein Austausch. Also, ich erzähle nicht die ganze Zeit und sitze dann mit verschränkten Armen da, während die Gruppe schreibt. Im Gegenteil: Ich mache alle Übungen mit und anschließend lesen wir uns die Ergebnisse vor und sprechen darüber.

 

Alle Ihre Romane spielen in Leipzig, einer zur Zeit des Nationalsozialismus, zwei in der Nachwendezeit. Ist das gegenwärtige Leipzig auch eine Inspirationsquelle für Sie?

Klar, ich lebe hier und habe die Veränderungen der letzten Jahrzehnte miterlebt. Und ich werde oft gefragt, ob ich nicht mal einen Roman in der Jetztzeit schreiben möchte. Aber ich habe damit ein wenig Berührungsängste, weil ich mich in die heutigen Jugendlichen nur zum Teil hineinfühlen kann. Natürlich bleiben die Themen letztlich immer gleich: Identitätssuche, Coming-of-Age, Abnabelung … Aber allein die Art und Weise, wie heute kommuniziert wird: Da müsste ich erst mal recherchieren, damit es nicht cringe wird. Ich kann aber verraten, dass ich gerade an etwas arbeite, das zeitlich eher im Jetzt spielt, allerdings nicht in Leipzig verortet ist und sich an jüngere Kinder richtet. Ich habe auch immer wieder die Idee im Kopf, einen Roman für Erwachsene zu schreiben, in dem es wahrscheinlich um Großstadtmenschen gehen würde. Vielleicht nicht ganz so deprimierend wie bei Anke Stelling, aber so in die Richtung. Da hätte ich als Familienvater auch einiges zu erzählen.

 

Ihr Protagonist Sascha erlebt in »Halber Löwe« unter anderem die Potenziale und Fallstricke von Freundschaften. Würden Sie sagen, dass Freundschaften für Jugendliche wichtiger sind als für Erwachsene oder dass sich da der Stellenwert im Laufe des Lebens verändert?

Das ist eine richtig schöne Frage, die habe ich ja noch nie gehört. (lacht) Ich glaube, für Jugendliche sind Freundschaften wichtiger, in dem Sinne, dass sie eine größere Rolle spielen. Wenn du immer nur alleine bist und nicht gespiegelt wirst, du keine Konflikte mit anderen austrägst – klar wächst du dann auch zu einer Persönlichkeit heran, nur ist es dann schwieriger, später zurechtzukommen. Es fehlt die Reibung, der Austausch oder die Liebe – was auch immer sich aus Freundschaften so entwickelt. Ich denke, dass viele Erwachsene der Meinung sind, dass Freundschaft für sie nicht mehr so wichtig ist wie früher, sich dabei aber oft selbst etwas vormachen. Aber wenn du erst einmal erwachsen bist, ist es einfacher, allein zu sein, als wenn du jugendlich bist. Als Jugendlicher allein zu sein – das ist einfach richtig scheiße.

 

> Johannes Herwig: Halber Löwe. Hildesheim: Gerstenberg 2023. 240 S., 18 €


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