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Kultur

Musisches Experiment

Der Leipziger Chorverband ruft einen »Arbeitslosenchor« ins Leben

  Musisches Experiment | Der Leipziger Chorverband ruft einen »Arbeitslosenchor« ins Leben

Im so genannten »Arbeitslosenchor« des Leipziger Chorverbandes kann jeder mitsingen, der Zeit und Lust hat. Der kreuzer sprach mit Sarie Teichfischer, der Managerin und Dr. Michael Reuter, dem musikalischen Leiter des zukünftigen Ensembles.

Im so genannten »Arbeitslosenchor« des Leipziger Chorverbandes kann jeder mitsingen, der Zeit und Lust hat. Der kreuzer sprach mit Sarie Teichfischer, der Managerin und Dr. Michael Reuter, dem musikalischen Leiter des zukünftigen Ensembles.

kreuzer: Sie wollen einen Arbeitslosenchor in Leipzig gründen. Dürfen da nur Arbeitslose mitsingen?

SARIE TEICHFISCHER: Eigentlich wollen wir gezielt Arbeitslose ansprechen. Aber es geht hauptsächlich darum, Integration zu fördern. Deswegen wollen wir niemanden ausschließen. Wenn eine junge Mutter kommt und vormittags Zeit hat, kann sie auch mitmachen. Im Konzept wurde das Projekt ursprünglich zwar als Arbeitslosenchor bezeichnet, aber der endgültige Name soll dann mit den Teilnehmern zusammen gefunden werden. Das Ziel der Aktion ist ja, dass man Arbeitslose zurück in die Gemeinschaft holt. Dass die Leute für sich selbst sehen, dass sie eine Leistung bringen und damit auch in die Öffentlichkeit gehen können.

kreuzer: Wie lange läuft das Projekt?

TEICHFISCHER: Leider ist das Projekt zeitlich begrenzt. Es wird offiziell bis Ende des Jahres von der Aktion Mensch finanziert. Wir hoffen aber, dass es danach weiter geht. Das große Ziel der ganzen Aktion ist das Gewandhaussingen am 12. Dezember.

kreuzer: Wie wollen Sie die Menschen erreichen?

Managerin des Chores in spe: Sarie Teichfischer
TEICHFISCHER: Wir versuchen natürlich, viel Pressearbeit zu machen und gezielt zu werben. Es wird Aushänge geben, Plakate und Flyer. Darüber hinaus arbeiten wir direkt mit der ARGE zusammen. Dort wird man in Vermittlungsgesprächen auf unser Projekt hinweisen. Die Chor-Mitgliedschaft kann man sich auch als Ehrenamt anrechnen lassen. Es wird eine Website geben, die gerade im Aufbau ist. Wir werden in Einrichtungen wie Erwerbslosencafés, die »Tafel« oder die Volkssolidarität gehen. Dann gibt es noch das Mütterzentrum, die Uni-Mensa oder soziokulturelle Zentren wie die »Villa«. Es existiert auch eine große Randgruppe, die nur eine halbe ABM-Stelle oder einen 100-Euro-Job hat. Diese Leute sind ja nicht wirklich arbeitslos, aber am Ende haben sie trotzdem Zeit. Wir denken auch, dass diejenigen, die dann kommen, als Multiplikatoren fungieren. Mundpropaganda wirkt nach meiner Erfahrung bei solchen Sachen am besten.

kreuzer: Gibt es eine Mindestzahl an Leuten, die teilnehmen müssen?

MICHAEL REUTER: Es muss schon eine singfähige Truppe sein. Als Beispiel sollten etwa fünf Soprane, vier Alt-Stimmen, vier Tenöre und sechs Bässe vorhanden sein – auf jeden Fall mindestens drei in jeder Stimmgruppe. Wenn zwei zusammen singen, klingt das immer unsauber.

kreuzer online: Wie haben Sie sich die erste Probe vorgestellt? Die meisten sind ja am Anfang eher zurückhaltend.

REUTER: Ich will versuchen, die Leute aus der Reserve zu locken und die stimmlichen Fertigkeiten möglichst optimal einzuschätzen. Dazu gehört, dass man die Leute von inneren Zwängen befreit. Singen kann jeder! Singen ist Ausdruck einer inneren Befindlichkeit und wer verklemmt und traurig ist, kann vielleicht aus Wut singen, aber das ist nicht unser Gegenstand. Singen kann auch mit Emotionen wie Trauer und Wut zu tun haben. Wenn ich Männer sagen höre, dass sie nicht singen können und dann höre ich, was auf dem Fußballplatz los ist, sag ich mir, es geht doch! Es muss natürlich auch eine gewisse Lockerheit und Weichheit dabei sein. Das muss man üben. Das übe ich mit allen. Und da muss sich keiner vor dem anderen schämen, weil es alle machen.

kreuzer: Sie sind Chorleiter mit jahrzehntelanger Erfahrung und waren Dozent an mehreren Hochschulen. Werden sich da nicht einige Leute abgeschreckt fühlen, weil Sie doch einen gewissen Anspruch haben?

REUTER: Das ist das, worüber wir immer wieder diskutieren. Ich würde mich natürlich sehr freuen, wenn ich dort Sänger habe, bei denen Singen ein Bestandteil ihres täglichen Lebens ist. Die beim Kartoffelschälen singen und beim Aufräumen und beim Kinderwagenputzen. Zum anderen würde ich mich freuen, wenn wir dort Mitsänger bekommen, die noch rudimentäre Kenntnisse der Notenschrift mit sich herumtragen. Das ist aber kein Muss! Wichtig ist für mich erst einmal das unverkrampfte Umgehen mit der eigenen Stimme. Da ich aber sehr viel offenes Singen übe, habe ich überhaupt keine Bedenken, bei diesem ersten Treffen eine Atmosphäre aufzubauen, bei der die potenziellen Sänger Lust haben, wiederzukommen und eventuell noch jemanden mitzubringen.

kreuzer: Was ist, wenn zu wenig Leute kommen?

REUTER: Die Gefahr besteht. Aber ich hoffe, dass es nicht so sein wird.

kreuzer: Gibt es beim Gewandhaussingen ein bestimmtes Programm, an dem Sie sich orientieren müssen?

REUTER: Das läuft so: Der Leipziger Chorverband veranstaltet zum 15. Mal ein Konzert im Großen Saal des Gewandhauses, einschließlich sämtlicher Foyers. Das Gewandhaus hat drei Foyers und dort singen dann in den unterschiedlichen Etagen insgesamt 12 Chöre. Nach einer kurzen Pause gibt es auf dem Konzertpodest im Großen Saal ein Konzert von vier ausgewählten Chören, die nacheinander auftreten. Dort integriert ist dann ein gemeinsames Singen mit allen, die im Publikum sitzen. Dann singen am Ende ungefähr 1.800 bis 2.000 Leute. Unsere Chorgruppe ist einer dieser 12 Foyerchöre und beim Abschlusssingen im Großen Saal dabei.

kreuzer: Aber für das Programm im Foyer gibt es keine Vorgaben?

REUTER: Das entscheidet jeder Chor für sich. Da gibt es z. B. einen Jugendchor namens »Crazy Generation«, die singen ihre Weihnachtsgospel. Andere haben schon spanische Weihnachtslieder gesungen. Das geht quer durch den Gemüsegarten. Manche machen auch ganz konventionelles Singen. An jeder Ecke klingt es anders. Das macht den Reiz der ganzen Geschichte aus. Die Veranstaltung gewinnt auch von Jahr zu Jahr an Attraktivität. Mittlerweile haben wir sogar Chöre, die aus Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt kommen, und natürlich aus ganz Sachsen.

TEICHFISCHER: Es bewerben sich immer sehr viele Chöre und es ist eine Ehre, zum Gewandhaussingen eingeladen zu werden. Das ist schon etwas Besonderes.

kreuzer: Wie schätzen Sie die Chance ein, dass der Chor nach dem Gewandhaussingen eigenständig weiter besteht?

REUTER: Dazu muss ich anmerken: Dieses Projekt hat den Vorteil, dass die Teilnehmer innerhalb des Projekts alle Kosten ersetzt bekommen. Es gibt keinen Mitgliedsbeitrag, Notenmaterial und Fahrtkosten werden übernommen, versichert ist man auch. Die Organisatorin und der Chorleiter müssen nicht bezahlt werden, das ist alles abgesichert. Wenn man in die nähere Zukunft schaut, könnte es ohne Förderung eng werden. Das Ende ist ziemlich offen.

TEICHFISCHER: Eine Möglichkeit wäre, dass sich die Sänger innerhalb Leipzigs auf andere Chöre aufteilen. Es gibt da ja auch alle Niveaustufen. Wir werden die Teilnehmer natürlich dabei unterstützen.

kreuzer: Und die Zeit und der Ort für die erste Probe stehen fest?

TEICHFISCHER: Die erste Probe findet am 25. August um 10 Uhr im Heinrich-Budde-Haus in der Lützowstraße 19 statt. Es wäre schön, wenn sich Interessenten schon vorher melden würden. Die weiteren Probezeiten sind jeweils Dienstag und Donnerstag Vormittag. Genaue Zeit und Ort werden noch bekannt gegeben.

REUTER: Lassen Sie mich noch eines hinzufügen: Singen kann man auch lernen. Nur vom Charakter passt nicht jeder in eine Chorgemeinschaft. Man muss miteinander auskommen und sich integrieren können. Ich bin sehr gespannt auf dieses Musik-Experiment.


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