Post aus Ägypten. Carlo Bergmann ist gerade Zeuge der Unruhen in dem Land, in das er seit 30 Jahren regelmäßig reist. Hier schreibt er, was er sieht, erlebt und denkt. Ein persönlicher Blick auf die Ereignisse, die wir sonst nur in den Nachrichten sehen.
Ich sitze am Midan Tahir in einem Internetcafé. Es ist Freitag, 7. Dezember, 14 Uhr. Draußen ziehen Demonstranten vorbei. Der große Platz ist musikbeschallt, aber nicht sehr bevölkert. Die Mehrheit der Protestierenden soll sich nach Heliopolis begeben haben. Gestern plötzlich Geballer auf dem Platz, das an MP-Feuer erinnerte. Zum Glück nur eine Art Feuerwerk. Vor zwei Nächten gab es in Heliopolis unter den Demonstranten fünf Tote und etwa 200 Verletzte. Angesichts dieses Blutzolls und der enttäuschenden Rede von Präsident Mursi ist es ausgesprochen friedlich.
Etwa 2.000 Leute besetzen den Platz, der das Zentrum der Protestbewegung ist. Ich bestaune die überwiegend jungen Menschen, die sich mit ihrer Energie für die Demokratie krumm legen und jetzt friedlich gegen die Muslimbrüder Front machen. Die Zugänge zum Platz sind schlecht gesichert. Jederzeit könnten organisierte Schlägertrupps einfallen und dem Treiben gewaltsam ein Ende bereiten.
Rückblende: Donnerstagmittag komme ich auf dem Weg zum an der Kasr el Aini gelegenen Uni-Buchladen am ausgebrannten französischen Lyzeum vorbei (Sharia Muhamed Machmud). Man sagt mir, der Bau sei vor etwa zehn Tagen in Brand gesteckt worden, weil von seinem Dach aus Polizisten auf Demonstranten geschossen hätten. Dort befinden sich viele Wandmalereien, die die Toten der Revolution ehren. Ich bin so beeindruckt, dass meine Augen feucht werden. Die Kairoer Klagemauer ist die Umfassungsmauer der Amerikanischen Uni – vom abgebrannten französischen Lyzeum bis zum Midan Tahir.
Demonstranten und ein in meinem Hotel residierender französischer Journalist, der sich nicht outen möchte, aber gestern Nacht in Heliopolis auf der Demo vor dem Präsidentenpalast war, erzählen von der absolut friedlichen Zusammenkunft der demokratischen Kräfte und davon, dass die Ordner die Heißsporne zurückhielten, die den Palast stürmen wollten. Trotzdem kamen bewaffnete Schläger der Muslimbrüder und richteten ein Blutbad an. Der Franzose hat die Schüsse gehört, aber selbst keine Toten gesehen.
Eine junge Hotelangestellte zeigt mir Bilder von Toten und Verwundeten, die von den Demo-Organisatoren ins Internet gestellt wurden. Die Frau ist den Tränen nahe. Es sei neuerdings so, dass die Muslimbrüder nicht nur Andersgläubige, sondern auch »normale« Muslime als »Kufar« (Ungläubige – ein Schimpfwort) verunglimpfen.
Die AUC (American University in Cairo) ist geschlossen, ebenso der AUC Bookshop. Auf der Kasr el Aini im Anschluss an das Unigelände steht die hohe, aus großen Betonklötzen errichtete Mauer, die das Parlamentsgebäude verbarrikadiert. Fäkalgeruch. Am vorigen Tag gab es seitens der Demonstranten an den Zugängen des Platzes Personenkontrollen, um das Einbringen von Waffen zu unterbinden. Kein Autoverkehr auf dem Riesenplatz, der zum Nil hin mit einer dürftig bewachten Sandsackbarrikade und Metallgittern abgesperrt ist. Ebenso unbrauchbar für eine »andauernde Verteidigung« ist der am Eingang der Sharia Muhamed Machmud errichtete Stacheldrahtverhau. Dies zeigt aber meiner Meinung nach, dass es den Demonstranten um einen symbolischen Widerstandsakt geht und dass sich die fragile Staatsgewalt derzeit noch darauf einlässt, obwohl Mursi zum Bedauern der Demonstranten nicht mit dem Volk diskutiert, sondern sich in seinem Palast in Heliopolis »unsichtbar« macht.
Ich fahre nach Zamalek, einen Inselstadtteil für die Begütereten. Hier füllen Wohlstandsgesichter Cafés und Restaurants. In der Zamalek-Dependance der AUC wird die Befürchtung geäußert, die Morde der letzten Nacht seien möglicherweise »die Ruhe vor dem Sturm«. Wenn dem so wäre, müsste in den nächsten 14 Tagen der Bürgerkrieg losbrechen. Aus meiner Froschperspektive lässt sich diese Mutmaßung nicht überprüfen, geschweige denn verifizieren. Aber die Besorgnis ist da. Jedenfalls ist die Stadt mit ihren 20 Millionen Einwohnern zu groß, als dass ich mir einen Überblick über Gerüchte, Aktionen und Pläne verschaffen könnte.
Mein Hotel ist nur zu 15 Prozent belegt. Ausländer haben seit Beginn der neuen Unruhen in großer Zahl storniert. Ein Teil der Hotelmannschaft möchte, wenn es noch mal zu einer Wahl kommt, Shafiq wählen, den ehemaligen Premier unter Mubarak – in der Hoffnung auf eine Eindämmung des Einflusses der Muslimbrüder. Wenn das mal gut geht.
Vom einfachen, aufgeklärten Mann wird vermutet, dass die Muslimbrüder von Katar finanziell unterstützt werden und dass sich hinter dem Emirat letztlich die Amerikaner verbergen. Eine Spekulation von vielen, die sich mir nicht ganz erschließt, auch wenn sie im Sinne einer Förderung der »Stabilität« im Nahen Osten unter den gegebenen Umständen »logisch« erscheinen könnte.
Jetzt, um 14.30 Uhr, sind etwa 4.000 bis 5.000 Leute auf dem Platz. Die Hauptaktivitäten spielen sich in Heliopolis am Präsidentenpalast ab. Hier am Tahir herrscht eine Art Volksfeststimmung. Alles vollkommen gewaltfrei! Hin und wieder kurze Ansprachen mit politischem Inhalt. Es geht um Freiheit und Selbstbestimmung. Aber eigentlich ist verdammt wenig los. Hat doch der Präsident in seiner Rede gestern Nacht jegliches Eingehen auf die Opposition abgelehnt. Obwohl er alle Parteiführer zu einem Gespräch eingeladen hat, wird befürchtet, dass Mursi und die Muslimbrüder den Durchmarsch planen und einen islamistischen Staat im Hauruck-Verfahren etablieren wollen.
19 Uhr. Ich sitze wieder im Internetcafé. Der Mann zu meiner Rechten outet sich als Muslimbruder. Zunächst laut kritisierend, dann friedlicher und schließlich auf Deutsch redend. Er hätte lange bei uns gelebt. Er trägt einen gepflegten Vollbart, ist außerordentlich gut gekleidet und mittleren Alters. Ich habe nicht bemerkt, dass ich unter seiner Beobachtung stand.
Jetzt seien sie, die Muslimbrüder, an der Reihe, sagt er. Sie würden Ägypten gemäß ihrer Ideologie umkrempeln. »Ideologie« sei für ihn ein positiv besetzter Begriff. Er umfasse alle Lebensbereiche, einschließlich der Religion. Dabei sei für die Muslimbrüder »Religion« kein verhandelbares soziales Konstrukt, sondern eine von Allah über den Propheten Muhamed verkündete Weisung, die jetzt umgesetzt werden müsse. Dazu hätten sie vom Volk das Mandat. Im ersten Wahlgang zur Präsidentschaft hätten sie und ihre Verbündeten über zwei Drittel der Stimmen errungen, in der Stichwahl 51 Prozent und in der Verfassung gebenden Versammlung stellten sie etwa 80 Prozent. Wann, wenn nicht jetzt, wäre also die Gelegenheit, auf demokratische Weise eine religiös fundierte Gesellschaftsordnung zu etablieren?
Die Protestler draußen auf dem Midan Tahir seien Idioten, die unreflektierten westlichen Konzepten und Idealen hinterherhinken würden. Wir in Europa hätten die Freiheit, uns ihrer reinigenden Ideologie anzuschließen, die nicht aufzuhalten sei, denn die westliche Kultur sei gescheitert.
Die Volksseele poche auf Anstand und Zurückhaltung. Ein westliches Wertesystem, welches den ganzen aufgegeilten Dreck hervorbringe und kommerzialisiere und in den öffentlichen Raum stelle, schaffe keine Sympathien. Sie wollten auch keine Kultur, die aus lauter Tollheit alle Schranken niederreißt und alle Tabus bricht – nur nicht die (westliche) Erziehung zur Aggression, zum Hass und zum Töten. Da helfe nur eine Rückbesinnung auf Allah.
Ich sage, ich sei Atheist. Er nimmt es gelassen.
Es gäbe keinen Zweifel, dass der Verfassungsentwurf vom Volk bestätigt werde. Vollkommen demokratisch, auch wenn es dem Westen nicht passe. Unsere selbstherrlichen Bedenken: »Warum habt ihr die nicht bei Orbán in Ungarn zur Geltung gebracht, wo dort doch die Demokratie und die Herrschaft des Rechts mehr beschränkt worden seien, als es in Ägypten befürchtet würde? Warum stehen wir, die Muslimbrüder, unter besonderer Beobachtung, statt dass der Westen endlich Guantanamo schließt?«
Ich gestehe, ich hatte dem auf die Schnelle nichts entgegenzusetzen.
Wie bei den Profiteuren des DDR-Volksaufstandes kommen die Muslimbrüder aus der zweiten Reihe. Die jungen Revolutionäre haben sich verheizt, haben ihr Blut auf den Straßen gelassen. Jetzt, wie in Deutschlands Osten, verteilen die Etablierten unter sich die Posten. Ist das die Mechanik der Revolution? Jedenfalls werde es in Ägypten zur Etablierung eines Gegenmodells kommen, meint der Muslimbruder. Das könne der Westen nicht verhindern.
Ich glaube, dieses Streben nach Reinheit wird Elend bringen.
Anders als Libyen und Iran verfügt Ägypten nur über wenige Ressourcen. 90 Millionen Menschen müssen täglich versorgt werden. Das Land hat keine Reserven für verrückte Experimente. Geht der nächste Schuss daneben, kommt vielleicht der Hunger oder die Suche nach den Schuldigen. Aller Erfahrung nach kann der Volkszorn dann nur eine Minderheit treffen. Die Kopten?
Auf dem Platz ist inzwischen ein Volksfest im Gange – allerdings mit ernstem Hintergrund. Die Leute wollen die revolutionären Errungenschaften nach 5.000 Jahren Diktatur nicht an die Muslimbrüder preisgeben. Dieses Bewusstsein spiegelt sich auch dem Märtyrerfoto wider, auf dem man die berühmte Herrscherikonografie aus der Pharaonenzeit findet: »Der Pharao erschlägt seine Feinde.« Wie es zuletzt noch Hosni Mubarak getan hat.
Dagegen gehen die Leute an. Deshalb haben sie diesen Platz besetzt. Sie wollen ihn halten, bis der Verfassungsentwurf neu geschrieben ist beziehungsweise bis Mursi und seine Regierung zurückgetreten sind.
Vor dem Präsidentenpalast in Heliopolis geht es härter zu. Im Gegensatz zum Midan Tahir, wo sich kein einziger Muslimbruder zu erkennen gibt, stehen sich hier zwei Fronten gegenüber.
Die Stadt ist groß. Ich kann nicht überall sein. Und daher nur ein Stimmungsbild von diesem Platz liefern. Es ist der Ort, an dem die Revolution ihren Ausgang nahm – nachdem die Arbeiter in einer großen Textilfabrikstadt nördlich von Kairo mit einem massenhaften Ausstand vorgelegt und den Funken entzündet hatten (das wird allzu oft unterschlagen!).
Übrigens: Erstaunlich viele Frauen steigen auf die Rednerpodeste. Es gibt sie, die ägyptische Jeanne d'Arc! Gerade wieder ruft eine von ihnen über den Platz. Die Frauen haben viel zu verlieren, wenn es nicht gelingt, das Ruder herumzureißen. Hier jedenfalls hören ihnen die Männer zu!
CARLO BERGMANN