Schrullige Programmierer und freigeistige Heldinnen: Die Filmkunstmesse gewährt einen Blick auf die Arthouse-Neustarts des kommenden Kinoherbsts und -winters. Heute startet sie mit dem Cannes-Gewinner »La vie d’Adèle«.
Während im Mai in Paris über 150.000 Demonstranten gegen die rechtliche Gleichstellung von Schwulen und Lesben auf die Straße gingen, zeichnete bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes die Jury die queere Coming-of-Age-Geschichte »La vie d’Adèle« aus. Der in Frankreich aufgewachsene Regisseur Abdellatif Kechiche erzählt darin offen und freizügig von der Liebe zwischen der 15-jährigen Adèle und der Künstlerin Emma und sorgte schon während des Festivals mit einer intensiven Sexszene für Furore. Die Vergabe des Preises ist sicher nicht als politisches Statement zu verstehen. Dennoch erwischte man sich beim Gedanken daran, dass dieser Film zur richtigen Zeit in Cannes die Palme erhielt. Nicht nur konservative Franzosen tun sich schwer damit, zu akzeptieren, dass homosexuelle Paare den Bund der Ehe eingehen und Kinder sehr wohl mit gleichgeschlechtlichen Elternteilen aufwachsen können. Zwar blieben hierzulande Protestmärsche im Zuge des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Gleichstellung Homosexueller aus und erst im August wurde in Hessen in der evangelischen Kirche ein gleichgeschlechtliches Paar getraut. Dennoch bleibt die Frage, ob die ausgebliebenen Proteste tatsächlich einer breiten Akzeptanz geschuldet sind. Kechiches Drei-Stunden-Werk »La vie d’Adèle« eröffnet in den Passage Kinos das öffentliche Programm der diesjährigen Filmkunstmesse, die wieder Schlaglichter auf die Filmhäppchen des kommenden Kinoherbsts und -winters wirft.
»Es wurde schon viel diskutiert, was Arthousekino und was Arthousefilm ist, beides lässt sich nicht so einfach definieren«, sagt Felix Bruder, Geschäftsführer der AG Kino Gilde und Organisator der Filmkunstmesse. »Was man aber sagen kann: Sowohl Verleiher als auch Kinobetreiber fragen danach, welche gesellschaftliche oder thematische Relevanz ein Film hat.« Für »La vie d’Adèle« dürfte sich die Antwort längst gefunden haben.
Neben dem Kinder- und Jugendkino und der Digitalisierung ist das beherrschende Thema der Filmkunstmesse seit jeher das Selbstverständnis des Arthousemarktes. Auch wenn die Messe aufgrund ihrer Ausrichtung als Dialogplattform für Kinobetreiber und Verleiher nicht den Anspruch erhebt, inhaltliche Schwerpunkte in der Kinolandschaft zu setzen, liegt es einfach in der Natur der hier gezeigten Filme, Themen anzusprechen und auf Schieflagen hinzuweisen. Das heißt im Umkehrschluss natürlich nicht, dass nur schwere Filmkost über die Leinwand flimmert. Im Gegenteil: Anspruchsvolle Kinokultur funktioniert sehr gut mit Unterhaltungsfaktor. Der deutsche Jungfilmer Axel Ranisch versucht mit einer erneuten Coming-out-Geschichte an seinen letztjährigen Debüterfolg »Dicke Mädchen« über zwei Pfundskerle auf der Suche nach sich selbst auf unterhaltsame Weise anzuknüpfen. »Ich fühl’ mich Disco« erzählt von großen Wohnzimmerträumen unter der Discokugel und einer ungelenken wie putzigen Vater-Sohn-Beziehung. Ebenso ungelenk treibt es die beiden Protagonisten im neuen Film des US-amerikanischen Independentfilmers David G. Green, »Prince Avalanche«, durchs Filmsetting. Alvin und Lance erneuern in einer vergessenen Gegend im amerikanischen Hinterland die Straßenmarkierungen und arrangieren sich notgedrungen mit der Einöde.
»Die Leute gehen tatsächlich auch wieder mehr ins Kino, um sich ein Stück Realität zurückzuholen«, sagt die Programmdirektorin der Filmkunstmesse Hendrike Bake, die eine Stärkung des Dokumentarfilms im Arthousebereich festgestellt hat. Hier reiht sich ein Herzstück des diesjährigen Programms ein: Hilla Medalias Dokumentarfilm »Dancing In Jaffa« begleitet den fast 70-jährigen Tanzlehrer Pierre Dulaine, der in den arabisch geprägten Stadtteil Jaffa von Tel Aviv zurückkehrt und ein Schultanzprojekt initiiert, bei dem arabische und jüdische Kinder gemeinsam Tanzen lernen. Da sind natürlich Probleme vorprogrammiert. Die israelische Filmemacherin wagt einen äußerst originellen Blick auf den medial so präsenten Nahostkonflikt und befreit ihre Geschichte auf unterhaltsame Weise von gängigen Medienklischees.
Mit den abendlichen Screenings sollen erste Stimmungen und Meinungen eines öffentlichen Publikums fernab der Branche zu den Filmen eingefangen werden. Die fallen, je nachdem wie nah der Kinostart des jeweiligen Filmes hinter der Filmkunstmesse liegt, mal mehr und mal weniger hilfreich für die Verleiher aus. Spannend dürften die Reaktionen auf Andrew Bujalskis filmisch-surreales Experiment »Computer Chess« ausfallen. Bujalski treibt darin ein unterhaltsames Spiel mit gängigen Klischees über Computernerds und tut alles andere, als sie von ihrem ungelenken Image zu befreien, ohne sie aber jemals ins Lächerliche zu ziehen. In einem Provinzhotel in den frühen achtziger Jahren lässt er Technikenthusiasten und Verschwörungstheoretiker aufeinandertreffen und über künstliche Intelligenz und den bevorstehenden dritten Weltkrieg fachsimpeln. Im dokumentarischen Stil und mit körniger Schwarz-Weiß-Optik taucht Bujalski detailverliebt in die Welt der achtziger Jahre ab und lässt den Zuschauer schon bald glauben, das cineastische Zuckerstück sei tatsächlich gerade erst aus der Zeitensenke emporgehoben worden.