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Konzertkritik

Der Tanz, das Idiotenfest

Tocotronic feiern in ihrer Heimat Conne Island ein Konzert ohnegleichen

  Der Tanz, das Idiotenfest | Tocotronic feiern in ihrer Heimat Conne Island ein Konzert ohnegleichen

Es dauert genau einen Song. »Herrgott noch mal«, sagt Dirk von Lowtzow, um dann »Let there be rock« anzustimmen. Ich stehe in Bar-Nähe, was einen praktischen Vorteil hat (Bar-Nähe) und einen großen Nachteil: Ich sehe nichts. Ich stürme drei jungen Männern hinterher, die sich einen Weg durch die Masse pogen. Als wir vorne ankommen, ist mein Becher leer und mein Körper voller Bier. Let there be rock! Verflixt noch mal!

Tumultähnliche Zustände in den ersten Reihen des Conne Island. Vor einem halben Jahr stellten die Hamburger ihr aktuelles Album »Wie wir leben wollen« bei einem berauschenden Konzert im Haus Auensee vor, doch wie schon oft in ihrer nunmehr zwanzigjährigen Karriere kommen sie wieder hierher zurück: »Wenn wir den Begriff Heimat nicht abgrundtief verabscheuen würden, würden wir sagen, das Conne Island ist unsere Heimat«, sagt von Lowtzow zur Begrüßung. Und keine Frage, er meint das wirklich so. Die Liebe ist beiderseits. »Tocotronic Ultras – Pure Vernunft darf niemals siegen« steht auf einem eigens angefertigten Banner, das über der Technik hängt und die Musiker sichtlich rührt.

Alles wird zum Ausrasten genutzt. Kann man wirklich zu jedem Tocotronic-Song wie bescheuert rumspringen? Einige können. Die Band spielt ein Set zwischen alten Indiejugend-Smash-Hits wie »Drüben auf dem Hügel« und den neuen Liedern. »Abschaffen« widmen sie der in diesem Jahr verstorbenen Lassie Singers-Sängerin Almut Klotz. »Die Revolution wird am Ende den Tod abschaffen!« Hände hoch, mitschreien, alles abschaffen, absagen. Es gäbe noch so viele Revolutionen zu beginnen, noch so viel abzuschaffen. »So lange es so hässliche, rassistische Ereignisse wie in Schneeberg gibt, müssen wir diesen Song spielen«, erklärt von Lowtzow und alle brüllen »Aber hier leben, nein danke«. Der Tanz, das Idiotenfest. Menschen werden über die Köpfe hinweggehoben. Zwei sichtlich entspannte Security-Menschen reichen immer wieder Wasserflaschen in die Menge, die brav geteilt oder über den Köpfen aller vergossen werden. Als von Lowtzow erklärt, wie schön alle Menschen hier sind, brüllt einer etwas, was so klingt wie: »Wir hungern uns hier zu Tode.« Von Lowtzow kriegt einen Lachanfall, schlägt vor, Bier zu trinken. Von wegen ich will für dich nüchtern bleiben.

Jeder Musiker wird einzeln beklatscht, »Arne, Arne«-Rufe werden laut. Der Schlagzeuger legt den Zeigefinger auf die Lippen, von Lowtzow küsst tatsächlich die Hände, die sich ihm entgegenrecken. So nah ist die inzwischen von jeder Musikzeitschrift des Landes aufs Cover gehievte Band dem Publikum wohl nur noch selten. This Boy Is Tocotronic.

Nach knapp anderthalb Stunden die erste Verabschiedung, die obligatorischen Zugaben werden gefordert und gegeben. Doch als dann die Musik vom Band als sicheres Zeichen des Konzertendes erklingt, bleiben alle Freaks stehen, klatschen und gehen einfach nicht. Tocotronic kommen wieder. Denn da bleibt nur noch eins: Kapitulation.


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2 Kommentar(e)

t. 09.11.2013 | um 20:15 Uhr

Wunderschön!

Simone 10.11.2013 | um 16:57 Uhr

ich war dabei - besser kann man es nicht beschreiben. Bekomme beim Lesen noch mal Gänsehaut. Ein Abend der Extraklasse!