Diverse Katastrophensituationen sind schuld daran, dass der Nachbericht des WGT erst heute erscheint, mailt Autor und Zonic-Herausgeber Alexander Pehlemann. Dafür nimmt er uns jetzt mit auf seinen eigenen Leidensweg des letzten Wochenendes, der ihn durch Hitze, Widersprüche und ins absurde Dunkel der Zwischenmenschlichkeit führte. Und zu ein paar echten Highlights.
Die 23 gilt als Zahl der Illuminati, des Geheimbunds der radikalaufklärerischen Erleuchteten mit Tendenz zur Weltherrschaft. Das Wave Gotik Treffen dieser Wegnummer stand aber nicht nur wie stets eher für romantische Verklärung respektive Verdunklung – falls Ideologie überhaupt noch eine Rolle beim auf gegenseitige Betrachtung angelegten Meeting der multischwarz herausgeputzten Szene spielt –, sondern vor allem unter viel zu starker Beleuchtung. »Zuviel Sonne und ein paar schwarze Sonnen« böte sich als etwas arg verkürzende Headline an, was es aber sicher noch eher charakterisieren würde als all das »Schrill und sexy«, das in Wort und viel mehr noch Bild allüberall die Berichterstattung dominierte. Das über der zitierten Titelzeile der LVZ sich der geliebte DAX in grafischer Kurve auf ein neues Hoch erhob (wie lange haben wir alle auf die 10.000-Punkte-Marke gehofft!) und im Artikel zur schrill-sexy Sache vor allem die gehobene Geschäftsfähigkeit der schwarzen Kundschaft von lokalen Businessmännern gepriesen wurde, liefert Zusatzelemente galore für ausgebaute mögliche Mehr-Kommentare zum Stellenwert dieser Subkultur mit all ihren präsenten Subspektren. Aber einen solchen in kaum zu toppender Art hat bereits Christoph Gurk, damals noch Musikkurator am Centraltheater, zu einem der letzten Festivaljahrgänge verfasst und dem will und kann ich hier auch nicht mehr viel hinzufügen.
Stattdessen sei der eigene Leidensweg durch die flimmernde Hitze skizziert, der neben vielerlei eher mäßig Ansprechendem auch ein paar echte Highlights reihte. Dargelegt natürlich mit dem Verweis, dass ein Festival mit mehr als 200 Künstlern und extrem über die Stadt verteilten Spielstätten wohl kaum zu überblicken ist und meine Annäherung nicht zuletzt eher vom Rand erfolgt.
Der Auftakt hatte für mich ein spezielles Präludium, lasen doch am Vortag Marcel Beyer und der belgische Schriftsteller Erwin Mortier im Haus des Buches Texte zum »letzten Sommer Europas«, also aus der Vor- und Frühzeit des Ersten Weltkriegs. Der Auftritt von Andrew King im Volkspalast schloss da fast direkt an und wurde als eine Art Gedenkgottesdienst für die Toten dieser kriegerischen Urkatastrophe des blutigen 20. Jahrhunderts inszeniert, wobei auch die Überlebenden ihre Rollen hatten, darunter der schwerverletzte Großvater von King, der neben vielen anderen bereits gewohnten WKI-Bildern im parallel laufenden Video zu sehen war. Andrew King, der sich als Folkbarde versteht, ist wegen seiner Zusammenarbeiten mit Sol Invictus und vor allem Blood Axis durchaus im politischen Grauzonenbereich des Neofolk verortet und stilistisch schloss auch dieser Auftritt dort an: sehr getragen, eher spartanisch, mit wenig Elektronik und viel Pathos, dominiert von militaristischem Drumming und seiner Art traditionellem Folkgesang. Allerdings war es eben eher unheroischer Neofolk mit geradezu pazifistischer Stimmung, zu dessen krönendem Abschluss die vielen Namen der Gefallenen der Leipziger Petri-Schule verlesen wurden. Im Hintergrund spielte hier allerdings auch der etwas gelangweilt wirkende und einmal sogar gähnende australische Drummer John Murphy, der immerhin bei SPK oder The Associates sowie bestimmt 50 anderen Projekten mitwirkte, seit längerer Zeit aber vor allem Drummer von Death in June ist. Was wiederum verhinderte, dass das Ex-Death in June-Mitglied Patrick Leagas von 6Comm als Gast antrat, der nichts mehr mit den derzeitigen DIJ zu tun haben will und um Abgrenzung bemüht ist. Dessen eigener Auftritt am Montagnachmittag, einer von zwei auf dem Festival, wirkte auf mich allerdings eher zerfahren. Über schier endlos wiederholten elektronischen Grundmustern ohne allzu viel Dynamik oder Struktur, die teils wie stumpfer Tribaltechno wirkten, wurde auch dort wieder viel militant getrommelt, dazu kam gepresst expressiver Gesang am Rand der stimmlichen Erschöpfung und zumeist ein abruptes Song-Ende mit irgendeinem theatralen Gimmick. Natürlich alles maskiert und in Uniform-Teilen gekleidet performt und dem auch entsprechend wurde abschließend dann doch der Bogen zu seiner Vergangenheit geschlagen, nämlich mit zwei Cover-Versionen von Stücken aus der von ihm mitbestimmten Frühzeit von Death in June. Wieviel ideologischer Abstand zu jenen da wirklich herrscht, die genau zu verorten ja auch schon schwer fällt, bleibt also weiter fraglich. Aber das Fragen sollte ja sowieso nie aufhören, das Wühlen in Widersprüchen: ob mit Lust am Material oder eben ohne.
Ersteres empfand ich definitiv bei der Revolutionary Army of the Infant Jesus, die im Schauspielhaus auftraten. Schon allein ob der Wahl für den bühnenfüllend projizierten Film im Hintergrund, der wohl auch einen geistesgeschichtlichen Background verdeutlichen sollte. Denn die seit den Mitt-80ern aktive und reichlich obskure britische Band trat vor den mit christlicher Ikonographie gesättigten Bildern von Andrej Tarkowskis »Nostalghia« an, den sich die Musiker in Arbeitspausen zudem demonstrativ ansahen, mit dem Rücken zum im Übrigen begeisterten Publikum. Vor dieser Folie traten eine bis zur Entrückung verzückte Jesus-Anpreiserin als Sängerin zwischen der Cocteau Twins-Chanteuse Liz Fraser und Jarboe zu Zeiten der Swans-LP »Children of God«, zwei ältere Herren in absolut reduzierter Haltung an Klarinette und Harmonium, fast unbeweglich agierend, dazu ein manischer und vergleichsweise jugendlich wirkender Bassist, der immer neue Basslinien improvisierte sowie zuletzt ein von betonter Normalität gekennzeichneter Percussionist an, der ab und an minimalistische Gitarre spielte. Zusammen machten sie einen tollen Psycho-Freifolk mit Current93-Tendenz, sehr akzentuiert auf den Punkt gespielt, teils jazzy, teils von erhebender Eleganz, dem ich auch die ganze Filmlänge von »Nostalghia« über hätte zuhören können. Das wäre zudem auch sehr gut als Vorband der katholischen Post-Hardcore-Band Armia oder bei deren Polski-Cath-Rock-Erweiterung als 2TM2,3 passend, sollte jene je beim WGT zur Pop-Propaganda Dei aufspielen.
Dass osteuropäische Bands aber leider eher Mangelware sind, hebt das WGT nun nicht gerade von anderen Events ab. Neben den polnischen Jobkarma, die auch als 7JK mit dem Geiger Matt Howden aka The Mighty Sieben auftraten, fiel diesbezüglich vor allem die mit Spannung erwartete Rückkehr der slowenischen Sound- und Videokunstpioniere Borghesia ins marginal ausgleichende Gewicht.
Von stilistisch extrem festgefahrenen EBM-Formationen flankiert, trat die um mehrere Musiker erweiterte Band aus Ljubljana im großen Saal der Theaterfabrik auf, unter deren Dach saunaartige Temperaturen herrschten. Borghesia, deren Comeback-Album »And Man Created God« am Tag nach dem Festival erschien und die hier ihr erstes Konzert überhaupt nach 23 Jahren Live-Pause gaben, machten jedoch schnell klar, dass sie nicht gewillt waren, einfach bei ihrem Sound der späten Achtziger anzuknüpfen, als sie zur Speerspitze der internationalen EBM-Szene zählten. Entsprechend konsterniert reagierte ein größerer Teil der durchschwitzten Meute von Szene-Traditionalisten. Wer blieb und sich auf den harten Industrialrock einließ, der auch Dub-Technik und osteuropäische Folk-Vokalkunst einbaute, wurde jedoch Zeuge eines beeindruckenden Revivals, inszeniert von einer mit viel Energie und Spielfreude agierenden Crew, die den wie zuvor politisch radikale Statements formulierenden, optisch aber nunmehr eher an Ozzy Osbourne erinnernden Sänger Dario Seraval umringte. Auf die weitere Entwicklung von Borghesia 2.0 darf man zumindest gespannt sein – Produzent und Live-Mixer Aldo Ivančićversprach jedenfalls bereits zum nächsten Konzert in guter sozialistischer Planübererfüllungstradition eine Steigerung auf 145%. Dass die Borghesia-Ausstellung »Dub Photo« und die Artworks zum aktuellen Album am Auftrittsort und nicht wie angekündigt im Kultúrny dom B31 zu sehen waren, gehört zwar eher zu den Planuntererfüllungsaspekten, hatte allerdings weniger mit dem WGT als mit internen Differenzen zu tun, die zu erläutern aber in ein eher absurdes Dunkel der Zwischenmenschlichkeit führen würde.
Direkt von Borghesia ging es mehrfach euphorisiert zu Slowdive, die als Mitternachtsspezial auf dem Agra-Gelände antraten, wo der Sound nicht so schlimm wie befürchtet, allerdings auch nicht so laut wie erhofft war. Aber die erwarteten Shoegaze-Überwältigungsmomente funktionierten trotzdem wunderbar, vor allem, wenn von der sehr zurückhaltend, zugleich aber äußerst souverän agierenden Band Schicht auf Schicht neue Klangwolken gen Himmel aufgeworfen wurden, um dann zum ganz großen Freiflug anzusetzen. Die Show war eines von nur wenigen Slowdive-Konzerten in diesem Jahr und das einzige in Deutschland, was einige Leute sogar dazu brachte, sich nur deswegen ein WGT-Ticket zu kaufen. Insofern ist dem Festival dieser Überraschungscoup definitiv gelungen.
Am abschließenden Montag gab es neben den oben besprochenen 6Comm vor allem noch Vatican Shadow, dessen drohend dräuender Technosound mit Schlieren und Basswumms endlich elektronische Musik auf dem möglichen Stand des Here&Now bot, illustriert von einem Bildprogramm, das Kalaschnikow-Baupläne, ballistische Kurven und Bibel-Zitate zur Assoziation freigab. Den dann schon sehr erschöpft wahrgenommenen Abschluss bildete dann im Täubchenthal der eher lustige und trotz Hitze und Überfüllung begeistert gefeierte Horror-Psychobilly der Bloodsucking Zombies from Outerspace, die mich gemeinerweise teils aber auch an Die Ärzte in der Frühphase denken ließen. Aber die hatten damals ja auch toupierte Haare und zumindest einen Humor von offensiver Schwärze …
Womit wir wieder bei der unbarmherzig Sonnenkraft saugenden Farbe wären, die beim WGT diverse Sub- und Nebenszenen nivelliert, deren die Stadt verdunkelnden Vertreter wiederum sich sicherlich auch zur Ausgabe 24 wieder zu Tausenden nach Leipzig aufmachen werden.