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Konzertkritik

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Festivaltagebuch: Atemanhalten bei einem der gefühlvollsten Festivals

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Seit 30 Jahren lädt die ehemalige Halderner Dorfjugend nun schon Sommer für Sommer in die niederrheinische Provinz, um drei Tage lang dem Pop zu frönen. Hier hat sich im Laufe der Zeit das entspannteste Festival der hiesigen Landschaft mit dem spannendsten Line-up entwickelt. Namhafte Acts laufen gleichberechtigt mit Newcomern. Hinzu kommt die untrügliche Nase der Festivalmacher und Labelbetreiber für kommende Größen.

Dies schlug sich auch im vergangenen Programm nieder, das auf den ersten Blick wenige große Namen zu bieten hatte, am Ende aber so viele Neuentdeckungen wie selten zuvor. Die Mischung aus Veteranen wie Patti Smith und jungen Künstlern wie George Ezra spiegelte sich auch im bunt gemischten Publikum wider, wo Altrocker neben Hipstervolk feierten. Ezra sagte kurzfristig sein Konzert im Spiegelzelt ab, da der Singer/Songwriter aus Bristol nach seinem Hit »Budapest«, den er im Januar noch in der winzigen Haldern Pop Bar in der Ortsmitte zum Besten gab, mit Überanstrengung durch den plötzlichen Erfolg zu kämpfen hat. Ansonsten kamen alle, teilweise bereits zum zweiten oder dritten Mal, ins gemütliche Festivaldorf. Shara Worden etwa, die unter dem Namen »My Brightest Diamond« diesmal mit ihrer Band und den Kammermusikern von Stargaze auf der Hauptbühne den freitäglichen Regen erträglich machten. Einige Stunden zuvor war es noch trocken im Parkstück vor der Dorfkirche, wo sie nach ihrem bewegenden Auftritt in den sakralen Räumlichkeiten ausspannte. Dort hatte sie mit Stargaze zum Zyklus »Deathspeaks« ihrem Hang zur Oper gefrönt, abgerundet von stehenden Ovationen und minutenlangem Applaus. Auch bei Alexi Murdoch wollte der nicht enden, hatte er doch in den 60 Minuten zuvor ein absolut bewegendes Konzert an derselben Stelle gespielt. Bei ihm fungierte Stargaze, die bereits zum zweiten Mal als Resident-Orchester mit wechselnden Künstlern spielten, als Atmo-Maschine, die seinen Gitarrenklängen und dem unverwechselbaren, an Nick Drake gemahnenden Timbre Murdochs die Basis lieferte. Das Publikum hielt den Atem an und hüllte sich in die Soundkulisse.

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St. Georg ist sicherlich der beeindruckendste Schauplatz beim Haldern Pop. Neben der Pop Bar und dem neu hinzugekommenen Keusgen Tonstudio, die leider nur einem auserwählten Kreis stundenlang Anstehender Zutritt gewähren, bietet nun auch die frisch getaufte Byzanzstage im Biergartenareal vor dem Spiegelzelt Bands eine feste Plattform. Hier begeisterte unter einem Mopp voll Haaren Kurt Vile & the Violators bereits am ersten Festivaltag. Das Gründungsmitglied der Philadelphia Rockband The War on Drugs gab eine kraftvoll-rotzige Vorstellung, für die sich die kleine Bühne bestens eignete und davor ausreichend Platz bot, seinen Körper in unkontrollierten Bewegungen umherzuschmeißen. Davon kann es im nächsten Jahr gerne mehr geben. Zumal sich auch die zahlreichen Wartenden in der Schlange fürs Spiegelzelt bestens unterhalten fühlten.

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Das Spiegelzelt ist das eigentliche Highlight in Haldern. Das runde Bauwerk aus massiver Eiche mit dem kunstvoll geschwungenen Dach und den Buntglasfenstern ist ein atmosphärischer Traum für Künstler und Publikum. Hier spielten die Fleet Foxes, Yeasayer, James Vincent McMorrow, Midlake oder Mumford & Sons lange vor ihrem Durchbruch. Leider ist der Platz auf knapp 1.000 begrenzt, was viele dazu bewegt, die gemütliche Location gar nicht mehr zu verlassen, wenn sie einmal drin sind. So verpasst man vielleicht einige Acts auf der Hauptbühne, aber dafür ist man vor jeder Witterung sicher – es sei denn die Sonne brennt, denn dann tropft das Kondenswasser von der Decke – und entdeckt vielleicht die eine oder andere Band, respektive Künstler, von der bzw. dem man vorher noch nichts vernommen hatte. Zum Beispiel zu später Stunde am Donnerstag, als Benjamin Clementine ans Klavier auf der kleinen Bühne trat. Gehüllt in einen langen Filzmantel setzte er sich, während er sang, eigentlich nie richtig auf den Schemel dahinter. Er machte es sich und uns nicht bequem und forderte absolute Aufmerksamkeit und Stille vom Publikum, das mit einem einzigartigen expressiven Gesangstalent konfrontiert wurde. Clementine, der jahrelang auf der Straße lebte, bis er die Liebe zur Musik entdeckte und an Straßenecken zu spielen begann, wo man auf ihn aufmerksam wurde, zieht einen unweigerlich hinein in seine abgründigen Geschichten, die deutlich vom Leben geprägt wurden. Eine erste überraschende Begegnung, die lange nachhallte.

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Ebenso wenig entziehen konnte man sich der Band Ought, die tags drauf das Zelt bewegte. Das Quartett aus Montreal spielte eine höchst infiziöse Mischung aus Art-Pop und Punk und Sänger/Gitarrist Tim Beeler stolzierte dazu wie ein eklektischer Gockel. Irre und unmöglich, nicht zu tanzen. Diese Attribute passen auch auf Wintergatan aus Schweden. Der verspielte Elektropop, angereichert mit Glockenspiel und allerlei Instrumenten Marke Eigenbau, forderte zum Feiern auf und die Menge im Zelt folgte der Einladung dankbar.

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Auf der Hauptbühne zelebrierte derweil Connan Mockasin sein hippieesques Happening. Das neuseeländische Sandmännchen war in jedem Fall ein gut gebuchter geistiger Nachfolger der Flaming Lips, die einige Jahre zuvor an gleicher Stelle das Festival mit einem knallbunten Kindergeburtstag und Tänzern in Teletubbie-Kostümen beschlossen. Mit dem freundlichen Weirdo, musikalisch einer Art bekiffter Ariel Pink, der am Ende noch das Publikum zum Ausziehen bewog, ging es für die Menge gut durchgegroovt in die letzte Nacht.

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Auch sonst bewies das Line-up in diesem Jahr wieder die richtige Mischung, wobei die Hauptbühne ein wenig schwächelte. Hier gab es solide Auftritte, etwa von Conor Oberst, mit den Dawes und den Söderberg-Schwestern, die einige Stunden zuvor noch ihren Country-Pop mit der Band First Aid Kit in unsere Ohren schmeichelten. Patti Smith forderte zur friedlichen Revolution auf und fand bei ihren Devotees Gehör. Chet Faker feierte sich selbst mit geliehenem Equipment (seins steckte scheinbar auf einem weit entfernten Flughafen) und Lee Fields wurde seinem Ruf als James-Brown-Epigone mehr als gerecht. Aber im Zelt passierten derweil einfach die spannenderen Dinge. Schweißtreibendes mit Black Lips, Vibrierendes von The Acid, Charmant-Poppiges mit Boy & Bear und die unverschämt jungen und talentierten Iren All the Luck in the World, die ihren Namen ruhig dreimal unterstreichen dürfen, denn ihnen lag zu Recht das gesamte, vornehmlich weibliche Publikum zu Füßen.

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Der eigentliche Grund aber, den verschlungenen Weg durch die Dörfer, vorbei an Kuhwiesen und Rapsfeldern, hin zum Halderner Acker zurückzulegen, baute am Samstagabend im Spiegelzelt ganz unscheinbar sein eigenes Equipment auf, stimmte seine Gitarre und spielte ein gelöstes Konzert, begleitet von Gitarre, Keyboard und Schlagzeug. Mark Kozelek, dessen Auftritt bis zu den ersten Klängen vermutlich niemand der Anreisenden für möglich gehalten hatte und auch die Booker überraschte. Der ehemalige Red-House-Painters-Kopf, Labelbetreiber und Inbegriff der Bezeichnung Singer-Songwriter gab sich angenehm entspannt im vollgepackten Zelt und erzählte seine abgründigen biografischen Geschichten mit ernster Miene, nur um dann zwischen den Songs selbstironische Seitenhiebe zu verteilen. Am Ende legte er dann sogar seine Gitarre beiseite und sang vor uns, unfassbar und doch zum Greifen nah. Ein großer, intensiver Auftritt von knapp einer Stunde, der die Menge beeindruckt zurückließ.

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Und die drei wundervollen Tage in Haldern abrundete, die wieder einmal unterstrichen, warum sich es sich lohnt, das Wochenende im August rot im Kalender zu markieren und sich die Tickets bereits im Oktober zu sichern. Im letzten Jahr dauerte es genau acht Tage, bis das Onlinekontingent ausverkauft war – und das, lange bevor auch nur eine einzige Band feststand. Haldern verpflichtet – wer hier war, weiß warum.

Mehr Eindrücke: www.flickr.com/photos/personanongrata/

Zum 30. Geburtstag des Haldern Pop Festivals ist die Dokumentation »Du die Schwalbe, wir der Sommer« auf DVD erschienen und sei hiermit allen ans Herz gelegt!


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