Die vierte internationale Degrowth-Konferenz trägt die Debatte um Wachstumskritik, ökologischen Ansprüche und gemeinschaftliche Arbeit in die Stadt. Leipziger Projekte gelten dabei als Vorzeigebeispiel der Postwachstumsbewegung.
Ein Hof in Sehlis, unweit von Leipzig. Am Geräteschuppen vorbei führt ein schmaler Durchgang zu einem Garten mit Wildwuchs. Hier und da steht ein kleines Zelt, wächst ein Apfelbaum. Einige Hühner kreuzen den Weg, der auf einen riesigen Acker führt. Zwei Tunnel sind aufgereiht zur Gemüsezucht, in der Ferne wird eine Streuobstwiese erkennbar. Karl Giesecke, Mitgründer der Gemüsekooperative Rote Beete führt über den Hof. Auf fünfeinhalb Hektar werden zahlreiche Gemüse- und Obstsorten angebaut, »von Auberginen bis Zwiebeln, von feinen Kräutern bis hin zu dicken Kürbissen«. Unter dem Leitgedanken »ökologisch, solidarisch, gemeinschaftlich und politisch« soll ohne marktwirtschaftlichen Ertragsdruck mit gemeinsamer Finanzierung und geteilter Arbeit eine Alternative zum herrschenden Wirtschaftssystem geschaffen werden. Was dabei herauskommt, ist wohlschmeckendes Gemüse direkt vom Acker statt über den Umweg der Supermarktketten. Viele hätten den Eindruck, so Giesecke, die Kooperative mache wieder rückgängig, was in der industriellen Landwirtschaft als Fortschritt gesehen wird. Sie pflanzen Hecken und Bäume, statt sie abzureißen, und versuchen, Dinge durch Handarbeit statt mit Maschinen zu machen. Industrieller Fortschritt zurückgedacht.
Rückgängig, ja, aber keineswegs rückschrittlich. Denn gemeint ist die Verringerung von Produktion und Konsum in den industrialisierten Staaten, mit dem Ziel, eine Gesellschaft zu schaffen, in der Menschen mit Rücksicht auf ökologische Grenzen leben. Dahinter steht die Überzeugung, dass eine Gesellschaft, die auf Wachstum basiert, keine Zukunft hat, weil sie Ungleichheit und Umweltverbrauch fördert.
Mit diesem Thema beschäftigt sich aktuell die in Leipzig stattfindende »Degrowth-Konferenz«. Der Begriff meint »Postwachstum«, »Schrumpfung«, »Wachstumswende«. Im Mittelpunkt der einwöchigen Zusammenkunft stehen laut Ankündigung »konkrete Schritte für eine Gesellschaft jenseits von Wachstumszwängen«. Zentral ist dabei die Verknüpfung aktueller Forschungsansätze aus wissenschaftlicher Perspektive mit konkreten aktivistischen Handlungsoptionen. Die drei Themenstränge »Gesellschaft organisieren«, »Sozial ökologisch wirtschaften« und »Gemeinschaft leben« werden in verschiedenen Veranstaltungsformaten präsentiert, diskutiert und ausgeübt.
Die Kritik am Wirtschaftswachstum ist so alt wie das Phänomen selbst. Eine neue Dimension erhielt der Diskurs jedoch durch die Wahrnehmung der Endlichkeit der Ressourcen in Folge des 1972 vom Think Tank Club of Rome veröffentlichten Diskussionspapiers, das den Begriff »Décroissance«, als Degrowth, das erste Mal in dieser Hinsicht verwendete. Zentral ist die Transformation hin zu einem niedrigeren und nachhaltigeren Niveau von Produktion und Konsum, mit Suffizienz statt Effizienz im Fokus. Verfechter der Idee sehen darin einen Weg zu sozialer Gerechtigkeit, Wohlfahrt und ökologischer Nachhaltigkeit. Alles nichts Neues, mag man denken, denn nachhaltige Entwicklung gibt es schon lange, sogar in der Großindustrie. Aber der Gedanke zielt in eine andere Richtung. Während nachhaltige Entwicklung oft bloßes Greenwashing, also das Verstecken hinter einem grünen Image, ist, zielt das Degrowth-Konzept auf einen radikalen Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse. Doch nicht alle, die unter dem Etikett Postwachstum zusammenkommen, sehen das so. Verschiedene Strömungen, von konservativ über sozialreformerisch und suffizienzorientiert bis hin zu kapitalismuskritisch und feministisch, machen den Begriff zum Sammelbecken. In Deutschland dominiert der konservative Strang, welcher sich auf Wirtschaftsschrumpfung konzentriert und die gesellschaftlichen Verhältnisse weitestgehend ausblendet. Solidarische Kapitalismuskritik kann so zu neoliberaler Wachstumskritik gewendet werden – ein Weg, den die Konferenz nicht gehen will. »Es wird versucht, sich von Strömungen abzugrenzen, die wir nicht wollen. Gleichzeitig aber wollen wir einladend sein und viele Leute an der Debatte beteiligen«, sagt Susanne Brehm, Mitglied im Leipziger Think Tank Konzeptwerk Neue Ökonomie und Mitorganisatorin der Konferenz, mit Blick auf die Heterogenität der Ideen. Ökologische, soziale und demokratische Fragen sollen auf der Konferenz zusammen gedacht werden.
Sie ist Teil einer Veranstaltungsreihe zur Postwachstumsdebatte, die 2008 in Paris begann. Leipzig ist hierfür, so die Veranstalter, eine »interessante Kulisse«. In der lange Zeit schrumpfenden Stadt seien aufgrund vieler leer stehender Häuser »Freiräume entstanden, in denen sich Degrowth-relevante Konzepte und Praktiken entwickeln konnten«. Auf der anderen Seite stünden die sich abzeichnenden Tendenzen zur Gentrifizierung. Tatsächlich: Neben steigenden Mieten und Verdrängung gibt es in Leipzig und Umgebung zahlreiche Gemeinschaftsgärten, Repair-Cafés, Hausprojekte, Tausch- oder Umsonstläden, die Tauschwährung Lindentaler und Kooperativen wie die Rote Beete in Sehlis. Leipzig als Hotspot der Postwachstumsbewegung? Ein Städtevergleich zeigt: Eine Vielzahl von Postwachstumsideen sind hier realisiert. Lediglich die wissenschaftliche Ebene kam in Leipzig bisher zu kurz. So bietet die Universität Oldenburg eine regelmäßige thematische Vorlesung an, in Jena forscht ein ganzes Postwachstumskolleg. Die drei dort ansässigen Soziologen erarbeiten mit Kollegen theoretische Konzepte, die sie unter anderem auf der Konferenz vorstellen werden.
Viele Projekte organisieren solidarisches Zusammenleben ohne Referenz auf den Degrowth-Begriff. Auch die Gründer der Rote-Beete-Kooperative konnten zunächst nichts damit anfangen. Sie trieb der Wunsch an, kleinteilige Landwirtschaft unter solidarischen und ökologischen Aspekten aufzubauen. Über den Gemüseanbau hinaus motiviert sie der Gedanke, gemeinschaftliche Landwirtschaft zu leben und zu vermitteln. Darin unterscheidet sich der seit 2002 existierende Hof von anderen Biohöfen. Menschen, die das Gemüse essen wollen, kaufen es nicht, sondern werden für einen frei gewählten monatlichen Beitrag Mitglied der Kooperative. Dafür können Sie sich wöchentlich an einer der Verteilerstationen in Leipzig ihre Gemüseportionen abholen. Da die Kooperative sich solidarisch und hierarchiefrei organisiert, sollen die zurzeit etwa 200 Mitglieder auch mitmachen und mitentscheiden. »Wir wollen mit allen kommunizieren können, um den sozialen Anspruch zu wahren«, erklärt Karl Giesecke, was sie von Dienstleistern wie andere Gemüsekisten unterscheidet.
Für Konferenzorganisatorin Susanne Brehm ist solidarische Landwirtschaft ein »prototypisches Beispiel für eine mögliche Antwort auf die Postwachstumsfrage«. Sie nennt Leipzig ein »Experimentierfeld alternativer Wirtschaftsformen«, weil viele politische Menschen in der Stadt »einfach mal was anderes ausprobieren« würden. So kann der Begriff Degrowth eine Debatte unter politisierten Menschen anregen: »Der Diskurs ist bisher theoretisch geprägt, in Leipzig stößt man aber durch die Konferenz auf ein total großes Interesse, sich mit der eigenen politischen Arbeit einzuordnen« und vielleicht noch die eine oder andere Anregung und Perspektive dazuzugewinnen.