Auf der Leipziger Buchmesse 2015 geht es um ein halbes Jahrhundert israelisch-deutscher Beziehungen. Kaum jemand kennt sich bei diesem Thema besser aus als Christiane Munsberg, Kulturreferentin bei Bertelsmann, die seit zehn Jahren den Israel-Auftritt auf der Messe betreut (und übrigens auch für das allseits bekannte »Blaue Sofa« zuständig ist). Der Club Bertelsmann hat »Leipzig liest« mitbegründet, und Bertelsmann gehört zu den wichtigsten Unterstützern der Veranstaltungsreihe. Wir sprachen mit Christiane Munsberg darüber, wie alles angefangen hat, über die literarischen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland und welche Veranstaltungen wir auf keinen Fall verpassen dürfen.
kreuzer: Bereits 2005 hat zum 40. Jahrestag der Aufnahme der israelisch-deutschen Beziehungen auf der Leipziger Buchmesse eine Lesereihe mit israelischen und deutschen Autoren stattgefunden. Wie hat alles angefangen und wie haben sich aus Ihrer Sicht in diesen zehn Jahren die Beziehungen zwischen Israelis und Deutschen verändert?
CHRISTIANE MUNSBERG: Die Aussöhnung zwischen Israelis und Deutschen, zwischen Juden und Deutschen war für Reinhard Mohn, den Nachkriegsgründer von Bertelsmann, eine Herzensangelegenheit. Mit Projekten wie dem »Deutsch-jüdischen Dialog« oder dem »Deutsch-israelischen Leaders-Austausch« zeigten Reinhard Mohn und seine Frau Liz jahrzehntelang ihre Verbundenheit mit dem Staat Israel. Vielleicht war das der Grund, warum sich der damalige Botschafter des Staates Israel Shimon Stein 2004 an Bertelsmann wandte. Zum 40. Jahrestag der deutsch-israelischen diplomatischen Beziehungen wollten die Israelis zur Leipziger Buchmesse Autoren aus beiden Ländern ins Gespräch bringen und suchten dafür einen Partner aus der Buchbranche mit Erfahrung und einem guten Netzwerk. Es hatte sich herumgesprochen, dass der Club Bertelsmann und die Leipziger Buchmesse mit der Stadt Leipzig und dem Börsenverein des deutschen Buchhandels 1992 das Lesefest »Leipzig liest« ins Leben gerufen hatten. So kam es, dass unter der Überschrift »Wenn Ihr wollt, ist es kein Märchen« die Israelis zwölf ihrer bekanntesten Autoren in Leipzig präsentierten, darunter Amos Oz, David Grossman, Zeruya Shalev, Yoram Kaniuk, Etgar Keret sowie Asher Ben-Natan, den ersten israelischen Botschafter in Bonn, und seinen Kollegen Nils Hansen, der als zweiter deutscher Botschafter in Tel Aviv wirkte. Der Club Bertelsmann organisierte mit den Israelis Diskussionsrunden und Lesungen sowie den Festakt im Bundesverwaltungsgericht mit Amos Oz, dem damaligen Bundesaußenminister Joschka Fischer und Shimon Stein. Seitdem bildet die Leipziger Buchmesse den Schwerpunkt der literarischen Aktivitäten der Israelis in Deutschland. Gemeinsam veranstalten wir seit 2007 einen literarischen Abend im Deutschen Literaturinstitut Leipzig. In dem Institut, wo Studenten das Handwerk der Schriftstellerei lernen, wollen wir israelische Autoren und deutsche Literaturstudenten miteinander ins Gespräch bringen. So entstand die formidable Veranstaltungsreihe »Deutsch-israelische Beziehungen«. Wir baten drei bis vier Studierende, jeweils einen aktuellen Roman eines zeitgenössischen israelischen Autors zu lesen. Im Rahmen von »Leipzig liest« stellten die Studenten das Buch gemeinsam mit dem israelischen Partner vor und sprachen über ihre Lese- und Schreiberfahrungen. Auf diese Weise erlebten die Leipziger sehr persönliche und intensive Gespräche. Am meisten freuten wir uns, wenn auf diese Weise Freundschaften zwischen unseren Autoren entstanden.
kreuzer: In seinem Roman »Herrn Lublins Laden« hat Samuel Agnon, der erste israelische Nobelpreisträger für Literatur, der Stadt Leipzig ein literarisches Denkmal gesetzt. Spielte die Leipzig-Affinität dieses bedeutenden Vertreters der modernen hebräischen Literatur bei der Programmgestaltung eine Rolle?
MUNSBERG: In diesem Jahr beziehen wir uns mit einer Veranstaltung insofern auf Samuel Agnon, als sie seinem Freund Martin Buber gewidmet ist. Leider können wir den in Galizien geborenen Agnon nicht mehr einladen, er verstarb bereits 1970. Dabei wäre er für uns ein idealer Gastautor gewesen, und das Galizien, das er vor dem Zweiten Weltkrieg, also vor den Pogromen, verlassen hat, wäre ein nahezu perfektes Gastland für eine Buchmesse: Über Jahrhunderte gehörten Galizien und seine Hauptstadt Lemberg wechselnden Staatsgebilden an. Bis zum Zweiten Weltkrieg prägten Polen, Deutsche, Armenier, Ungarn und viele andere Volksgruppen das Leben, die Kultur und die Menschen in Galizien. 1945 war diese reiche Kulturlandschaft untergegangen: Die Juden waren ermordet oder vertrieben, die Polen zwangsdeportiert, ukrainische Intellektuelle, die nicht flüchten konnten, wurden verfolgt, umgebracht oder deportiert. Heute gehört Galizien zu Polen und zur Ukraine. Dem Leser jedoch ist Galizien vertraut, weil so viele bedeutende Weltliteraten hier beheimatet sind. Wer kennt nicht die Gedichte von Rose Ausländer und Paul Celan? Wer versank nie in die Romanwelten von Joseph Roth, Joseph Conrad, Stanislaw Lem oder Louis Begley? Das ostjüdische Schtetl lernte ich durch die Lektüre von Scholem Alejchem und Isaac Bashevis Singer kennen. Buchstäblich auf den Geschmack kam ich durch Salcia Landmanns Rezepte, und oft blieb mir bei Stanislaw Lecs »Unfrisierten Gedanken« das Lachen im Halse stecken.
Als Agnon 1966 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, schrieb Die Zeit, sein Leben und Werk sei durch »tausend Fäden mit dem Leben des jüdischen Volkes und dem Werden des Staates Israel verbunden« und seine Stimme sei die bedeutendste »aus der Generation der Gründer einer neuen israelischen geistigen Tradition«. Diese Fäden greifen wir in Leipzig auf, denn die Werke der vorgestellten israelischen Autoren beschreiben vielfältige Aspekte des Lebens in Israel heute – mit Problemen, Herausforderungen, Freuden. Sie erzählen von Traumata, Hoffnungen und Wünschen.
Amos Oz, der bedeutendste unter den Autoren und Nestor der israelischen Literatur, hat mit »Judas« nicht nur einen wunderbaren Roman über die Ideale und die Realität des Zionismus, über den jüdisch-arabischen Konflikt, über Judentum und Christentum geschrieben. Er stellt auch die uns vertraute Figur des Judas in Frage. War er ein Verräter oder war er vielmehr ein Seher? Hila Blum dagegen erzählt von den Problemen einer Ehe, die in die Jahre gekommen ist, und von den vielfältigen Herausforderungen an eine moderne Patchwork-Familie. Es geht um Vertrauen und Verrat in einer Beziehung, um traumatische Beschädigungen und glänzende Zukunftsaussichten. Ähnliche Konstellationen gibt es aber auch bei den deutschen Autoren: traumatische Erfahrungen in der Kindheit, Verletzungen durch Krieg und Unfreiheit, die über Generationen nachwirken. In seinem bewegenden Roman »Alle Nähe fern« erzählt André Herzberg, bekannt durch seine Band »Pankow«, die Geschichte einer jüdischen Familie vom Ersten Weltkrieg bis heute. Er schreibt über antisemitische Unterdrückung im Kaiserreich, Judenverfolgung durch das NS-Regime, über den alltäglichen Antisemitismus in der DDR und kommt zu dem Fazit: »Nach siebzehn Jahren Analyse habe ich nichts entdeckt, was uns im Innern trennt, ob Juden oder Deutsche, wir sind alle Menschen, die sich vor allem nach einem sehnen, nach Liebe. Alle haben die Sehnsucht in sich, alle haben traumatische Erfahrungen in ihrer Kindheit gemacht, bei jedem anders, aber immer traumatisch. Die Gleichheit der Erfahrung lässt in uns endlich wieder ein Gefühl der Wärme zueinander entstehen, wie wir es nur als Traum von der frühesten Kindheit kennen. Es entzündet wieder die alte Flamme der Liebe in uns, lässt ganz allmählich Heilung zu.« – Ist das nicht toll?
kreuzer: Wenn 50 Jahre deutsch-israelische Beziehungen gefeiert werden, geht es zwangsläufig nicht nur um Literatur, sondern auch um Tagespolitik. Die Situation im Nahen Osten ist verfahrener denn je. Werden auch palästinensische Schriftsteller zu Wort kommen?
MUNSBERG: Uns ging und geht es um die Literatur und um das deutsch-israelische Verhältnis. Und dazu gehören natürlich auch israelisch-arabische Autoren. Gleich im ersten Jahr las beispielsweise Sayed Kashua, der bedeutendste israelisch-arabische Autor, aus seinem Roman »Da ward es Morgen«, und in diesem Jahr wird Ayman Sikseck sein Buch »Reise nach Jerusalem« vorstellen. Arabische Literatur wird in Israel durchaus ins Hebräische übersetzt. Bei uns kenne ich aktuell nur diese beiden Autoren, deren Romane ins Deutsche übersetzt wurden – und der letzte Roman von Kashua erschien bereits 2011. Sayed Kashua ist in Israel sehr populär. Übrigens schreibt er auf Hebräisch, und er hat eine wöchentliche Kolumne in der Zeitung Haaretz. Hebräische Literatur hingegen wird offiziell nicht ins Arabische übersetzt oder verkauft. Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ja, in unserem Programm kommt eine palästinensische Autorin zu Wort: Claire Hajaj, Tochter einer jüdischen Mutter und eines palästinensischen Vaters, hat mit »Ismaels Orangen« einen Roman geschrieben, der aus ihrer Sicht die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 thematisiert. Claire Hajaj ist aber in London geboren und eigentlich Kosmopolitin, die überall in der Welt zuhause ist.
kreuzer: Batya Gur, Meir und Zeruya Shalev, Amos Oz – auf dem deutschen Buchmarkt ist eine ganze Reihe israelischer Schriftsteller präsent. Interessieren sich, umgekehrt, die Israelis für die deutsche Gegenwartsliteratur?
MUNSBERG: »Es gibt sehr viele jüdische Gene in der deutschen Kultur und nicht wenige deutsche Gene in unserer Kultur hier in Israel«, erklärt Amos Oz. Für Oz, der mit seiner Tochter Fania das Buch »Juden und Worte« schrieb, verbinden Worte stärker als Blutsverwandtschaft. Seit dem Exodus erzählen Juden ihren Kindern die Geschichte ihres Volkes in Geschichten und schreiben diese Geschichten für nachfolgende Generationen auf. So wurden die Geschichten der Bibel zum Schlüssel für Kontinuität, Tradition und Bildung. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass alle großen deutschen Klassiker wie Goethe, Heine, die Brüder Mann, Bertolt Brecht, Erich Kästner, Anna Seghers, Joseph Roth und Victor Klemperer ins Hebräische übersetzt wurden? Obwohl ich diesen Schwerpunkt seit zehn Jahren betreue, kenne ich nicht die Klassiker der hebräischen Literatur. Auch alle großen Nachkriegsautoren, beispielsweise Heinrich Böll, Günter Grass, Siegfried Lenz, Martin Walser, Stefan Heym, Christa Wolf, Jürgen Habermas, Uwe Timm und Bernhard Schlink, wurden ins Hebräische übersetzt. Übrigens sind Hans Falladas Neuübersetzungen auch in Israel ein riesiger Erfolg.
kreuzer: Der Messeschwerpunkt will ja vor allem auf die Literatur des Gastlandes aufmerksam machen. Haben Sie eine persönliche Empfehlung? Welchen aktuellen israelischen Titel sollen wir lesen?
MUNSBERG: Eigentlich sollten Sie so viele Bücher wie möglich lesen. Als gelernte Buchhändlerin gebe ich nur den Lesern Tipps, die mir ihre Vorlieben erklären können, denn nichts ist schlimmer als ein falsches Buch. Und weil das so ist, haben wir für alle, die sich für den diesjährigen Messeschwerpunkt interessieren, ein kostenloses E-Book mit Leseproben von allen 40 Autoren zusammengestellt. Neben den Leseproben finden Sie eine kurze Biografie von jedem Autor und eine kurze Inhaltsangabe. Dazu alle bibliografischen Angaben, Porträts von den Autoren und Coverabbildungen. So wollen wir den Messeschwerpunkt zu den Lesern und Buchhändlern bringen. Aber wenn Sie unsere »Lange Nacht der deutsch-israelischen Literatur« am Donnerstag im Schauspiel Leipzig, besuchen können Sie den einzigen Auftritt von Amos Oz außerhalb der Buchmesse erleben. Die Texte liest der wunderbare Christian Brückner. Außerdem stellen Dan Diner, Lizzie Doron, Gila Lustiger, Mirjam Pressler, Avi Primor, Meir Shalev und Carlo Strenger ihre aktuellen Bücher vor. Wenn Sie danach nach Hause gehen, haben Sie eigentlich einen sehr guten Überblick. Dem jüngeren Publikum empfehle ich unseren »Club Tel Aviv«, ebenfalls am Donnerstag. Dort lesen Hila Blum, André Herzberg, Norbert Kron, Kerstin Preiwuß, Rebecca Maria Salentin und Amichai Shalev. Danach legen rejoicer & 2bfuzzy israelische und deutsche Hits auf. In der Alten Nikolaischule spricht am Freitag unter anderem der große Ägyptologe Jan Assmann über »Exodus. Die Revolution der Alten Welt«, und am Samstag liest Hendrikje Fitz, dem Fernsehpublikum als Chefarztgattin Pia Heilmann aus der Serie »In aller Freundschaft« vertraut, Satiren von Ephraim Kishon. Übrigens, das hat mir der Leipziger Buchwissenschaftler Professor Siegfried Lokatis verraten, gab es im Verlag Volk und Welt eine erfolgreiche Ausgabe von Kishons »Blaumilchkanal«, das sind Satiren, die Friedrich Torberg wunderbar übersetzt hat. Böse Zungen behaupten, die Übersetzungen seien besser als das Original. Sie können das selbst erfahren, denn Hendrikje Fitz wird Satiren sehr unterschiedlicher Übersetzer lesen. Wichtig und spannend finde ich die Diskussion »Die DDR und Israel« zwischen Avi Primor, Gregor Gysi und Friedrich Schorlemmer. Und denjenigen, die von Herzen lachen wollen, empfehle ich, am Samstag Josef Joffe und Hellmuth Karasek im Ariowitschhaus zu besuchen, die über den jüdischen Witz plaudern und gleichzeitig beweisen wollen, wer von ihnen der beste Witzeerzähler ist. Ach was, eigentlich empfehle ich Ihnen alle Veranstaltungen, studieren Sie das Programm – es ist wirklich für jeden Lesegeschmack etwas dabei. Und das ist kein Witz!