Eigentlich ist Hassan Abbas gelernter Zahnarzt. Er kam im April 2016 als Geflüchteter nach Leipzig. Obwohl er inzwischen als Arzt arbeiten dürfte, trifft man ihn vor allem in der 100. Schule in Grünau an. Dort unterstützt er Kinder von anderen Geflüchteten, in den Schulalltag zu finden.
Während Hassan Abbas Schach spielt, versammeln sich jede Menge Kinder um ihn. Jedes von ihnen wartet darauf, endlich dranzukommen. Einige verlassen ungeduldig den Tisch, andere kommen dazu. Die zehnjährige Emily aus der Vierten gewinnt. Nun ist Farida an der Reihe. Das syrische Mädchen mit den beiden langen Zöpfen ist erst seit ein paar Wochen hier. Sie ist sechs Jahre alt. Hassan bringt ihr das Spiel zunächst auf Arabisch bei. Andernfalls würde sie ihn nicht verstehen. Die achtjährige Zynap aus Afghanistan sitzt daneben und gibt ihr Tipps auf Deutsch. Omran, ein Jahr jünger als Zynap und auch aus Afghanistan, albert herum und tut so, als würde er Hassans verlorene Schachfiguren verstecken. Dann schiebt sich der Kopf einer Erzieherin dazwischen und erklärt Omran, er solle unbedingt seine Eltern an das ablaufende Aufenthaltsvisum erinnern. Sie brauche ein neues, aktuelles. Ansonsten könne der Hortvertrag nicht verlängert werden. Ungläubig schaut Omran die Frau an. Schach matt.
Die Hortkinder der 100. Schule in Grünau verteilen sich normalerweise draußen und auf der ersten Etage. Doch heute regnet es, weshalb die Lautstärke von etwa 170 Kindern das gesamte Stockwerk erfüllt. Den Erziehern bleibt oft nichts anderes übrig, als dem enormen Geräuschpegel mit erhobener Stimme zu begegnen. Das Hort-Konzept ist offen. Das heißt, die Schüler entscheiden selbst, was sie machen möchten. Es gibt verschiedene Räume wie das Medien- und Theaterzimmer, einen Sport- und Kreativraum, einschließlich des großen Zimmers, in dem Hassan gerade am Tisch mit vier Kindern sitzt. Eine Erzieherin berichtet vom Faible fürs Schachspielen. Nur zwei aus dem Team könnten es überhaupt. Einer davon sei Hassan. Seit einem Jahr unterstützt er zwei Mal in der Woche die Schule als ehrenamtlicher Integrationsbetreuer. Er dolmetscht bei Gesprächen zwischen Eltern und Lehrern und ist als Muttersprachler unentbehrlich. Hassan bleibt ruhig, auch wenn die Kinder ungeduldig werden, weil sie warten müssen oder etwas nicht verstehen. Er weiß, wie mühsam es ist, eine neue Sprache zu lernen. Seit April 2016 lebt er in Leipzig. Sein Weg nach Deutschland gleicht, und das ist traurige Realität, dem von zahlreichen anderen Geflüchteten und bleibt eigentlich undenkbar, sofern er nicht zur eigenen Lebensrealität wird. Hassan ist Zahnarzt und Gesichtschirurg. Er kommt aus Homs, der drittgrößten Stadt Syriens.
»Ich versuche die Kinder zu ermutigen, sich auszutauschen«
Während des Bürgerkrieges praktizierte er in Jordanien, danach in einem Krankenhaus in der Türkei. Der damals 31-Jährige arbeitete dort ohne offizielle Zulassung, wie alle anderen geflüchteten Ärzte auch, die er kennenlernte. Freunde rieten ihm, nach Deutschland zu kommen. Er selbst spielte zunächst mit dem Gedanken, nach Luxemburg zu emigrieren, weil er dort Verwandtschaft hatte und Französisch spricht. Über Griechenland und Mazedonien kam er nach Serbien, von dort aus nach Ungarn durch Österreich und schließlich ins Erstaufnahmelager nach Trier. Luxemburg gewährte ihm kein Asyl. Nach zwei Inhaftierungen in Mazedonien und Ungarn, dem Kontakt mit kriminellen Schmugglerbanden und letztlich mehreren Aufenthalten in deutschen Aufnahmelagern resümiert er: »Das war viel Stress. Es war schwierig und teilweise gefährlich. Ich bin froh, dass ich es überlebt habe.« Sein eigentlicher Neustart in Deutschland, erzählt er, begann im thüringischen Bad Frankenhausen. Dort lebte er mit anderen Geflüchteten in einer Wohngemeinschaft, lernte selbstständig Deutsch im Internet und schloss erste Freundschaften. An jedes wichtige Datum, wie das, an dem der Anerkennungsbescheid kam, erinnert er sich. Eine Freundin schlug ihm Leipzig als nächste Station vor. Hassan zog hierher und absolvierte alle Sprachkurse auf Mediziner-Niveau. Seit September nun hat er die Erlaubnis, in Sachsen arbeiten zu können.
Er möchte endlich wieder als Zahnarzt tätig sein. Denn Integration bedeutet für ihn, auf eigenen Beinen zu stehen und somit auch finanziell unabhängig zu sein. Den Job an der Grundschule hat er angenommen, weil die Schulleitung dringend einen Muttersprachler suchte und er dabei helfen möchte, sprachliche und kulturelle Barrieren zu überwinden. Hassan spricht sehr überlegt: »Ich versuche die Kinder zu ermutigen, miteinander zu spielen und sich auszutauschen.« Auch die Bemühungen seiner Kollegen weiß er zu schätzen: »Ich bin von allen Erziehern beeindruckt. Sie versuchen alles, damit sich die neuen Kinder wohl fühlen. Das ist ein zusätzlicher Aufwand für sie. Aber sie machen das sehr gut, finde ich.«
Die »bunte Schule« wird ihrem Namen gerecht: einerseits wegen ihres hohen Migrantenanteils und der daraus resultierenden Kultur- und Sprachenvielfalt, andererseits aufgrund der sozialen Durchmischung in Grünau. »Wir haben Lausen mit den Einfamilienhäusern, dann die Plattenbausiedlung und drei umliegende Heime. Unsere Schule liegt genau in der Mitte«, sagt Grit Trepte. Die stellvertretende Schulleiterin unterrichtet eine Klasse »Deutsch als Zweitsprache« (DaZ) und ist für den Bereich Migration verantwortlich. Von 275 Schülern haben etwas weniger als die Hälfte einen Migrationshintergrund. Als Grit Trepte 2014 ihre Stelle antrat, war sie von der Tristesse des Plattenbaus so schockiert, dass sie mit viel Eigeninitiative die langen Gänge bunt gestaltete. Mittlerweile geben die Wände einiges an Leuchtkraft und Freundlichkeit her.
Die beiden DaZ-Klassen sind mit dreiundzwanzig Schülern pro Klasse randvoll. In den Muttersprachler-Klassen sitzen im Durchschnitt zwanzig bis vierundzwanzig Schüler, davon fünf bis sieben Kinder mit Migrationshintergrund. Die meisten Migranten kommen, ohne vorher ein Wort Deutsch zu sprechen. Einige von ihnen gelten als »nicht vorsozialisiert«, das heißt, sie haben weder Kindergarten noch Schule besucht. Hinzu kommen traumatische Erlebnisse während der Flucht aus ihrem Land. Seit 2015 ist die Zahl der ausländischen Schüler massiv gestiegen. Wie kann das Zusammenleben hier also gelingen? »Integration ist von der Person, die neu hinzukommt, ohnehin erst mal schwer zu schaffen. Wir machen Angebote, bei denen sich Eltern und Kinder untereinander mischen und einander kennenlernen«, sagt Grit Trepte. Die Menschen, die am lautesten nach Integration und Anpassung schreien, haben ihrer Meinung nach keine Vorstellung von der Realität. Sie kennt viele Familien, die ein Teil dieser Gesellschaft sein wollen. »Es gibt jedoch auf beiden Seiten viele Befindlichkeiten – und hier endgültig anzukommen, funktioniert, glaube ich, letztlich nur über private Kontakte.« Umso bedeutender erscheint ihr das geplante Elterncafé, das zukünftig alle zwei Wochen stattfinden soll. Sie erhofft sich dadurch, die privaten Vernetzungen anschieben zu können und den Austausch zu fördern. Tino Tilschner hilft ihr bei der Umsetzung. Er ist Sozialpädagoge, studierter Theologe und arbeitet seit zwei Jahren an der Grundschule. Für ihn kommt es darauf an, nicht nur stoisch den sächsischen Lehrplan zu befolgen, sondern Netzwerke zu knüpfen, Raum und Zeit zu schaffen, um zu interagieren und in den Diskurs zu gehen. »Es ist ein zweiseitiger Prozess, ein Aufeinanderzugehen«, fasst er zusammen. Das große Manko sei allerdings der Mangel an Personal. »Es fehlt an fachkundigem und beständigem Personal. Das können wir auch nicht mit sehr gut gemeintem Engagement von Eltern oder Initiativen kompensieren, da braucht es ständige Beziehungsarbeit zu den Kindern. Sie verbringen hier schließlich viel Zeit, meistens von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags. Da braucht es Leute, die sie kennen. Das gilt für alle gleichermaßen.«
Trotz der prekären Umstände vermitteln all diese Menschen den Eindruck, etwas bewegen zu wollen, ihr Tonfall ist herzlich, ihr Händedruck fest. Integration wird hier ernst genommen.